Geht in die Stille!
 
 
Irmgard Scheithauer
 
 
Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, Lärm sei die schlimmste Kränkung. Lärm macht uns klein. Er gibt uns keine Möglichkeit zurückzuschlagen. Er tötet, was von vielen uns lieben Dingen noch übrig ist, wie: Musik, Schönheit, Freundschaft, Hoffnung und Begeisterung, und er tötet auch den beruhigenden Einfluss der Natur. Von alters her wird Lärm benutzt, um lächerlich zu machen, in Verlegenheit zu bringen, zu verunglimpfen und zu beschimpfen, während Stille der Verehrung, der Achtung, der Erwartung und der Liebe dient. Sind wir einander schon so gleichgültig geworden, ja, hassen wir einander so sehr, wie unser Lärmpegel es vermuten läßt ?
 
Es gibt wenige Menschen, die sich nicht bewusst sind, daß sie unter dem Lärm oder der ,Geräuschkulisse', wie man ihn schon bezeichnend nennt, leiden. Ruhe aber ist selten. Sie ist so kostbar geworden, daß es Orte gibt, die damit werben und versprechen, daß zumindest die geplagten äußeren Sinne für eine Zeit dort Ruhe finden würden. Je mehr diese Lärmbelastungen zunehmen, desto mehr sucht der Mensch Ausruhen, Ruhe, ja Stille und entdeckt damit wieder Dinge, die sich der östliche Mensch in seiner alten Kultur noch erhalten hat, wie wir es etwa bei den Japanern sehen können. Die Japaner kultivieren die Stille, um sich von der Hektik und Betriebsamkeit ihrer lauten Städte und Industriestätten zu erholen. Nichts ist ihnen wichtiger als ein noch so winziger Garten - und sei er nur zwei Schritte groß - der ihnen als Ruhepol, als Ort der Stille, dient, um sie wieder zu den einfachsten Dingen des Lebens und seiner wahren Bedeutung zurückzuführen. Japaner können stundenlang der Stille zuhören, etwas, was westlicher Denkungsart völlig fremd geworden ist. Doch in einem alten japanischen Gedicht heißt es: „Sie weilten ohne Worte - Gastgeber, Gast und die weiße Chrysantheme." Wem in Europa oder Amerika wird dies wohl auch gelingen?
Nun ist der Lärm, der uns peinigt, gewiss ein anderer, als der, von dem sich Schopenhauer schon vor mehr als hundert Jahren gestört fühlte, als er schrieb: „Jeder Kutscher, der ohne Grund mit der Peitsche knalle, solle fünf aufrichtig gemeinte Stockprügel wegen unnützen Lärmens verabfolgt bekommen." (,Paralipomena', II. Bd. XXX, § 378, „Über Lärm und Geräusche") Ebenso behauptete er, daß Lärmempfindliche besonders intelligent seien, etwas, was unsere heutige Wissenschaft bestätigt. Ja, es heißt sogar, je mehr und intensiver ein Mensch denke, desto mehr bleibe er bemüht, keinen Lärm zu verursachen; denn ihm wird auch klar, daß Stille etwas ist oder sein muss, was über die äußere Ruhe hinaus geht. Da er nun in den Städten Stille kaum finden wird, strebt er in die Natur. Viele Menschen sehnen sich nicht zuletzt deshalb nach der Natur, weil sie nicht mit dem Lärm in Verbindung zu stehen scheint, dem sie sich ständig ausgesetzt sehen. In ihrer Vorstellung ist Natur identisch mit Frieden, Ruhe und Stille. So sucht ein solcher Mensch vielleicht erst einmal einen Wald auf, um sich dort der Waldesruh' zu erfreuen. Schaut er jedoch genauer hin, so ist auch hier ein emsiges Treiben, ein ständiger Kampf um Leben und Überleben im Gange, und nur seine Sinne sind es, die davon wenig oder gar nichts wahrnehmen. Dennoch wird diese äußere Ruhe seine physischen Sinne erfrischen, obwohl die Ruhe, nach der sich der Mensch sehnt, nur in seiner Vorstellung existiert.
 
