Evolution durch Wiedergeburt

Zugleich mit der „vertikalen" eröffnet Blavatsky auch die „horizontale" Perspektive, indem sie das Woher und Wohin des Menschen in Vergangenheit und Zukunft erhellt und damit eine Lösung der quälenden Schicksalsfrage bietet. Mit der Erläuterung der großen Gesetze von Karma und Reinkarnation macht sie den Weg frei für ein Verstehen des großen Rahmenplans der menschlichen Evolution, die auf eine Entfaltung des geistig-göttlichen Wesenkerns im Menschen durch lange Entwicklungszyklen (Inkarnationen) ausgerichtet ist. Weit über das kurze Einzelleben auf dem materiellen Plan hinausschauend, zeichnet sie das große Panorama einer seelisch-geistigen Evolution - sowohl rückblickend in frühere Phasen der Menschheitsgeschichte als auch vorwärtsschauend auf das letztendliche Ziel.
 Der Mensch in seinem irdischen Leben ist demgemäß eine Projektion aus seiner höheren Identität, seinem Höheren Selbst, in die stofflichen Welten des Denkens, Fühlens und Handelns zum Zwecke der Gewinnung von Erfahrungen und der Heranbildung immer geeigneterer Gefäße (Mental-, Astral- und physischer Körper), die sein wahres Wesen, seine ursprüngliche Natur, schließlich voll manifestieren.
  Mit dieser Sicht von Reinkarnation und Karma rückt Blavatsky zugleich vage und abstrus anmutende Vorstellungen von Seelenwanderung als einem beliebigen und schier endlosen Eintauchen in verschiedene Tier- und Menschenkörper zurecht. Sylvia Cranston macht darauf aufmerksam, dass diese fundierte Sicht der „Evolution durch Wiedergeburt... hauptsächlich für den Anfang der Reinkarnations-Renaissance der heutigen Zeit verantwortlich war." (Reincarnation, the Phoenix Fire Mystery, Kap. 7)

Die erste Philosophie psychischer und spiritueller Evolution

In seiner 1975 in den USA veröffentlichten Studie Man - the Unfinished Animal (Das unvollendete Tier - eine neue Stufe in der Entwicklung des Menschen) räumt der amerikanische Sozialhistoriker Theodore Roszak ein, dass Blavatsky „ die erste Philosophie psychischer und spiritueller Evolution ... im heutigen Westen entwickelt", dass sie sich mit der „Qualität ihres Denkens ... zweifellos unter den originellsten und scharfsinnigsten Geistern ihrer Zeit befindet ... Vor allem ist sie unter den bahnbrechenden Psychologen der heutigen Welt mit visionärem Geist." Als Grund für diese Einschätzung führt er die Tatsache an, dass sie Darwins Evolutionstheorie nicht wie die christlichen Fundamentalisten zurückwies, sondern vielmehr daran kritisierte, dass diese (Theorie) allein das physische Leben der Menschheit in den Mittelpunkt stelle (das nur ein Recht des Stärkeren kenne), das mentale, kreative und visionäre Leben jedoch völlig ausgelassen habe;

„es ließ das Bewusstsein aus, dessen Entwicklung einem ganz anderen Evolutionsweg folgte. Darwin ging ihr einfach nicht weit genug; seine Theorie war nicht groß genug, um die menschliche Natur insgesamt zu enthalten."

Es ist nicht uninteressant zu erfahren, dass selbst Darwins engster Mitarbeiter und Mitautor der Evolutionstheorie, Alfred Russel Wallace, deutlich die Grenzen von Darwins Theorie der natürlichen Auswahl erkannte und der umfassenderen Sicht, wie sie Blavatsky entwickelte, durchaus offen gegenüberstand. Denn die Theorie Darwins, „könne nicht erklären, wie Kunst, Musik und andere ästhetische Geisteskräfte entstanden seien, da sie im Kampf ums Überleben keinen Wettbewerbsvorteil böten". Roszaks Anmerkung dazu: „Wenn Evolution bloß eine Frage des Überlebens durch Anpassung wäre, so könnten wir immer noch ein Planet von robusten Bakterien sein ... Ihr (der Entwicklung der physischen Arten) überlagert sah Wallace eine kühnere vertikale Bewegung, welche die Evolution höheren Ebenen der Komplexität und des Bewusstseins entgegentreibt." (Sylvia Cranston/Carey Williams, Wiedergeburt, ein neuer Horizont in Wissenschaft, Religion und Gesellschaft, München 1989, S. 53f)

Emanzipierender Einfluss auf das Bewusstsein

Blavatskys Sicht der Evolution ist nicht nur von akademischem Interesse. Roszacks Auswahl aus ihren Schriften und der Kommentar lassen (so S. Cranston) seine Ansicht erkennen, dass Blavatsky

„dadurch dass sie die Evolution ebenso moralisch, mental und spirituell wie physisch auffasst, einen grundlegend emanzipierenden Einfluss auf das westliche Bewusstsein ausübt." Im Lichte der Reinkarnation kann der Mensch die Verantwortung für sein Schicksal nicht mehr einem fernen Gott oder einem blinden Zufall zuschieben - nur sich selbst; weit davon entfernt, in Fatalismus zu verfallen, sieht er die kreativen Möglichkeiten, die in Gegenwart und Zukunft liegen.

