Gedanken zur Meditation

Gottfried v. Purucker

Solange wir uns nicht selbst vergessen, sind wir offenbar egozentrisch eingestellt ... und das bedeutet: Beschränkung, Be­grenzung und darum Kleinheit; bedeutet: uns mit ätherischen, ja akasischen Körpern, Hüllen, Schleiern der niederen Selbstheit zu umgeben. Sich-selbst-Vergessen dagegen hat einen immer größeren Dienst an der Menschheit, ja auch an allen anderen Wesen im Gefolge, und darum ist das der wahre Pfad für den Schüler. Am Ende dieses Pfades findet er dann Wiedervereinigung mit seinem eigenen individuellen inneren Gott.
 
Oft wird man von Menschen, die etwas über die Methoden esoterischer Schulung gehört haben und darüber aufgeklärt sein möchten, gefragt, ob Konzentrations- und Meditationsübungen nützlich seien und für das Errei­chen des Höheren Selbstes von Vorteil wären. Darauf möchte ich antworten:
 
Natürlich sind sie sehr nützlich und von großem Vorteil; doch muss es die rechte Art Meditation sein, nämlich jene, die einem Selbstvergessen gleich­kommt und nachdrücklichst nicht einem Konzentrieren auf sich selbst. Es soll­te ein Konzentrieren der ganzen Aufmerksamkeit von Sinn und Herzensnei­gungen darauf sein, das Denken auf einen Punkt hin auszurichten und so durch alle persönlich gefärbten Schleier des Bewusstseins und des Gefühls hindurch nach oben zu drängen, um die innere Göttlichkeit, die spirituelle Flamme zu erreichen, die letzten Endes die Essenz der spirituellen Monade ist.
 
Konzentration beim Meditieren verlangt keine äußeren oder unechten, keine künstlichen oder herkömmlichen Hilfsmittel oder Stützen irgendwel­cher Art. Denn ungeachtet dessen, was die Praktiker der niederen Yogafor­men, die heutzutage so populär sind, zu sagen haben, sind alle solche äuße­ren und künstlichen Hilfen mehr von Schaden als von Nutzen, mehr ein Hindernis als eine Hilfe, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie die Aufmerksamkeit, statt, wie oben geschildert, in einem Brennpunkte zu verei­nigen, nach außen, aus uns hinauslenken, was in Wirklichkeit darauf hin­zielt, den beabsichtigten Zweck zu verfehlen.
 
Wahre Meditation in dem oben kurz umrissenen Sinne kann nie von einem selbstsüchtigen Menschen oder von einem, der für sich selbst nach Kräften sucht, erfolgreich praktiziert werden. Denn ihm fehlt die eigentliche Grundlage für spirituelle Meditation, und er geht von einer gänzlich falschen Voraussetzung aus.
 
Viele mögen vielleicht sagen, die oben beschriebene Meditation sei für den Durchschnittsmenschen zu schwer, um sie mit Aussicht auf Erfolg durchführen zu können. Dieser Gedanke ist jedoch ganz verkehrt und ent­springt allein dem Wunsche, auf den ersten Hieb hin zu erreichen, was erst als Frucht langer, mühsamer Anstrengung erreicht werden kann. Wie alles andere, das der Mühe wert ist, verlangt auch wahre Konzentration beim Me­ditieren, Zeit und ausdauernde Anstrengung. Doch jedes einzelne durchge­führte Bemühen baut, wenn beständig wiederholt, sozusagen einen Speicher oder ein Lager spiritueller Kräfte auf, die mit der Zeit die wahren Medita­tionsübungen immer leichter und wirksamer werden lassen. Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden und ein Mahatman nicht das Produkt eines einzi­gen Lebens. Es gibt nur weniges, was nützlicher und hilfreicher wäre als echte spirituelle Meditation, die zu allererst und als Grundlage mit unpersön­licher Liebe für alles, was ist, beginnt und mit einer starken Abneigung, seinen persönlichen Begierden und Neigungen, den psycho-physischen Süch­ten und ähnlichen Dingen zu frönen. Strebt also danach, Unpersönlichkeit zu pflegen, was aber nicht Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und ihrer schwe­ren Sorgenlast bedeutet, sondern wachsende Gleichgültigkeit den eigenen kleinen Begierden und Wünschen gegenüber, auf dass wir eine immer geeig­netere stärkere Kraft in der Atmosphäre der Welt werden und das menschli­che Niveau auf allen Gebieten heben und somit unseren Teil an der Erleich­terung ihrer Sorgen und der Milderung ihrer Leiden beitragen.
 
