Freuet Euch!
Walter Einbeck
"Freuet Euch in dem Herrn allewege, und abermalssage ich: Freuet Euch!"
So spricht der Meister des Lebens zu uns und ruft uns
damit zur Quelle des göttlichen Seins, deren stärkende Kraft unser Denken und
Wollen durchfluten und unser aller Dasein verklären soll.
Die Freude ist das Wesen der Gottheit und damit der
Herzschlag der ganzen Welt und aller Wesen. Alles Sehnen, Hoffen und Wollen,
wie es die Menschen und Kreaturen in sich tragen, ist auf Freude gerichtet, und
in der Freude finden sie alle ihre Heimat, ihre Bestimmung und ihren Frieden.
Obgleich aber die wandellose Freude Gottes Wesen und
somit auch die innerste Natur der Welt und aller ihrer Geschöpfe ist, ist sie
im Erdendasein nur selten in ihrer hohen, strahlenden Größe und Reinheit zu
finden. Die Menschen haben den Weg zu ihr verloren und suchen sie vergebens auf
tausend Irrwegen. So ist ihr Leben dunkel geworden. Die Stunden der Freude sind
gering an Zahl; und doch ist sie unseres Lebens Sinn und Inhalt, und wenn ihre
warmen Strahlen das Dunkel auch nur selten erhellen, so sehnt sich doch jede
Kreatur nach ihrem Licht.
Ein liebes Wort, ein verstehender Händedruck, die
Erfüllung eines langgehegten Wunsches, das Wohlergehen unserer Kinder, unserer
Freunde und aller derjenigen, die uns nahe sind, bilden Quellen der Freude, die
uns froh und hoffnungsstark machen. Sie geben uns einen lichtvollen Antrieb für
unser Gefühls- und Geistesleben und neue Kraft für eine weitere Strecke unserer
Lebenswanderung.
Aber diese Freuden sind vergänglicher Natur, denn sie
beziehen sich auf wandelbare Zustände und Formen und tragen daher schon bei ihrem
Entstehen den Keim des Todes in sich. Sie sind nur schwache Offenbarungsformen
der reinen, göttlichen Freude und abhängig vom Genuß und dem
"Besitz-Ergreifen" äußerer Dinge.
Die Menschen müssen verstehen lernen, daß die
beständige, wahre Freude nicht von außen geborgt und errungen werden kann,
sondern in den Tiefen des eigenen Wesens gefunden wird. Erst dann, wenn der
Mensch nichts begehrt und von den äußeren Dingen läßt, kann sich in der Seele
die schrankenlose Flut der göttlichen Freude offenbaren!
Wie die weltlichen Freuden aus einer Verbindung und
Verschmelzung mit dem geliebten Gegenstand entstehen, so auch entspringt dem
völligen Aufgehen des menschlichen Willens in den göttlichen — der unbegrenzte
Liebe ist — die Seligkeit des wandellosen, göttlichen Seins.
Die Freude hat dann keine vorübergehende Wohnung bei
uns gefunden, sondern wir selbst sind zu einer Verkörperung der Freude geworden
und tragen das Kleid ihrer Verklärung!
Ein solcher Mensch hat das Dunkel seines Inneren
aufgehellt, das strahlende Licht überflutet ungehemmt den Horizont seiner
Seele, und er erkennt den Urton der Freude in der ganzen Welt, jenen Urklang der
göttlichen Harmonie, der aus den Tiefen des Seins in alle Räume der Offenbarung
dringen will:
"Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals
sage ich euch: Freuet euch!" ruft uns der Meister zu und spricht damit ein
göttliches Gebot aus.
Wer von den weltlichen zu den göttlichen Freuden
gekommen ist, hat sich über die engen Schranken seiner Persönlichkeit erhoben.
Seine Seele ist weit geworden, und die Harmonie des Weltalls klingt in ihm
wider. Die Lebensbürde ist von ihm genommen, und in freier Kraftentfaltung
offenbart sich ihm die Größe erkenntnisreichen und liebevollen Menschentums!
Darum ist alles, was in reiner Freude wurzelt, gut,
und gesegnet ist derjenige, der zu einer Verkörperung der ursachlosen Freude
geworden ist. Nicht nur er selbst trat aus dem Gefängnis seiner Persönlichkeit
heraus, sondern er öffnet allen, die in seinen Lichtkreis treten, die
Pforte zum Reich des wahren Seins.