Bietet der Wald nun keine wahre Ruhe, so vielleicht das Meer, daß ja oft als ,still' beschrieben wird. Ganz abgesehen davon, daß die unaufhörliche Wellenbewegung keine Ruhe zulässt, sagen uns die Wissenschaftler, daß selbst im Meer keine Stille zu finden ist. Viele Fische und Krebse, ja selbst Muscheln und Bohrwürmer lärmen da wie Lausbuben auf der Straße. Tonbandaufnahmen brachten dies zutage. Die dort aufgezeichneten Geräusche haben oft eine große Ähnlichkeit mit brüllenden Kühen, Fabriksirenen und Hammerschlägen. Dabei liegt die gemessene Lautstärke häufig an der Schmerzschwelle menschlicher Ohren. Diese Lautstärke war zum Beispiel die Ursache, daß geräuschempfindliche Minen oft ohne ersichtlichen Grund detonierten. - Es gibt auch eine Schallplatte mit dem Titel ,Die Gesänge der Buckelwale'. -
 
Nun rettet sich der Mensch ,in den Himmel', von dem er dank der Aussage der christlichen Kirchen ohnehin das Paradies erwartet. Da ziehen also langsam weiße Wolken am sommerlich klaren, blauen Himmel entlang. Vielleicht sind sie sogar golden umrandet, wenn die Sonnenstrahlen gerade in rechter Weise auf sie treffen. Welch stiller Friede! Der Mensch ist entzückt. Doch wo ist dieser stille Friede? Wo ist die vermeintliche Ruhe? Im Gemüt des Beschauers? Oder in den Wolken, die entlang der Himmelsbläue segeln? Die Meteorologen sagen: es ist eine trügerische Ruhe; der vermeintliche Frieden ist mit Turbulenzen aller Grade angefüllt, und wehe, wer in sie hinein gerät!
 
Der Mensch, der langsam diese Vorgänge erkennt, begreift, daß äußere Ruhe, die seine Sinne labt, nicht das sein kann, was er in der Stille sucht, sondern daß dazu mehr gehören muss; ja, es wird ihm klar, daß die vermeintliche Ruhe, die sein Sehnen nach Stille nicht zufrieden stellt, nicht ausreicht, daß es da einen Unterschied zwischen Ruhe und Stille geben muss. Gewiss, so grübelt er weiter, es ist scheinbar ruhig um mich - aber ist es da auch still in mir? Und wenn es in mir nicht still ist, wer oder was lärmt da noch?
 
Je mehr er sein Denken in dieser Richtung bewegt, desto mehr versteht er, daß alle Betriebsamkeit um ihn und in ihm nicht das sein kann, was die Menschen allgemein als Leben ansehen. Das Sehnen nach Stille wird ihn unweigerlich dahin führen zu begreifen, daß sich das Leben nicht in den Dingen erschöpfen kann, die so aufdringlich sind und so wichtig erscheinen, daß sie unaufhörlich seine Sinne beschäftigen, ja beunruhigen.
 
Er erkennt nämlich, daß selbst dann, wenn äußere Ruhe um ihn eingetreten ist, es in ihm noch immer nicht ,ruhig' ist, sondern sein Fühlen und Denken weiter tätig bleiben, daß sie noch unruhig sind, sozusagen weiter ,lärmen'. Wie aber kann er etwas in sich aufnehmen, was jenseits davon liegt, es entwickeln und kultivieren, wenn das Lärmen in ihm dafür keinen Raum läßt? Kann ein Mensch lernen, wenn sich seine Gedanken mit anderen Dingen befassen? Vermag ein Mensch zuzuhören, solange er nur darauf wartet, das zu sagen, was ihm wichtig erscheint? Ist ein Mensch teilnehmend, wenn ihn seine Gefühle und Gedanken so in Anspruch nehmen, daß er höchstens mit halber Aufmerksamkeit dem zu folgen vermag, dem er vorgibt zuzuhören, zu helfen oder zu raten?
 