Ein Mensch kann überall und zu jeder Zeit meditieren, und zwar auf höchst wirksame und fruchtbare Weise. Ob er nun in seinem Sessel sitzt oder im Bett liegt, ob er durch die Straßen einer belebten Stadt geht, überall kann er durch Übung sein Denken auf Dinge des Geistes lenken und doch ganz lebendig und sich dessen bewusst sein, was um ihn her vorgeht. Dies sind die Anfangsstadien der Meditation oder der Konzentration beim Meditieren. Die späteren Stadien jedoch sind durch ihre eigenen Regeln und Gesetze gekennzeichnet. [...]
 
Der Durchschnittsmensch hält es für etwas „einfach Furchtbares", von sich selbst frei zu werden. Er hat solche Angst vor sich selbst, hat aber paradoxer­weise gleichzeitig auch Angst, sich zu verlieren, so dass diese sich wider­sprechende Furcht ihm ein Grauen einflößt, das sich zuweilen fast zum Wahn­sinn steigert. Infolgedessen jagt er hier und da und überall Zerstreuungen nach; denn alles ist besser, meint er, als allein zu sein, als er selbst zu sein!
 
Wenn er doch nur die Schmerzen und Ängste, die Jämmerlichkeit und das Elend des begrenzten persönlichen Lebens eintauschen könnte gegen die Stärke und Fähigkeit, die Kraft und Weisheit, das Wissen und die unpersön­liche Liebe des Geistes in ihm, dann würde er jene Bewusstseinserweiterung erfahren, bei der das Persönliche zum Unpersönlichen, das Kleine zum Großen wird. Der Mensch lässt sich wie ein Tautropfen in das Meer der Un­endlichkeit fallen. Dann wird im wahren Sinne des Wortes der „Tautropfen" zum All - doch in jenen fortgeschrittenen Menschen wird er es ohne Auslö­schung ihres Ich-Bewusstseins, das so geläutert und so erweitert ist, dass es sich bewusst wird, mit dem Geiste des Sonnensystems von gleicher Reich­weite zu sein.
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Wenn der Durchschnittsmensch, selbst wenn er noch nicht geweiht und noch kein teilweise eingeweihter Schüler ist, doch nur zu der Überzeugung von der wunderbaren Wahrheit von des Menschen spiritueller Identität mit dem Geiste des Universums kommen könnte! In Zeiten der Sorge und Be­drängnis, wenn Schmerz und Betrübnis das Herz schier zerreißen und der Verstand sich nicht mehr zügeln lässt, ja in stark deprimierten Augenblicken sogar die Grenzen zur Unvernunft überschreitet, dann würde immer noch die gesegnete Erinnerung gegenwärtig sein: dass es im Menschen einen inneren Gott gibt, Quell und Ursprung seiner allerwirklichsten Selbstheit, ja seines zusammengesetzten Wesens auf allen Plänen; dass da sein innerer Gott ist, der stets bereit, immer gegenwärtig und immer darauf wartet, dass der Mensch sich ihm zuwende, ihn erkenne und ihn in ichbewusster Verwirk­lichung zu seinem Inspirator und Helfer mache.
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Die esoterische Tradition, Geist- und Seelenlehre II
 


Autor: Gottfried v. Purucker