Kennzeichnend die Worte des Erfinders und Automobilherstellers Henry Ford in einem Interview von 1928, in dem er rückblickend sagt:

„Ich übernahm die Reinkarnationstheorie, als ich 26 war (Erscheinungsjahr von Blavatskys Schlüssel zur Theosophie) ... Die Religion bot nichts zu diesem Punkt ... Selbst Arbeit konnte mir keine vollständige Befriedigung geben. Arbeit ist sinnlos, wenn wir die Erfahrung, die wir in einem Leben sammeln, nicht im nächsten verwenden können. Als ich die Reinkarnation entdeckte, war es, als ob ich einen universellen Plan gefunden hätte. Ich erkannte, dass es eine Chance gab, meine Ideen auszuarbeiten. Die Zeit war nicht mehr begrenzt. Ich war nicht mehr länger ein Sklave der Uhrzeiger ... Genie ist Erfahrung. Einige scheinen zu glauben, es sei eine Gabe oder ein Talent, aber es ist die Frucht langer Erfahrung in vielen Leben ... Die Entdeckung der Reinkarnation brachte mein Gemüt zur Ruhe ... Wenn Sie eine Aufzeichnung von diesem Gespräch aufbewahren, schreiben Sie es so, dass es das Gemüt der Menschen zur Ruhe bringt. Ich würde gerne anderen die Gelassenheit vermitteln, die die lange Lebensaussicht uns gibt." (a. a. O. S. 388)

Spiritismus durchleuchtet - unverminderte Aktualität

Das theosophische Weltbild, wie es von Blavatsky dargelegt wurde, bringt eine klare Beantwortung der grundlegenden Fragen des menschlichen Daseins: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich hier? - und zwar nicht als blinder in Dogmen gefasster Glaube, sondern als ein philosophisch umfassendes und in sich kohärentes System, dessen Wahrheitsgehalt von jedem erforscht und je nach den Bedingungen, die er mitbringt, erkannt werden kann. Im Schlüssel zur Theosophie, einem Kompendium theosophischer Lehren in Frage und Antwort (einer damals beliebten literarischen Form) wird das theosophische Weltbild gegenüber einem im christlich dogmatischen Denken beheimateten Fragesteller argumentativ erläutert.
Das detaillierte Inhaltsverzeichnis spiegelt die Vielfalt und Aktualität der behandelten Themen, wie z. B. Evolution und Illusion - Siebenfältiger Aufbau unseres Planeten und des Menschen - Unterschied zwischen Seele und Geist - Die verschiedenen Zustände nach dem Tode - Warum wir uns nicht an vergangene Leben erinnern - Über das Bewusstsein nach dem Tode und nach der Geburt - Die Natur des Denkprinzips - Der Unterschied zwischen Theosophie und Spiritismus - Was ist Karma? - Praktische Theosophie -Pflicht - Selbstaufopferung usw.

Angesichts der oft kritiklosen Akzeptanz von Channeling und Mediumismus sind Blavatskys Ausführungen über Spiritismus aufschlussreich, insofern als sie erkennen lassen, was möglicherweise tatsächlich hinter dem Schleier der physischen Wahrnehmung vorgeht. Ein anschauliches Fallbeispiel beschreibt Blavatsky in einem Brief an ihre Schwester Vera, in welchem sie „den grausigen Aspekt dieser Sitzungen" schildert, „indem nämlich die Gedanken der Anwesenden die sich auflösenden Reste vom Astralkörper der Verstorbenen anziehen, die von der Seele abgestoßen werden, während diese zu höheren Bewusstseinszuständen aufsteigt."

„Je mehr Medien ich sehe ..., desto deutlicher erkenne ich die Gefahr, die die Menschheit umgibt ... Du wirst Dich an die Experimente erinnern, die ich für dich in Rugodevo anstellte, wie oft ich die Geister derer sah, die einst in dem Haus gewohnt hatten, und sie Dir beschrieb, da Du sie selbst nie sehen konntest ... Nun, so war es auch hier in Vermont ... Ich sah und beobachtete diese seelenlosen Geschöpfe, die Schatten irdischer Körper, denen Seele und Geist meistens schon längst entflohen waren, die aber ihre halb-materiellen Schatten bewahrten, (indem sie sie aus den Lebensenergien) von Hunderten von Besuchern speisten, die kamen und gingen, wie auch aus den Energien der Medien ... Es war gespenstisch, diesen Vorgang mitanzusehen! Es bereitete mir oft Übelkeit und Schwindelgefühle ... ich konnte nichts anderes tun, als mir die abscheulichen Wesen auf Armeslänge vom Leibe zu halten. Aber es war eine Sehenswürdigkeit, wie all die Spiritisten diese umbrae (Schatten) freudig begrüßten! Sie vergossen Tränen und jubelten im Kreis um das in diese leeren materialisierten Schatten gekleidete Medium ... Wenn sie nur sehen könnten, ... wenn sie nur wüssten, dass diese Schattenbilder von Männern und Frauen allein aus den irdischen Leidenschaften, Lastern und weltlichen Gedanken, aus den Rückständen der Persönlichkeit bestehen, die einmal gelebt hatte; es ist nur wertloser Abschaum, der der befreiten Seele und dem befreiten Geist nicht folgen konnte und für ein zweites Sterben in der irdischen Sphäre zurückgelassen wurde, der dem Durchschnittsmenschen und dem Publikum sichtbar wird." (S. Cranston, Leben und Werk der Helena Blavatsky, Satteldorf 1995, S. 168f)

