Gedankenbeherrschung

Ida Stolba

[...]

Das Zeitalter des Materialismus entwickelte die Verstandesbildung, den Intellekt, indem es nur diesen kultivierte. Die der Menschheit zu gedeihlichem Zusammenleben unbedingt notwendige Herzensbildung aber, die in einem idealen Gedankenleben wurzelt, ließ es verkümmern und verhungern. — Was im allgemeinen gilt, kann wohl auch für den einzelnen gelten. Es ist durchaus nicht gleich­gültig, was die Allgemeinheit denkt; denn aus dem Gedankenleben geht die Handlungsweise, die Handlungsgewohnheit hervor. Jeder wird einsehen, daß aus gehässiger Denkweise keine friedfertige Handlungsweise erwachsen kann. Nur friedfertiges Denken jedes einzelnen in der Familie wie im Staat kann zu friedvollem Zusam­menleben führen, nur zielbewußtes Denken zu folgerichtigem Handeln. — Wer ernsthaft damit beginnt, die Herrschaft über sein Denken erringen zu wollen, wird sehr bald darauf kommen, daß so manches, was ihm nicht paßt, nur das Echo dessen ist, was er in den Wald hineingerufen hat. -

[...]

Um aber zu dem Ziele zu gelangen, dem Ziele überhaupt nur zu­streben zu können, müssen höhere Wahrnehmungsfähigkeiten ge­weckt, genährt, geschult werden. — Die Schwierigkeit des Anfanges wird den nicht abschrecken, der sein Ziel fest ins Auge gefaßt hat. So gut er eben kann, wird er Hand ans Werk legen. Auch hier ist ernstes Wollen der erste, zu sicherem Erfolg führende Schritt. — Die bloße Erkenntnis der herrschenden Unordnung lichtet bereits das Chaos, und wenn die Schöpferkraft unseres auf das höchste Ideal gerichteten Willens ihr „es werde Licht!" ausruft, ist dereinst der Sieg unser. Schon der erste Versuch, sein Gedankenleben zu ordnen, bringt uner­meßlichen Nutzen; denn durch das Einreihen der selbstgemachten, praktischen Erfahrungen in die betreffenden, bei Studium und Lek­türe theoretisch behandelten Wissensgebiete festigen sich bisher vage, bloß leicht umrissene Vorstellungen zu klarem Verständnis und damit zu unverlierbarem Wissen.
 
So selbstverständlich, unerläßlich aber auch die Forderung geord­neten, beherrschten Gedankenlebens in der Theorie erkannt wird, so wenig praktische Folgerungen ziehen die meisten Menschen sogar aus von ihnen als unleugbar richtig erkannten Tatsachen.

[...]

Durch welche Mittel gelingt es, die inneren Feinde zu überwinden, die sich der Ordnung des Gedankenlebens widersetzen oder aber im­mer wieder Unordnung in ein mühsam bereits anscheinend geordne­tes Gefüge bringen?
 
Hier hat man sich in erster Linie vor Augen zu halten, daß von außen nichts in unser Gedankenleben eindringen kann, wenn es nicht in uns Anziehungspunkte findet. Aus diesem Grunde besteht die erste Aufgabe darin, Gedanken des Zornes, des Hasses, Neides, der Furcht, des Zweifels, der Mutlosigkeit, des Grolles und Ärgers usw. schon im Auftauchen entschieden abzuweisen, um so den in uns wohnenden, dem Ichwahn entspringenden Anziehungspunkten ähnli­chen Charakters die sie verstärkende Nahrung abzuschneiden, so lange, bis diese den besseren, durch zielbewußtes Arbeiten an unserer Vervollkommnung gewonnenen Erkenntnissen, den von uns selbst geschaffenen Anziehungspunkten, den Gedanken des Glaubens, des Mutes und Vertrauens, kurz, erhabenen Gedanken weichen. Man handle nach dem Beispiel des buddhistischen Mönches, der sich sagt: Dies ist ein Gedanke des Zornes; er ist mir wesensfremd. Ich weise ihn von mir! Solch ein abgewiesener Gedanke muß aber sofort in sein besseres Gegenteil verwandelt, Haß muß durch Liebe über­wunden werden.
 
Wenn man, unbekümmert um die scheinbaren Mißerfolge, in uner­müdlicher Ausdauer an der Reinigung seiner Gedanken arbeitet, dann muß nach dem Gesetze der Anziehung gleicher Gedanken sowohl als auch nach dem Gesetz der Periodizität im Kreislauf unserer Gedan­ken neben den täuschenden Irrlichtern unserer falschen Vorstellungen gleichzeitig der Lichtstrahl der jeweilig gewonnenen Erkenntnisse auftauchen, bis die Irrlichter, vor der stets wachsenden Helle erblas­send, schwinden.
 
