Gandhi und die Christen
„Wie denkst du über das Christentum?"
Werner Zimmermann
Am 8. Dezember 1931 sprach Gandhi in Lausanne
nachmittags zu einem kleinen Kreise und abends in einer christlichen Kirche,
La Chapelle de Marterey.
Dort wurde ihm diese Frage gestellt. Er antwortete freundlich,-ohne
Leidenschaft:
„Die
christlichen Lehren sind sehr gut - die meisten Christen nicht, weil sie
nicht ihren eigenen Lehren gemäß leben."
Lässt sich die Tragik des
Abendlandes knapper zum Ausdruck bringen? Die Christen fragten weiter:
„Findest du die christlichen Lehren gut, warum wirst du kein Christ? Oder,
findest du die Hindu-Lehren besser, warum versuchst du nicht, die Christen
zur Hindu-Religion zu bekehren?"
„Dem Christen sage ich: Sei ein wahrer Christ! Dem
Hindu sage ich: Sei ein wahrer Hindu! So sage ich zu jedem, auch zum
Atheisten, das Gleiche: Lebe deine innerste Überzeugung! Damit würde jeder
das Gleiche tun - und doch jeder das Seine -".
„Warum sagst du so oft:
Gott ist die Wahrheit?" Gandhi lachte herzlich:
„Sonderbar, dass ihr in
einem Gotteshaus mir diese Frage stellt! Wie sollte denn Gott nicht die
Wahrheit sein? Doch wir können ihn auch anders benennen. In meiner Jugend
wurde ich gelehrt, Gott habe tausend Namen, und wir bekamen ein Heftchen, in
dem alle diese Namen standen. Andere sagen, in Indien gebe es dreihundert
Millionen Namen für Gott - so viele wie Indien Menschen zählt. Das ist wohl
auch so: macht sich doch jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen von Gott.
Und da er so viele Namen hat, können wir auch sagen: Gott ist namenlos. Und
da er unendlich viele Sprachen spricht: er ist sprachenlos. Und da er
unendlich viele Heime und Wohnstätten hat: er ist allumfassend."
„Jeder Name, mit dem wir Gott zu bezeichnen
versuchen, hat seine Berechtigung. Warum ziehe ich nun vor, immer wieder zu
betonen: Gott ist die Wahrheit? Ich könnte auch sagen: Gott ist die Liebe.
Doch das Wort Liebe hat vieldeutigen Sinn. Auch unbeherrschte
leidenschaftliche sexuelle Gier wird oft so bezeichnet, und diese entspricht
nicht dem Wesen des Göttlichen. Die menschliche Liebe ist sehr oft
eifersüchtig, besitzlüstern, ungerecht gegen Nichtgeliebte - ihr erkennt:
Dies Wort kann leicht irreführen. Daher sagt mir,
als Umschreibung Gottes, der Begriff der Wahrheit viel besser zu."
„Allerdings sage ich heute meistens nicht mehr, Gott ist die Wahrheit -
sondern die Wahrheit ist Gott. Erkennt ihr den Unterschied? Es kann einer
aus ehrlichstem Wahrheitsdrang sich Atheist nennen. Er löst alle die
unrichtigen Vorstellungen auf, die sich die Menschen von der unvorstellbaren
Wirklichkeit Gottes machen. Wie oft sagen einige eingebildete Menschen ,Gott'
und meinen doch nur ihren kleinen
Lieblingsgötzen. Zu diesem Gottesleugner' - er ist vielmehr ein
Götzenleugner! - werde ich sagen: Du suchst die letzte Wahrheit - nun, diese
Wahrheit heiße ich Gott. Und nun wird auch er mich verstehen können."
Da erhob sich ein gefährlicher Einwand: „Wenn nun
von mehreren Menschen jeder behauptet, er habe die Wahrheit gefunden, und
wenn sie alle sich doch widersprechen: welches ist dann die
Wirklichkeit?"
Gandhi antwortete sofort milde und ruhig: „Praktisch
ist für jeden einzelnen seine Wahrheit das, was er in ehrlichem Wollen als
solche zu erkennen vermag. Dieses soll er leben. Wer nun tiefer eindringen
möchte, hat Vorbedingungen zu erfüllen. Es ist bei wissenschaftlichen
Versuchen nicht anders. Der Forscher muss das Einmaleins beherrschen, die
Fähigkeit scharfen Beobachtens und logischer Schlussfolgerungen sich
angeeignet haben. Fehlen diese, so wären wichtige Ergebnisse nicht zu erreichen.
So müsste auch vom ernsten Wahrheitssucher für den Anfang verlangt werden:
1. Unbedingte Wahrhaftigkeit in seiner ganzen Lebensführung.2. Besitzlosigkeit - denn Besitz lenkt ab, will verteidigt sein.3. Keuschheit - denn alle Leidenschaft macht blind.
Wer diese und ähnliche Vorbedingungen nicht erfüllt,
darf nicht erwarten, letzte Wahrheit zu erkennen."
Solcher Art waren Gandhis Antworten immer. Klarheit
und schlichteste Einfachheit rissen dicke Binden von den Augen des
gutwilligen Hörers und schauten ihn groß und fordernd an. Wahrheitssucher,
die im Ashram leben und schaffen wollten, hatten noch zwei Gebote zu
erfüllen:
4. Gewaltlos sein in dem Sinne, dass sie alles, auch alles Böse, nur mit Gutem vergelten durften.5. Fleißige Arbeit.
Zur Frage
der Wahrheit sagte Gandhi ein andermal:
„Vor allem die Wahrheit! Doch nur durch Ahimsa (Liebe,
Güte, Ablehnung aller Gewalt, allen Hasses) können wir sie erkennen."
Als Gandhi
in Genf vorgehalten wurde, seine Bedingungen seien für uns
Menschen
des Abendlandes unmöglich zu erfüllen, da flammte sein Wort,
wenn auch
in aller Ruhe und Güte gesprochen: „Dann nennt euch nicht mehr
Christen!
Oder findet ihr diese Selbstverständlichkeiten nicht alle auch in
eurer
Bergpredigt?"
Erstmals veröffentlicht in W. Zimmermann, Mahatma
Gandhi, Leben und
Werk (1948, vergr).
Autor: Werner Zimmermann