Blavatsky leugnet nicht, dass es auch Ausnahmen gibt; doch die echte Verbindung zu einem geliebten Menschen über das Grab hinaus manifestiert sich für sie auf andere Weise. Ausführlich erörtert sie die gesamte Thematik im Schlüssel (Kap. II, VII - IX), wo es u. a. heißt: „Reine göttliche Liebe hat ... ihre Wurzeln in der Ewigkeit ... Liebe über das Grab hinaus hat ... eine magische göttliche Kraft, die auf die Lebenden einwirkt ... Sie wird sich in ihren Träumen und oft auch in verschiedenen Ereignissen zeigen, wo sie erleben werden, dass sie gewissermaßen von der Vorsehung beschützt werden und Unheil entrinnen, denn Liebe ist ein starker Schild und nicht von Raum und Zeit begrenzt." „Karma wird früher oder später all jene, die einander in einer solch spirituellen Zuneigung liebten, wieder in der gleichen Familiengruppe zur Inkarnation bringen." 

Neue Perspektiven in Literatur, Kunst und Religion

Silvia Cranston untersucht in ihrer hervorragenden Blavatsky-Biographie, die sich durch umfassendes Quellenstudium und natur- und geisteswissenschaftliche Blickweite auszeichnet, die Einflüsse, die von Blavatskys Schriften auf die künstlerische und literarische Avantgarde ihrer Zeit ausgingen. Die Verbindung führender Köpfe der irischen Dichter-Renaissance - W. B. Yeats, G. W. Russel - mit der theosophischen Bewegung wird hier deutlich, ebenso die Wirkung auf die Malerei. Deren Wende zum Symbolistischen und Abstrakten vollzieht sich parallel zu der neuen Dimension der Transzendenz, die in Blavatskys Schriften aufleuchtet. Näheres dazu in Dr. Helen Westgeest Untersuchung über "Die Beziehungen zwischen Theosophie und  abstrakter, immaterieller' Malerei" in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden"(in Theosophie heute, Jg. 2002, Heft 3 bis Jg. 2003, Heft 2)
Als Beispiel für die große Beachtung, die Theosophie in Künstlerkreisen fand, mag W. Kandinskys Bewertung als "eine der größten geistigen Bewegungen gelten. ("Über das Geistige in der Kunst" Bern 1912, S.42.
 
Die Wirkung, die in philosophisch-religiöser Sicht von Blavatsky ausging, lässt sich am Beispiel des irischen Dichters W. B. Yeats ablesen, der beklagte, dass die materialistischen Biologen und Physiker wie Darwin, Huxley u. a. ihn der Religion seiner Jugend beraubt, ihm aber ihm nichts anderes dafür gegeben hätten. „Sein Intellekt und ihre Lehren zwangen ihn," so Prof. W. Y. Tindall, „den Materialismus zu akzeptieren, aber er war unglücklich damit und sehnte sich nach etwas, was die ständigen irrationalen Sehnsüchte seiner Seele befriedigen konnte. Die Irische Kirche konnte es nicht mehr ... In diesem Dilemma entdeckte er die Theosophie, die seiner Seele die ersehnte Erweiterung bot, ohne Widerspruch zu seinem Intellekt." (S. Cranston, a.a.O. S. 545)
 
Blavatsky zeigte einen Ausweg aus dem allseits wachsenden Skeptizismus gegenüber allem Metaphysischen und Religiösen. Religion ist nach ihrer Sicht nicht blinder Glaube an einen außerweltlichen anthropomorphen Gott; sie ist vielmehr ein in allen großen Religionen zu findendes Echo einer spirituellen Wirklichkeit, zu der ein jeder Mensch in seinem Innersten Zugang hat. Das hat nichts mit Selbsterlösung zu tun, sondern richtet vielmehr den Blick des einzelnen auf den gemeinsamen allgegenwärtigen Quellgrund, der Wesensgrund aller Menschen ist und damit auch Basis aller wahren Ethik. Was wir anderen antun, tun wir uns selbst an. Das Unrecht, einem Glied der menschlichen Familie zugefügt, verletzt alle (vgl. Schlüssel, Kap. II).

Die Vorstellung von der Menschheit als einer großen Familie, die durch unzählige Fäden miteinander verbunden ist, beginnt langsam in das allgemeine Bewusstsein zu dringen. Auf der essentiellen Einheit aller Menschen fußt das Hauptziel der 1875 von Blavatsky und anderen gegründeten Theosophischen Gesellschaft (Bildung eines Kerns einer die ganze Menschheit geistig umfassenden Bruder- und Schwesternschaft).

Die hohen ethischen Prinzipien und Gebote der Religionsstifter (Güte, Nächstenliebe, Selbstverleugnung und Opfer) erscheinen hiermit in neuem Licht: sie sind nicht von außen herangetragene Forderungen eines fernen Gottes, sondern Ausdruck der transzendenten Natur eines jeden Menschen, deren Entfaltung wahre Selbstfindung ist.