Ein Mystiker sagt: „Tue alles von dir, was nicht Gott ist, dann bleibt nur Gott übrig." Dieser Satz, auf eine dem Fassungsvermögen näher liegende Ebene übertragen, ließe sich etwa folgendermaßen ausdrücken: Entferne alles Unvernünftige und Unedle aus deinem Gedanken- und Gefühlsleben, dann schaffst du Raum für Weisheit und Güte, die dich in dem Maß erfüllen, wie ihr Gegensatz von dir weicht.
 
So wie man in einen vollen Becher nichts mehr hineingießen kann, sondern, wenn man darin einen andern Inhalt wünscht, erst den vorherigen ausgießen muß, so muß der Verstand übernommene Vor­urteile und anerzogenes, falsches Denken lassen, um Platz zu machen für Wahrheit und Licht. Ebenso muß das Herz immer reiner werden von den kleinlichen Gefühlsregungen des Egoismus; denn so lange die von jedem Windhauch selbstsüchtiger Empfindung bewegten Wo­gen es brausend durchrauschen, können sich die feinen, zarten geisti­gen Schwingungen nicht bemerkbar machen. Ehe Unvernunft und Niedrigkeit nicht aus Verstand und Gemüt schwinden, können Ver­nunft und Reinheit nicht einziehen. Die Unordnung schwindet nach und nach durch zielbewußtes Ordnen, und Ordnung herrscht, sobald ihr Gegensatz gewichen ist.
 
Sehr schwierig ist es, das Auftauchen innerer Feinde rechtzeitig gewahrzuwerden. Haben sie sich mit den in uns wohnenden Anzie­hungspunkten gleichen Charakters, diese verstärkend verbunden, dann weichen sie erst nach schwerem Kampfe. Ein Kampf auf dieser Ebene ist darum so schwer, weil der Gegner, ähnlich wie die japani­schen Ringkämpfer es tun, unsere eigene Kraft benützt, um uns nie­derzuwerfen. Wir selbst gaben ihm ja die Waffen, uns zu bekämpfen.
 
Die dunklen Gewalten könnten uns aber nur dann völlig besiegen, wenn nicht durch uns selbst geschaffene Anziehungspunkte für Licht­gedanken in uns wären, die sich als Helfer dem für Licht Kämpfenden zugesellen.
 
Ein geordnetes Gedankenleben geht Hand in Hand mit einem geordneten Gefühlsleben, und aus diesen beiden erwächst vernünf­tiges, zielbewußtes Handeln.
 
Unnütze Vergeudung der für die Entwicklung so kostbaren Zeit ist es, über in der Vergangenheit liegendes Leid und Mißgeschick nach­zugrübeln, und ebenso überflüssig ist es, sich der Zukunft wegen Sorgen zu machen.
 
Wer das Kausalitätsgesetz, das Gesetz von Ursache und Wirkung, begreift, der schüttelt die Schwäche sentimentalen Selbstbedauerns energisch von sich ab, um Raum zu schaffen für wertvolleres Gedan­kenmaterial.
 
Man hat aus erfahrenem Leid bloß die Folgerungen zu ziehen und die gewonnene Erfahrung in sein Gewissen, in das ewige Bewußtsein fließen zu lassen.
 
Das stete Bemühen, Ordnung in das Gedankenleben zu bringen und darin zu erhalten, entwickelt und schärft die Unterscheidungs­kunst, jener wichtigen und schwer zu erringenden Kunst!
 
Jeden Gedanken, der über die Schwelle unseres Bewußtseins tritt, auf seine Tauglichkeit zu prüfen, ist eine vorzügliche Schulung in der Gedankenkonzentration. Durch solches Verfahren lernt man genau unterscheiden, wie viel Persönliches in all unserem Gebaren steckt. Der seinen Persönlichkeitsmenschen unter steter Kontrolle haltende „Denker" kann sich selbst von den Täuschungen des eigenen Vorstel­lungskreises überzeugen.
 