Noch sind viele Menschen durch niederes Denken und
Wollen gebunden und nicht fähig, die rein göttliche Freude zu empfinden und in
sich aufleuchten zu lassen. Denn nur wer selbstlos denken gelernt hat und sich
ein reines Herz erschuf, findet den Jungbrunnen, in welchem sich der Wandel
seiner Natur vollzieht. Ein reines Gemüt ist daher die Voraussetzung für eine
immerwährende, im Geiste wurzelnde Freudigkeit. Ohne liebevolles Wollen und
tugendsames Handeln gibt es daher auch keine wahre Freude. Es kann ja auch
nicht anders sein, denn die Freude ist die Antwort Gottes auf unser Denken und
Tun, wenn es seinem Wesen entspricht, geradeso, wie alles Leid die Folge
unseres falschen Handelns ist.
Jeder Mensch wird vom Leben erzogen, daß er die
Bedingungen erfüllt, um ein Träger der göttlichen Freude zu werden. Wir sollen
uns aber nicht immer und immer wieder vom Schicksal erziehen lassen, sondern
durch eigenen festen Entschluß das Reich des Lichtes und der Wahrheit in uns
aufbauen und es damit auch anderen Menschen bringen, wie uns der Dichter
zuruft:
Mach zum Himmel diese Erde,schaff mit lebensfroher Lustdurch ein selbstbewußtes "Werde"Dir den Himmel in der Brust!
Fürchten wir uns nicht vor diesem Schritt in die
Sonnenhelle freudig schaffenden Lebens. Denken wir nicht, dies sei nicht recht
angesichts der unaussprechlichen Leiden und Qualen unserer Brüder.
Wahre Freude und allumfassende Liebe mit tiefstem
Verstehen sind Zwillingsgeschwister, und wahre, von allem Niederen befreiende
Hilfe vermag nur der sieghaft freudige Mensch zu leisten. Glaubt nicht jenen,
die finster und freudlos ihrer Straße ziehen! Weder der dunkle Glaubensknecht,
der Welt und Menschheit seinem eingebildeten Idol zu unterwerfen trachtet, noch
der, welcher in Kummer und selbstquälerischer Abgeschlossenheit nur Leid und
Jammer sieht, ist in Wahrheit des Menschen Freund. Nur wer durch eigenen Verzicht
im Licht der Selbsterkenntnis sah, wie Gottes
Macht und Weisheit alles lenkt und alle Wesen durch Kampf zum Sieg, aus Nacht
und Leid zu seiner Herrlichkeit erhebt, kann allverstehend und erbarmungsreich
die hohe Freude lehren.
Wehe denen, welche die Freude fliehen! Sie verkennen
ihres Lebens Sinn und wissen nichts vom ewigen geistigen Licht. Sie färben die
leidvolle Zeit noch dunkler, als sie schon ist. Ihre Nähe läßt das freie Blühen
und Sprossen erstarren, und hart und unversöhnlich sind sie allem abhold, was
licht und liebewarm ist.
Freude ist immer hell, und wo sie waltet, muß die
Finsternis vergehen. Darum ist sie das Heilmittel gegen alle Trübsal des
Erdendaseins. Die Freude ist ja nur eine andere Seite der Liebe und der
Erkenntnis, so daß die wahre Freude zugleich das hohe Wissen in sich trägt,
jenes sieghafte Wissen, daß alles Leid der Welt "nur ein Durchgang"
ist, notwendig für die Erlösung der Menschen; jenes hohe Wissen, das uns
erkennen läßt, wie hinter dem Weltenleid ein segnender Genius steht, der uns
belehrt und uns zum wahren Leben führen will, wo all das auf uns wartet, was
wir hier im Wandelbaren vergebens ersehnen und erstreben.
Ist nicht das Wissen von der Erlösung aller Menschen
und Wesen ein Quell höchster Freude? Wir haben keinen Grund zu trauern; denn
alles, was keinen Bestand hat, verdient nicht, daß wir uns mit ihm
beschäftigen!
In dem Maße, wie in uns die Erkenntnis der göttlichen
Wahrheit und der Einheit in allem Weltgeschehen aufleuchtet, wächst auch in uns
die Freude, und wir können mit hohem Recht unseren trauernden und leidenden
Brüdern zurufen: "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allen
Menschen widerfahren soll", denn wer den Weg zum Heil erkannte, ist
gesegnet immerdar und wandelt im Lichtkreis der göttlichen Freude, die der
Tiefe seiner Seele entsteigt und seinen Weg erleuchtet und erwärmt.