Selbstverwirklichung - die „Stimme der Stille"

Jesus Christus, Gautama Buddha u.a. sind die strahlenden Leuchten und Zeugen dieser Selbstverwirklichung, wobei das Wort „Selbst" einen neuen Sinn erhält, der allumfassend ist. Der Weg dahin, hier Nachfolge, dort Pfad genannt, wird von Blavatsky wunderbar klar dargestellt im Bodhisattva-Ideal der Stimme der Stille - drei Fragmente, die aus den verborgenen Überlieferungen eines tibetischen Klosters in den Westen gebracht wurden.
In poetischer Sprache sind im erstenFragment die inneren Wandlungen beschrieben, die notwendig sind, um die „Stimme der Stille" zu hören, im zweiten die Herzensweisheit, die im Unterschied zum Kopfwissen auf den Pfad führt, im dritten die Sieben Pforten (Paramitas), deren „Durchschreiten" endgültige Befreiung (aus der egozentrischen Verhaftung) bewirkt und den Menschen zu einem Bodhisattva werden lassen.
Es wird berichtet, dass der große buddhistische Philosoph und Zen-Meister D. T. Suzuki starr vor Staunen war, als er die Stimme der Stille zu Gesicht bekam und Blavatsky eine profunde Kenntnis des Mahayana-Buddhismus bescheinigte. Er war überzeugt, dass sie „unzweifelhaft auf irgendeinem Wege in die tieferen Aspekte des Mahayana-Buddhismus eingeweiht war."7
Je mehr sich dem Leser ein Verstehen dieser Texte erschließt, um so mehr ist er geneigt, jenen Recht zu geben, die die Stimme der Stille zu den kostbarsten Weisheitsschätzen der Menschheit zählen. War der Blick des Lesers bisher auf die eigene Religion eingeengt, die er für die einzig wahre hielt, so öffnet sich ihm der Sinn für den gemeinsamen Wahrheitskern, die allen Religionen zugrunde liegt.

Horizonterweiterung

In ihren großen Werken Isis Entschleiert und Geheimlehre führt H. P. Blavatsky den Leser auf die Spur einer universellen Weisheitsreligion, die in den verschiedenen Religionen und Überlieferungen, besonders denen des fernen Ostens, mehr oder weniger klar durchscheint. Sie erweitert den Horizont zu dem spirituellen Erbe der Menschheit, das Jahrhunderte hindurch missachtet, ignoriert, verdreht oder gar eliminiert wurde und schließlich Gefahr lief, völlig vergessen zu werden - unter dem Monopolanspruch einer einzigen, institutionalisierten Religion, die sich im Alleinbesitz der Wahrheit dünkt.

Blavatsky legt dar: Frühere und andere Religionen bergen Teile der Wahrheit; ihre Mysterien hüten Geheimnisse über die verborgene Natur von Kosmos und Mensch. Nicht nur die christliche Religion kündet von der Geburt eines göttlichen Kindes. Die Zustände nach dem Tode, ,Himmel' und ,Hölle', waren im alten Ägypten, und nicht nur da, wohlbekannt - die Reihe ließe sich fortsetzen.

Christlicher Missionseifer und koloniale Überfremdung hatten bei vielen Völkern Glauben und Vertrauen in die eigenen spirituellen Traditionen schwinden lassen. Die Wende, die Blavatsky einleitete, wird am Beispiel Gandhis deutlich. Dieser lernte nicht in Indien, sondern erst in London durch Vermittlung theosophischer Freunde, zweier Brüder, das Weisheitsbuch seines Volkes, die Bhagavad Gita, kennen:

„Sie sprachen mit mir über die Gita ... und luden mich ein, das Original gemeinsam zu lesen. Ich empfand Scham, denn ich hatte diese göttliche Dichtung weder im Sanskrit noch in Gujarati gelesen ..." Dieses Buch wurde bekanntlich zum wichtigsten Buch seines Lebens, auf dem er seine Politik der Gewaltlosigkeit (ahimsa) aufbaute. Nicht zu unterschätzen auch die Wirkung, die der Schlüssel zur Theosophie auf ihn ausübte: „Ich erinnere mich, dass ich auf Veranlassung der Brüder Madame Blavatskys Schlüssel der Theosophie gelesen habe. Dieses Buch entfachte den Wunsch in mir, Bücher über den Hinduismus zu lesen und befreite mich von der durch die Missionare genährten Vorstellung, der Hinduismus sei voller Aberglaube."8

"Isis Entschleiert" (1877) und „Geheimlehre" (1888)

Blavatskys erstes großes Werk Isis Entschleiert zeigt einen Fundus an Wissen, das in seiner assoziativ ausgebreiteten Fülle manchen Leser taumeln lässt. Die Richtung und Schärfe der Argumentation ist aus der Sicht der damaligen Zeit zu verstehen: koloniales Denken, Monopolanspruch des Christentums (auf „Wahrheit"), dazu eine rein mechanistisch-materialistisch geprägte Wissenschaft behaupteten unangefochten ihre Dominanz in geistiger, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. In der Physik glaubte man, alle großen Entdeckungen gemacht zu haben - Max Planck wurde bekanntlich empfohlen, Musik statt Physik zu studieren, da quasi nur noch wenige Stellen hinter dem Komma zu entdecken seien. Die großen bahnbrechenden Entdeckungen der neueren Physik standen erst noch bevor.