Wie oft wird der nach Charakter-Veredlung Strebende gewahr, daß nur Täuschung ihm vorgaukelt, Fehler überwunden zu haben. Die Fehler wurden nur auf eine höhere Ebene übertragen, mitgenommen in die immer gefährlichere Zone einer nichts Unreines duldenden „geistigen Höhenluft". So niederschmetternd die Erkenntnis der schier unüberwindbar scheinenden Macht unseres Persönlichkeitsmenschen im ersten Augenblicke wirkt, so fühlt der Ewigkeitsmensch in uns doch, daß, wenn es auch scheint, daß man nur im Kreise herumgegangen sei, der Kreis doch nicht in seinen Ausgangspunkt zurückläuft, sondern zu steigender Kurve ansetzt; denn trotz des Be­harrungsvermögens der leidbringenden Charaktereigenschaften weiß der ernst Strebende genau, daß er dennoch als ein ganz anderer vor demselben Probleme steht. Wurden die Motive des Denkens, Fühlens und Handelns auch nur relativ reiner: die Willensrichtung ist aus­schlaggebend für den Fortschritt.
 
Man könnte die Erkenntnisresultate des sein Gedankenleben Schulenden mit den stets wechselnden Objekten vergleichen, die dem Zeichenschüler zur Übung im Perspektivzeichnen vorgestellt werden. Derselbe Würfel, dasselbe Prisma ergeben genau so viele verschiede­ne Ansichten des Objektes, als die Zeichnungen verschiedene Stand­punkte einnehmen, oder ein Zeichner seinen Standpunkt wechselt.
 
So ist es auch mit allen Erfahrungen, die in unseren Vorstellungs­kreis treten. Derselbe Gegenstand ergibt für jeden ein anderes Bild. Jeder kann die Sache eben nur so erfassen und darstellen, wie er sie von seinem Standpunkt aus sieht. Wenn er aber von seinem Nachbar „abzeichnet", dann hat er eben nicht seine eigene Anschauung gebracht, kein eigenes Denken über den Gegenstand entwickelt. Blickt man von der Warte einer höheren Weltanschauung auf die Ob­jekte hernieder, dann sieht jeder, der sich in gutem Willen auf densel­ben hohen Standpunkt stellt, dasselbe Gesamtbild.
 
In der Situation des vom Nachbarn abzeichnenden Schülers befin­det sich fast die ganze Kulturmenschheit.
 
Unter den Millionen Gebildeten, die infolge ihres Scharfsinnes und vorzüglichen Gedächtnisses ein geradezu erstaunliches Bücherwissen angehäuft haben, taucht nur sehr selten ein eigenständiger Denker, ein Bahnbrecher, auf. Darum krankt die ganze Kulturmenschheit an mangelhaftem Denken. In bezug auf welt- und lebensanschauliche Fragen beten die Massen gedankenlos das nach, was ihnen vor­gedacht wird. Man glaubt zu schieben und wird geschoben, man glaubt zu denken und wird gedacht. Eigenes Denken hat nur der, welcher sein Denken in höherem Sinne schulen lernt, wer sein Gedankenleben von fremden und von niederen Einflüssen frei halten kann, wer sich der ungeprüft übernommenen Vorurteile in bezug auf Wissenschaft, Religion, Nation, Stand, Geschlecht usw. entledigen kann.
 
Wer unparteiisch dem Laufe der Ereignisse folgt, muß staunen, wie wenig eigene Erfahrung die Massen aus dem Weltgeschehen zogen, und wie sie gedankenlos immer den Gedankengängen anderer folgen.
 
Die materialistische Weltanschauung hat aus dem Vorstellungskreis ihrer Anhänger den in jedes Menschen Herzen glimmenden Gottesfun­ken verschüttet. Wohl dem, der ihn nicht in sich ersticken ließ, son­dern das ewige Feuer in sich nährte, die Sehnsucht nach dem Lichte!
 
Jeder einzelne trägt schwere Verantwortung für sein Gedankenle­ben. Kaum ein mißverstandener Spruch hat mehr Schaden angestiftet, als der aller Vernunft Hohn sprechende Satz: Gedanken sind zoll­frei... Ja, zollfrei auf der dichten physischen Ebene — aber unent­rinnbar beschlagnahmt bis zur oft Herzblut kostenden Einlösung auf der Ebene ihrer Entstehung!
 
Das Gesetz des Geistes in der Natur belehrt den Wissenden über die ungeheure Verantwortung, die er durch sein Denken auf sich lädt. Den Nichtwissenden aber belehrte die bittere Erfahrung, daß im Ge­dankenreiche mehr noch als auf der physischen Ebene der Paragraph aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gilt: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe. Der irdischen Gerechtigkeit ist mancher ent­schlüpft. Der ewigen Gerechtigkeit entrinnt keiner. „Wahrlich, ihr werdet nicht von dannen herauskommen, bis ihr den letzten Heller bezahlt habt", heißt es in der Bibel
 
„Klar sei der Mensch und einig mit sich selbst", sagt Grillparzer. Über das zu erreichende Ziel muß man im klaren sein, man muß genau wissen, was man will. Das ist aber sehr schwer für den, der sich für den Körper hält und sein Gedankenleben aus diesem hervor­gehend wähnt.
 