Es gibt keinen schöneren Beruf als den, unseren
Menschenbrüdern die Freude zu bringen und ihnen Freude zu bereiten. Wir können
diese höchste und schönste Aufgabe nur erfüllen, wenn wir selbst von der
Sieghaftigkeit der Kräfte der Einheit und Bruderschaft erfüllt sind, die einst
alle Menschen befreien und die ganze Welt verklären werden.
In siegendem Lichte laßt uns unsere Straße ziehen und
durch die erwärmenden und erweckenden Strahlen der hohen Freude die gleiche
Kraft des Vertrauens, des Glaubens und der Zuversicht in den Mitmenschen
wachrufen!
Wie vermögen doch die in reiner Freude blickenden
Augen alles umzugestalten! Der frohe und friedliche Mensch ist der Brückenbauer
zwischen Himmel und Erde. Nur er meistert das Leben, und allein seine Hände
können dem Sturm gebieten, daß sich das Lebensfahrzeug dem ersehnten Eiland
nähern kann.
Durch die Segensströme der hohen, sieghaften Freude
kommt die laute Welt in uns und um uns zum Schweigen. Die Sinne verschließen
ihre Pforten. Die Wünsche kommen zur Ruhe, und die Gedanken werden nicht mehr
hin- und hergeworfen. Die vorher in Hangen und Bangen an tausend Vorstellungen
gekettete Seele fühlt ihre Freiheit und regt die Flügel zum Flug in die weiten
Fernen der göttlichen Unendlichkeit. Die durch Erhebung und neuen Glauben
wachsende Freude durchflutet nicht nur das eigene Wesen, sondern bewirkt, daß
der Mensch die große Harmonie erfühlt, die alle Gegensätze aufhebt und
versöhnt.
Das eine Leben des Göttlichen durchleuchtet alle
Formen, und die Seele erkennt, daß der Grundton des Alls kein Mißklang ist,
sondern Harmonie und wandellose Freude. In der Einheit rauscht der Strom des
wahren Lebens, der Freude und Friede ist.
Solange diese Wahrheit den Menschen fremd bleibt,
leiden sie in der dumpfen Flachheit ihres Einzel-Ichs und werden in Angst und
Sorge nimmer froh. Finden wir aber den inneren Quell des göttlichen Seins und
der ursachlosen Freude und erleben in dem Willen der Einheit eine Wiedergeburt,
dann sind wir in der Wunder wirkenden und Erlösung bringenden Symphonie des
göttlichen Lebens ein mitschwingender und mitwirkender Akkord geworden, der
nicht sich selbst, sondern die Schönheit, die Freude und Vollkommenheit des
Ewigen will. So erfüllt sich das Wunder der erlösenden Wandlung, indem der
Mensch sein Schein-Ich verliert, um im Zeitlosen sein wahres Selbst zu finden.
Mit diesem Finden seines wahren Selbstes wird gleichzeitig sein hoher,
gottgewollter Beruf in ihm lebendig, der darin besteht: allen suchenden Brüdern
das Licht der
Wahrheit zu
bringen.
Darum laßt
uns das Gebot des geistigen Lebens erfüllen:
"Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermalssage ich: Freuet euch!"
Wer zu einer Verkörperung des Lichtes und der Freude geworden
ist, ist damit auch ein berufener Diener Gottes geworden. Wenn wir bisher
bemüht waren, keinem Wesen Übles zu tun und kein Leid zu verursachen, so muß
ergänzend gesagt werden, daß auch das eigene Leid das Leid der Welt vermehrt.
Von jedem Menschen gehen ständig Strahlen und Kräfte aus, die die Umwelt
färben, hell und freudig oder dunkel und bedrückend.
Darum sei unser ganzes Wesen von der Allkraft des
unbesiegbaren Lebens erfüllt und strahle sie aus, gleich der Sonne! Der
freudige Mensch ist ein Segen, nicht nur für seine Brüder, sondern auch das
Tier wird bei ihm froh und glücklich, selbst die Pflanzen blühen und duften
köstlicher in seiner hellen, warmen Nähe.
Seien wir allezeit freudig stark und der Wahrheit treu
und bringen wir den Menschen und allen Kreaturen die frohe Botschaft von der
Einheit und Bruderschaft aller in Gott! Es gibt nur eine Daseinsseligkeit: Das
lebendige, freudige Einssein mit Gott; und das ist die wahre, beseligende
Freude. Darum:
"Freuet Euch in dem Herrn allewege, und abermalssage ich: Freuet Euch!"
Autor: Walter Einbeck