Köstlich die Ironie, mit der Blavatsky die vermeintliche Überlegenheit ihrer Zeit kommentiert.9 Mit unglaublichem Mut reißt sie Fassaden angeblicher Gelehrsamkeit ein und enthüllt dabei eine Vielfalt okkulten (d. h. verborgenen) Wissens: die Umrisse einer, wie sie sagt, okkulten Wissenschaft, die jenseits des physischen Schleiers, eine komplexe und umfassende Sicht von Mensch und Kosmos beinhaltet. Im Unterschied zur Isis, die die einzelnen Spuren uralter Weisheit in den verschiedenen Überlieferungen aufdeckt, bringt ihr Monumentalwerk, Die Geheimlehre, eine zusammenhängende Darstellung dieser Uralten Weisheit.10

Das Werk behandelt im ersten Band kosmische und menschliche Evolution in ihren ersten Anfängen: wie Welten entstehen oder vielmehr, wie sie nach einer Zeit der Ruhe wiedergeboren werden, und wie sich unser Globus und seine niedrigeren Bereiche bis zu der Zeit entwickelten, als die menschliche Form entstand.

Es behandelt im zweiten Band die weitere Entwicklung dieser Form, das Aufleuchten des Bewusstseins durch die Inkarnation menschlicher Seelen aus früheren Welten, die darauffolgende Evolution der frühen Menschengeschlechter bis zur heutigen Zeit und deren mögliche zukünftige Entwicklung.

Schöpfungsmythen der Völker werden herangezogen und in ihrem tieferen Sinngehalt erläutert, untergegangene Kontinente und Zivilisationen wie Atlantis, Lemurien u.a. beleuchtet, die Entwicklung der Menschheit in ihren früheren, feinerstofflichen Zuständen und den Phasen zunehmender Verdichtung dargestellt (was Plato nur in Bildern beschreibt: Seelenvogel, Verlust der Schwingen und Gefangensein im Körper, Trennung der Geschlechter). Der Blick senkt sich in schier unermessliche Zeiträume; gleichzeitig werden die Spuren des Wissens, sowohl in den spirituellen Traditionen des Ostens als auch denen des Westens, insbes. der pythagoreisch-(neu)platonischen Philosophie (dem „letzten Hort der Weisheitsreligion") offenbar.

Die Geheimlehrefußt, so erklärt Blavatsky, auf der „gesammelten Weisheit der Zeitalter". Sie betont, dass dies kein von ihr erfundenes spekulatives System, keine Einbildung einzelner Menschen sei. „In der Tat handelt es sich um die lückenlosen Aufzeichnungen Tausender Generationen von Sehern." Von ihr stamme nur das Band, das diesen Blumenstrauß zusammenhält (Studienausgabe, Satteldorf 1999, S.69, 201).

Die Quelle ihres Wissens - biographische Streiflichter

Wie war Blavatsky an solche „Aufzeichnungen" gelangt? Wo erhielt sie Einblick in jene zeitlose Weisheit, die durch Tausende von Sehergenerationen (!) tradiert wurde?

In der Biographie ihrer frühen Jahre finden wir kaum Anhaltspunkte. In Russland in einer gutsituierten Adelsfamilie 1831 geboren, erhielt sie die für Mädchen ihres Standes übliche Allgemeinbildung. Sie fiel durch einen wachen Geist auf, war vielseitig begabt, las viel und liebte lange Ausritte und Wanderungen in der Natur. Mit offenen psychischen Sinnen geboren, lernte sie außerdem durch eigene „Beobachtung". Es wird berichtet, dass sich z. B. beim Betrachten eines Steines, den sie aus dem Flusssand aufgehoben hatte, dessen vergangene ,Geschichte' (frühere Entwicklungsperioden) vor ihrem geistigen Auge entfaltete. Mehrfach wurde die Familie Zeuge ihrer psychischen Fähigkeiten, aber auch ihres starken Unabhängigkeitssinns, der so gar nicht in die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit, schon gar nicht in die für eine Frau ihres Standes, passte. Nach einer überstürzten Ehe, die ihr alles andere als die erhoffte Freiheit aus Familienzwängen verschaffte, begab sie sich mit kaum zwanzig Jahren auf ausgedehnte Reisen, die sie mehrmals rund um den Globus führten und mit Kulturen, Denkweisen und spirituellen Traditionen verschiedener, vor allem nicht-europäischer Völker, in engen Kontakt brachte.

Höhepunkt dieser Zeit war ihr Aufenthalt in Tibet - damals noch gegenüber westlichen Ausländern hermetisch abgeriegelt, wohin sie nach ersten vergeblichen Versuchen schließlich doch gelangte. In Klöstern und im Ashram indischer Weiser wurde ihr die Möglichkeit eines längeren Aufenthaltes gegeben, sie studierte uralte Handschriften und Überlieferungen, die sie später in ihren Werken vor einer verblüfften westlichen Öffentlichkeit ausbreitete. Wie sie später erklärte, wurde sie dort von „Wissenden", „Älteren Brüdern", von denen sie einen seit ihrer Kindheit aus Träumen und Visionen, seit einer Begegnung in London auch im physischen Körper kannte, auf ihre spätere Aufgabe im Westen vorbereitet.