Alle großen Religionen lehren übereinstimmend, daß die Seelen Wanderer sind, die aus der Einheit in die Vielheit treten, um eigene Erfahrungen zu sammeln und dereinst bewußt zu ihrem göttlichen Ursprung zurückzukehren. Seit ur-uralten Zeiten, seit der Mensch, durch seinen Eigenwillen losgetrennt von der Einheit, sich als ein­zelnes betrachtete, unbekümmert um das Wohl und Wehe des Ganzen, nur auf sein eigenes selbstsüchtiges Wollen sich konzentrierte, seinen Persönlichkeitsmenschen immer mehr und mehr verdichtete, dessen charakteristische Merkmale immer mehr ausbaute, umnebelte der Ichwahn mehr und mehr sein ursprünglich im Allwissen wurzelndes Wissen.
 
Sein Denken soll ihn an das erinnern, was er einst besaß. Der ver­lorene Sohn, der sein Erbe, die Gotteswelt, das Vaterhaus verließ, versank immer tiefer in das Reich der Materie, bis er endlich, an bit­teren Erfahrungen reich, das Reich der Sinnenwelt als leidbringenden Trug erkennt. Da blitzt der nichterloschene Gottesfunke in ihm auf, in Sehnsucht nach dem Frieden des Vaterhauses.
 
Sein Wollen zielt nur noch dahin, in Frieden wieder vereint zu sein mit all den Bruder-Seelen, die, wie er, im Ichwahn leidvoll in der Welt des Wahns irrten.
 
Durch sein Denken soll der Mensch sich als bisher unbewußter Schöpfer seines eigenen Schicksals erkennen. Bewußt muß er wer­den. Sein Denken muß die Resultate seiner eigenen Erfahrungen gewissermaßen sichten und ordnen. Aus den leidvollen Erlebnissen heraus wird uns, indem wir prüfen, klar, welche Gedanken uns verhängnisvoll wurden, und wie das Denken beschaffen sein soll, das uns und unsere Brüder aus seelischem und körperlichem Leid be­freien soll.
 
Wer sein Gedankenleben zu ordnen beginnt, sondert die Spreu vom Weizen. Mit Staunen wird man gewahr, wie viel Raum die Spreu einnimmt, wie viel Platz da wäre, um Wertvolleres einzubringen.
Der Weg ist schwer, die Mühe groß, doch der Preis lohnt die Mühe!
 
Die Gedankenbeherrschung soll nur zum Zwecke der Veredlung des Charakters angestrebt werden, um Fehler abzulegen, moralische Schwächen zu überwinden, indem man sie durch Gedankenkontrolle zu erkennen sucht, um an ihrer Beseitigung arbeiten zu können, bis endlich, nach vielen Mühen und Mißerfolgen, Raum wird für die Tugendkräfte.
 
Wer aber das Studium der Gedankenbeherrschung nur zum Zwecke der Beeinflussung seiner Mitmenschen zu mißbrauchen gesonnen ist, der sollte sich lieber gar nicht damit befassen, denn er bringt sich und anderen nur Leid und Unheil. Erfolge auf dem Gebiete krassester Selbstsucht müssen teuer bezahlt werden; dem Gesetz der Vergeltung entrinnt niemand.
 
Wer die Forderung: „Bringe Ordnung in deine Gedanken" vom sitt­lich höheren Standpunkt als Notwendigkeit erkennt und die Theorie in die Praxis umsetzt, wird mit Staunen bemerken, wie leer und hohl eigentlich das ist, was wir mit „Denken" bezeichnen. Sehnsucht nach Wertvollerem, unvergänglich Reinem wird in sein Herz einziehen, und Sehnsucht ist das Gravitations-Gesetz im Menschenherzen.
 
„Ihr sollt vollkommen werden, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist", heißt es und: „In jedem lebt ein Bild dess', das er werden soll; solang' er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll..."
 
Wer sich zum Führer durch all den Trug des Gedanken- und Gefühlslebens den guten Willen erkoren hat, den vom selbstsüchtigen Eigenwillen abgekehrten, reinen Willen, der hat die sturmverwehte Wegespur wiedergefunden, die ihn zurückführt in das Vaterhaus, ins verlorene Paradies!
 
Aus: „Theosophische Kultur" 1933
 


Autor: Ida Stolba