So lernt der Mensch langsam verstehen, daß er nicht zu den Tiefen des Lebens und den Geheimnissen, die es zu bergen scheint, vordringen kann, solange er sich nur von den Sensationen, Reizen und der Faszination des niederen, irdischen Lebens treiben läßt, und er versteht immer besser, daß er kostbare Gelegenheiten, die sich ihm gerade bieten, versäumt, wenn er nicht versucht, in die Stille zu gehen, in eine Stille, die jenseits der physischen Sinne und aller trügerischen Ruhe liegt, ja liegen muss. Immer deutlicher wird es ihm, daß es gerade die Hindernisse sind, die sich hier auftürmen, die ihm die Mittel in die Hand geben, um durch ihre Überwindung dem Geheimnis Leben auf die Spur zu kommen, ein Geheimnis, das die christliche Religion ,Gott' nennt und das wir in der Esoterischen Philosophie das ,Göttliche' nennen, das auch als ,Das Eine' oder ,DAS' umschrieben wird.
 
Ist es nicht merkwürdig, daß das Wort Geheimnis irgendwie mit Stille verbunden zu sein scheint? Wer würde schon ein Geheimnis lauten Tones einem anderen erzählen? Wer würde sich wohl daran machen, geräuschvoll ein Geheimnis ergründen zu wollen? Geheimnisse offenbaren sich nur in der Stille, und zwar nicht nur in der äußeren Ruhe, die unsere ständig arbeitenden Sinne als solche empfinden, sondern in einer Stille, die sogar diese Sinne zur Ruhe gebracht hat und sie zumindest für eine Zeit untätig hält. Von diesem Geheimnis der Stille wird uns seit alters her berichtet, und die Mahnung, der Ruf, in die Stille zu gehen, erging immer wieder an den Menschen. Es ist ein langer Weg und auch kein leichter. Wie schwer erscheint es, auch nur einen Sinn im Zaum zu halten und beispielsweise nicht zu reden.
 
Schon Sokrates machte das in dem Satz deutlich: „Die Natur hat uns zwei Ohren, zwei Augen, aber nur eine Zunge gegeben, damit wir mehr hören und sehen sollen als sprechen." Folgen wir diesem Rat, wird hastiges Handeln immer mehr vermieden, und schließlich folgt auch die Zunge. Dann ist der Weg frei, der in die Stille führt. Gewiss wird Schweigen oft als Schwäche angesehen. Doch welch innerer Stärke bedarf es, sich nicht an Klatsch zu beteiligen, keine üblen Dinge weiter zu tragen oder noch weit schwerer, sich nicht zu verteidigen.
 
Stille sein! Schweigen! Das ist eine uralte Mahnung. Einerseits finden wir darin eine Übung in Selbstbeherrschung, denn für die meisten von uns ist es recht schwer, etwas zu wissen und nicht darüber zu reden. Darüber hinaus: Selbst wenn wir wissen, wir haben ,recht', besteht doch keine Notwendigkeit, dies auch zu verkünden. Würde dies nicht nur zum Argumentieren, vielleicht gar zum Streit führen? - und wem würde dies nutzen? Deshalb ist es gut, in solchen Fällen stets zu schweigen, auch im Fühlen zu schweigen und darauf zu hören, was die Stille sagt, damit man Gedanken aus höheren Bereichen als denen des Alltagslebens zu lauschen vermag. „Wir trinken doch nur deshalb von den lebendigen Wassern der Imagination", sagte Katherine Tingley einmal, „damit wir für unsere täglichen Aufgaben gestärkt werden, ja selbst für die Alltagsplackerei, die ja auch göttlich ist, denn sie gehört zur Erde."
 
Täglich hat jeder Mensch Gelegenheit, sich solcher Art zu üben. Jeder Erfolg hierbei wird ihm neue Welten eröffnen, von denen er bisher nichts wusste, denn nun beginnt für ihn ein innerer Weg, der ihn der Lösung des Geheimnisses näher bringt. In dieser Stille vollzieht sich ein inneres Wachstum, das ihn in Bereiche führt, die ihm der Lärm der Sinne bisher verbarg.
 