Es ist hier nicht der Raum, auf die Einzelheiten der Übermittlung und der Autorschaft ihres Monumentalwerkes einzugehen. Erwähnt sei nur die Aussage eines ihrer indischen Lehrer gegenüber W. Q. Judge, die Geheimlehre sei das gemeinsame Werk von Mahatma M., Blavatsky und ihm (K.H.).11 Im Zeitalter digitaler Kommunikation sind Übermittlungen, die sich nicht des schwerfälligen physischen Transportweges bedienen, nichts Ungewöhnliches mehr. Jeder kann heute Bilder und Nachrichten per Handy empfangen, und es gibt Einzelfälle, die darauf deuten, dass der Mensch selbst in seiner psycho-mentalen Konstitution Sender und Empfänger von Mitteilungen sein kann. Zu Blavatskys Zeit war dies noch nicht denkbar und wurde, wie in solchen Fällen üblich, als Betrug deklariert, Blavatsky ungeachtet des tiefsinnigen und universellen Inhalts ihrer Werke als Betrügerin gebrandmarkt.

Zwar ist dieses Urteil inzwischen revidiert; die „Gesellschaft für psychische Forschung" (SPR) in London, die für dieses Fehlurteil verantwortlich war, ließ 1986 eine entsprechende dreiseitige Presseerklärung durch alle führenden Zeitungen in Großbritannien, USA und Kanada gehen. Dr. Vernon Harrison, der mit dem Fall beauftragte Experte, schließt seinen Bericht mit den Worten: „Ich bitte Blavatsky nachträglich um Vergebung, dass wir hundert Jahre gebraucht haben, um zu demonstrieren, dass sie die Wahrheit geschrieben hat."12 Doch ist das damals erzeugte Vorurteil nicht ohne Wirkung geblieben. Wie Th. Roszak feststellt, haben es viele übernommen (teilweise aus Lexika), ohne je eine Zeile von ihr gelesen zu haben. Sein Fazit daher, Blavatsky sei eine zukunftsträchtige Begabung, die es noch zu entdecken gelte", denn „mit dem groß angelegten Panorama, das sie in ihrer Kosmologie und Anthropologie über die Entwicklung von Kosmos und Mensch enthüllt, setzt sie wirkliche Maßstäbe."

Trotzdem bleibt festzustellen, dass ihr Werk ununterbrochen über hundert Jahre im Druck geblieben ist und auf vielfältige, manchmal unterschwellige Weise seinen Einfluss ausgeübt hat. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass sich der allgemeine Denkhorizont, wenn auch langsam, in der von Blavatsky eingeschlagenen Richtung öffnet. Shirley Nicholson kommt in ihrer Untersuchung vonUralter Weisheit und moderner Erkenntnis zu folgendem Ergebnis:

„Ihr Werk bildet die Grundlage für die Vielfalt esoterischer Lehren, die heute so populär sind. Wenngleich vor über hundert Jahren veröffentlicht, bildet die Geheimlehreimmer noch die Hauptquelle für die Grundbegriffe und Lehren, aus denen die Uralte Weisheit besteht ... ungleich vielen späteren Autoren betonte HPB stets die dem Universum zugrunde liegenden Gesetze, die es lenken. Sie enthüllte ein umfassendes System ineinandergreifender Prinzipien, eine Metaphysik, die die Grundlage der manifestierten Welt bildet." (Kassel 1989, S. 9)

Struktur der Geheimlehre - Streiflichter auf zukünftige Entdeckungen

Wie bereits erwähnt, setzt sich die Geheimlehre aus zwei (bzw. drei) Bänden zusammen: Kosmogenesis und Anthropogenesis; der dritte Band, Esoterik,wurde posthum herausgegeben.

Die beiden ersten Bände stützen sich auf das wohl älteste der Menschheit erhalten gebliebene Buch, das geheimnisvolle Buch Dzyan, das HPB in einem Ashram in Tibet studiert hatte. Die lange angezweifelte Existenz dieses Werkes konnte inzwischen durch den Tibetologen David Reigle geklärt werden: es handelt sich um einen Teil der Bücher des Ki-ute, möglicherweise um den fünften esoterischen Teil des Kala-chakra Tantra, genannt Jnana Yoga.13

Beide Bände der Geheimlehre, Kosmogenesis und Anthropogenesis, gliedern sich jeweils in drei Teile.

Teil I enthält eine Erläuterung der Strophen des Buches Dzyan und einen Vergleich mit den Kosmologien der Völker.
Teil II befasst sich mit den grundlegenden Symbolen der großen Weltreligionen und der okkulten Bedeutung altüberlieferter Ideogramme und Hieroglyphen (u. a. Kreuz, Svastika).

Teil III bringt eine Gegenüberstellung mit der Wissenschaft. Lehren der Weisheitsreligion werden mit den damaligen Postulaten der Wissenschaft verglichen, hauptsächlich denen der Anthropologie und der Geologie. In ihrer Kritik an der damaligen Wissenschaft nimmt Blavatsky

 

Interessanterweise die bahnbrechenden Erkenntnisse der neueren Physik voraus: Gegenüber der herrschenden Meinung vertrat sie folgendes: Teilbarkeit und ständige Bewegung der Atome - Materie und Energie sind ineinander umwandelbar - Materie ist eine Zustandsform der Energie. (Näheres in Theosophie heute 1/2003, S.2-3)

Jedes Atom lebt

Blavatsky eröffnet 1888 Sichtweisen, die sich erst im 20. und 21. Jahrhundert langsam Bahn brechen:

„Es gibt keine tote Materie. Jedes Atom lebt". „Alles im Weltall, durch alle seine Reiche hindurch, ist BEWUSST: d. h. mit einem Bewusstsein eigener Art auf der eigenen Wahrnehmungsebene ausgestattet. Wir dürfen nicht vergessen: Nur weil wirkeine Anzeichen von Bewusstsein etwa in Steinen wahrnehmen können, haben wir kein Recht zu sagen, dass in ihnen kein Bewusstsein vorhanden sei. ,Tote' oder ,blinde' Stofflichkeit gibt es ebenso wenig wie ein ,blindes' oder ,unbewusstes' Gesetz."13

Neunzig Jahre später (1978) erklärt David Bohm, Physikprofessor und Mitarbeiter Einsteins, dass

„das, was wir unmittelbar sehen, in Wirklichkeit eine sehr oberflächliche Sache ist, ... was wir wirkliche Dinge nennen, sind tatsächlich nur kleine Kräuselungen , die wohl auch ihren Platz haben, aber sie haben sich widerrechtlich des Ganzen bemächtigt". „Unsere Sinne zeigen uns nur die Oberfläche des Wassers. Wir sind mit Wellen und Wirbeln, mit Spritzern und Gischt beschäftigt", kommentiert S. Nicholson (S. 23)

1984 macht Brian Josephson, Nobelpreisträger u. Professor für Physik in Cambridge folgende Aussage:

„In jedem Atom der Materie können Elemente von Intelligenz vorhanden sein, und wie die biologischen Formen unserer Welt, kann es eine Evolution zu höheren Ebenen durchmachen. Physiker tendieren dazu, die Materie als leblos anzusehen und sind damit auf der falschen Spur. Selbst auf der niedrigsten Ebene scheint die Materie sich wie etwas Biologisches und Lebendiges zu verhalten. Hinter dem Phänomen, das wir gewöhnlich sehen, und sogar hinter den Phänomenen, die von Physikern erforscht werden, könnte es Leben und Intelligenz geben ... Ebenso scheint alle Materie eine geheimnisvolle Ganzheit oder Einheit zu besitzen, die wir Wissenschaftler nicht erklären können, die aber in den östlichen Religionen häufig beschrieben wird."15

Fundamente der Geheimlehre

Dies ist die Dimension, die Blavatsky in ihrem Monumentalwerk ausleuchtet, ausgehend von dem, was sie als das „Fundament" der zeitlosen Weisheit bezeichnet:

„Ein allgegenwärtiges, ewiges, grenzenloses und unveränderliches PRINZIP, die „wurzellose Wurzel von allem". „Das erste fundamentale Gesetz ... ist die absolute Unteilbarkeit des Wesenskerns eines jeden Bestandteils aller in der Natur vorhandenen Dinge, und zwar in der vollen Bedeutung des Wortes: ob Stern oder geringstes Mineral, vom höchsten Dhyan Chohan bis zum kleinsten Wurm, ob in der geistigen, intellektuellen oder physischen Welt." (Geheimlehre, Studienausgabe, S. 81 u. 134)
Das heißt: Hinter der oberflächlichen Trennung gibt es eine grundlegendere und wirklichere Einheit, welche die scheinbar unvereinbaren Dinge trägt. (S. Nicholson)

Trotz aller Zerrissenheit in der heutigen Zeit lässt sich beobachten, dass dieses Prinzip der Einheit und organischen Ganzheit, wenn auch langsam und in kleinen, zuweilen schmerzhaften Schritten, ins Bewusstsein dringt -im ökologischen und im gesellschaftlichen Denken. ,Vernetztheit' ist das neue Paradigma: der Planet - ein lebendes Wesen, die Menschheit: eine Familie; insgesamt Perspektiven, die in der Philosophie der Geheimlehre entfaltet sind.

Das zweite fundamentale Gesetz der Geheimlehre ist das der Zyklen oder der periodischen Manifestation, sinnbildlich als Aus- und Einatmen des Einen Lebens umschrieben - ein Gesetz, das auf allen Ebenen sichtbar wird, in unserem kleinen Leben, Wachen und Schlafen, Tag und Nacht, Geborenwerden und Sterben, auch im Entstehen und Vergehen von Planeten, Sonnensystemen und Galaxien.

Verfolgt man die Aussagen heutiger Astrophysiker wie Stephen Hawking und Paul Steinhardt, so stellt man eine bedeutsame Modifikation der Urknall-Theorie fest, die in Richtung dieses Gesetzes weist: Steinhardt vertritt die Ansicht:

 

„Der Urknall ist nicht der Anfang von Zeit ... Das Universum macht eine endlose Reihe von Zyklen durch, indem es sich ... zusammenzieht und in einem ausdehnenden Urknall wieder auftaucht, getrennt von Trillionen von Evolutionsjahren". (Sunrise3/2003, S. 108)

Emanation, von innen geleitet - Geist als treibende Kraft

Die Weisheitsreligion sagt, und alle, die in dieser Tradition stehen, dass das Eine durch einen Vorgang des Ausströmens zu den Vielen wird.
„Das Eine Sein atmet sozusagen einen Gedanken aus, der zum Kosmos wird."