„Reden ist Silber - Schweigen ist Gold". Dieses so gut bekannte alte Sprichwort enthält eine doppelte Wahrheit. Es zeigt nämlich den Weg und das Ziel. Jeder weiß, daß es Situationen und Augenblicke im Leben gibt, da es besser ist zu schweigen, statt zu reden. Wer hätte dies nicht schon erfahren. Jeder kann sich davon überzeugen. Doch wäre dies sozusagen nur die äußere oder exoterische Seite der Aussage. Im Mittelalter waren die Alchemisten auf der Suche nach dem Gold. Viele Berichte und Geschichten gibt es darüber. Lesen wir sie, so wird schnell erkenntlich, daß es sich hierbei nicht nur um das nicht Reden und dafür Schweigen handelt, wie es allgemein dem Sprichwort nach verstanden wird, da das Reden oder Sprechen - auch das der Gedanken - aufgehört hat. Zwar sagt man den Alchemisten nach, sie hätten in ihren Laboratorien versucht, Blei in Gold zu verwandeln,
doch ist dies allen Nachahmern bis heute nicht gelungen. Wie aber schafften sie es?
 
Ganz einfach: Sie wussten um das Geheimnis des Goldes, kannten das Blei - den physischen Körper - und wussten auch um das Silber -das hier die Sinne umschreibt; - Gold aber entsprach und entspricht noch immer âtman oder dem göttlichen Prinzip in uns, und dies ist nur in der Stille zu entdecken, nämlich dann, wenn das Silber, das Reden, auch das Reden und Lärmen aller Sinne, unwichtig geworden ist, wenn es durch Stille, durch Ausgeglichenheit und Harmonie der Sinne besiegt und damit auch das Blei, die sterblichen Teile des Menschen, umgewandelt wurden.
 
So ist Stille nötig, das Eintauchen in die Stille, um das große Geheimnis zu enthüllen, das zu finden und zu besitzen die Menschen aller Zeiten erstrebten.
 
Stille ist der Schlüssel, der Wegweiser und der Enthüller. Manche nannten es das Umwandeln von Blei in Gold, andere waren auf der Suche nach der blauen Blume oder dem Gral, manchmal wird auch nach einem verborgenen Schatz gesucht, - gleich wie immer dieser Weg in Märchen, Sagen und Mythen umschrieben ist. Die Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang vom Stein der Weisen, dessen Besitz alles Streben galt. Das Ziel war und ist immer die Offenbarung des Geheimnisses Mensch, des wahren Menschen, und der Weg führt über die Stille und durch die Stille. Keine weite äußere Reise ist dazu nötig. Es ist der Weg ins Innere Herz, in die stille Kammer des wahren Seins. Dort ist das reine Gold; dort finden wir die Blume Gott-Mensch, dort ist der Schatz, der Gral, dort kommen wir in den Besitz des Steines der Weisen. Doch um dies zu schauen und zu erfahren, müssen die Sinne, die sich nur mit der Außenwelt beschäftigen und sich an ihr ergötzen, still geworden sein. Ehe der Mensch nicht erkennt, daß dieses uns umgebende flirrende, girrende und verwirrende Spiel äußeren Lebens, das mit immer wechselnden Reizen ruft und lockt, uns erprobt und versucht, uns mit immer neuen Bagatellen des Augenblicks beschäftigt, damit auch das Gefühlsleben oberflächlich und schnell wechselnd in Freude, Amüsiertsein oder Betrübnis in Bewegung haltend, solange wird der Mensch von der Erfahrung der Stille und der Enthüllung des Geheimnisses ferngehalten, und seine Suche nach dem Schatz bleibt vergeblich, auch wenn er hier das große Los oder den Haupttreffer im Lotto erzielt, denn der Lärm der Außenwelt, in den unsere Sinne sich einfangen lassen, umgibt uns wie eine dunkle Wolke und versucht, uns vom Wege abzubringen.
 
Strebt der Mensch jedoch der Stille zu, geht auch in ihm selbst ein Wandel vor. Waren Erbarmen und Mitgefühl bisher für ihn psychologische Empfindungen, so erkennt er sie jetzt als Offenbarung des sich ausdehnenden spirituellen Wachseins, denn ihr Wachstum läuft mit diesem parallel. Beide resultieren aus der Ausdehnung des Wissens, daß es nach dem kleinen persönlichen Selbst, was hier lernt und Erfahrungen sammelt, noch etwas Größeres gibt, in das der Mensch nun erwacht. Es wird ihm deutlich, daß sich das Universum aus einem nahtlosen Zusammenfließen und Ineinandergleiten aller fühlenden Wesen zusammensetzt, und es wird langsam für ihn undenkbar, daß er irgend etwas davon erfahren oder verstehen kann, wenn er dies nicht durch die Übung des Schweigens aller Sinne des physischen Körpers vorbereitet, also des ,in die Stille Gehens'. Das Sich-Erstrecken in die inneren Bereiche, die wir gern die ,unsichtbaren' nennen, ist nur im Schweigen und in der Ruhigstellung alles dessen, was die Umwelt bedingt und in der Stille der inneren Herzenskammer möglich. Dies ist die einzige Möglichkeit wirklichen Wachstums und wahrer Evolution. Sie liegt in der Stille oder auch der scheinbaren Leere; denn die Dinge, die so lange eine Rolle spielten, die Außenwelt, die Umgebung, alle Arten sinnlicher Genüsse, haben in den Hintergrund zu treten, ja, sie müssen verschwinden. Dies ist ein langer Weg. Anfangs mögen es nur Augenblicke sein, in denen dies gelingt. Aber das Gebot der Stille wird zwingender und verlangt nach Ausweitung, nach Verlängerung dieser Augenblicke, bis sie uns schließlich ganz umfängt.
 
„Still sind die Stätten, an denen Wachstum vor sich geht. Still sind die Kammern, in denen das Herz erleuchtet wird. Die majestätischsten Prozesse der Natur vollziehen sich in der Stille, friedvoll, ruhig. Alles Wachstum geht ruhig vor sich, ohne Anspannung, in der Stille. Kampf und Streit, Geschäftigkeit, Unrast, Ruhelosigkeit - all diese Dinge sind Zeichen menschlicher Unvollkommenheit und des Mangels an Erkenntnis und der Weisheit der Herzenslehre. Es liegt in der Tat im Wesen des Himmlischen, nichts mühevoll zu erstreben. Deshalb sollen wir unser Werk ruhig, gründlich und ungezwungen vollführen. Sei still und wache. Sei im Spirituellen so aktiv, wie du nach außen hin ruhig bist. Dann wird dein Gemüt den goldenen Glanz der Sonne des Lichtes in dir, deines inneren Gottes, widerstrahlen." („Goldene Regeln", 156-157, von G. v. Purucker)
 
Das ist es wahrlich, was uns die Stille schenkt; und es ist ein Geschenk, das sich nur jeder selbst machen kann. Jeder muss sich diese Stille in sich selbst erarbeiten. Still sind wir, wirklich still, wenn wir tätig sind, ohne tätig zu sein; wenn wir sprechen, ohne zu reden, wie es die „Stimme der Stille" ausdrückt, wenn die Sinne ineinander fließen, wenn nichts mehr bleibt, als das Eine und das Teil, das jeder davon ist, sich als dieses EINE erkennt. Der Weg ist lang. Aber er beginnt mit dem ersten Schritt. Schritt für Schritt, ja, fast möchte ich sagen: Millimeter um Millimeter muss der Weg zu dieser Stille erkämpft werden, so wie auch jeder im allgemeinen Leben für sich zu sorgen hat. Niemand kann durch die Augen des anderen sehen oder Dinge durch den Verstand des anderen begreifen. Jeder muss für sich das alles erwerben. Der eigene Wille ist es, der das Empfinden für die Stille antreibt und ihn schließlich dort hin führt, so, wie es ja auch die Sehnsucht nach größerem Verständnis dessen, was wir Leben nennen, ist, die den Willen dazu aktiviert und weiter wachsen läßt, um dorthin zu kommen, wo wir durch die Stille und in der Stille erfahren, was wir wirklich sind. Allezeit ist die Stille da. Allezeit wartet sie auf uns. Unser eigenes Bemühen ist es, das bestimmt, wann wir in sie eintreten. Ein offenes Buch ist das Leben für den, der zu lesen vermag. Doch wer vermag schon zu lesen, wirklich zu lesen, d. h. zu verstehen, ohne still zu sein? „Die größte Offenbarung ist die Stille", lehrte Laotse vor Jahrtausenden. Warum soll sie nicht auch uns gehören, da wir sie doch nur zu nehmen brauchen?



Autor: Irmgard Scheithauer