Unsere Welt der Myriaden gesonderter Formen verdichtet sich allmählich und gradweise aus ihrem einheitlichen göttlichen Ursprung. Aber die Welt der materiellen Dinge ist niemals in irgendeiner Weise von ihrem göttlichen Ursprung abgeschnitten. Blavatsky verweist auf die „Ungetrenntheit von allem, was lebt", veranschaulicht durch das großartige Bild einer sich wechselseitig beeinflussenden Kette.

„Von Göttern bis zu den Menschen, von den Welten bis zu den Atomen, von einem Stern bis zu einem schwachen Schimmer, von der Sonne bis zur Lebenswärme des geringsten organischen Lebens - die Welt der Formen und des Daseins ist eine ungeheure Kette, deren Glieder alle miteinander verbunden sind."

Doch diese „Kette" und „Emanation aus einer Quelle" dürfen wir uns nicht irgendwo draußen vorstellen, etwa in der Art, dass da irgendwo eine Quelle sei. Blavatsky gibt einen inspirierenden Hinweis:

„Das Universum wird von innen nach außen kunstvoll gewirkt und geleitet. Wie oben so unten, wie im Himmel so auf Erden, und der Mensch - der Makrokosmos im Kleinformat (vgl. drittes fundamentales Gesetz) - ist der lebendige Zeuge dieses universellen Gesetzes. Wir beobachten, dass jede äußere Bewegung, Handlung, Geste, ob willkürlich oder mechanisch, organisch oder mental, von inneren Gefühlen oder Gemütsbewegungen, Wille oder Wollen, Gedanke oder Verstand erzeugt wird oder ihnen vorausgeht ... So wie keine äußere Bewegung oder Veränderung im Normalzustand im äußeren Menschenkörper stattfinden kann, wenn kein innerer, von einer der drei genannten Funktionen ausgelöster Impuls erfolgt, so verhält es sich auch mit dem äußeren, sichtbar gewordenen Universum. Der ganze Kosmos wird geleitet, überwacht und belebt von nahezu endlosen Hierarchien fühlender Wesen, wovon jede eine Aufgabe auszuführen hat und die - gleichgültig, welchen Namen wir ihnen geben —, ... Werkzeug der karmischen und kosmischen Gesetze ... sind." 16

George Wald, Nobelpreisträger und Professor der Biologie an der Harvard Universität räumt ein:

„Ich und praktisch alle anderen Biologen, sowie die meisten Menschen überhaupt, hatten angenommen, dass Bewusstsein oder Geist ein spätes Produkt der tierischen Evolution war. Mir kam die Idee, dass statt dessen die ständige alles durchdringende Präsenz des Geistes die Materie in diese Richtung führte."17
Für Blavatsky besteht kein Zweifel, dass „alle Dinge ihren Ursprung im Geist gehabt haben", wobei Geist und Materie/Substanz nicht als zwei grundsätzlich getrennte Dinge aufzufassen sind ... Form und Gestalt sind nur ein Ausdruck des Bewusstseins auf einer besonderen Stufe der Entfaltung. Das Bewusstsein, der „göttliche Geist", die subjektive Seite der Natur, ist die treibende Kraft hinter aller Erscheinung. „Die Geheimlehre erklärt, dass der Anstoß für die Entwicklung der Formen aus dem Drang kommt, das Potential des Bewusstseins freizusetzen, und nicht, wie die Wissenschaftler glauben, als Folge von zufälligen Veränderungen auf der materiellen Seite. Eine Wissenschaftsgeschichte, die nur die Entwicklung der Formen studieren kann, ist nicht in der Lage, die Kraft des Bewusstseins im Hintergrund wahrzunehmen, die durch den göttlichen Geist wirkt, um Formen zu schaffen, die für seine Verkörperung in verschiedenen Stadien geeignet sind." ( S. Nicholson S. 150)

Naturwissenschaft und Religion - eine Synthese?

Es zeigt sich, wie sinnvoll und notwendig das Postulat der Geheimlehre ist, dass Naturwissenschaft, Philosophie und Religion zu einer Synthese finden müssen, will man die tiefere Struktur unserer Welt erfassen. Es gibt Anzeichen, dass einige der größten Wissenschaftler und Denker unserer Zeit intuitiv diese Einheit erahnen. Weitab von dogmatischer, trennender Theologie bekennt sich Albert Einstein zu einer

„kosmischen Religiosität," die er für die „stärkste und edelste Triebfeder wissenschaftlicher Forschung" hält. „Das Erlebnis des Geheimnisvollen ... das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, die Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtender Schönheit, ... dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus." „Ich kann nicht glauben, dass Gott mit der Welt Würfel spielt... Meine Religion besteht in der demütigen Anbetung eines unendlichen geistigen Wesens höherer Natur, das sich selbst in den kleinen Einzelheiten kundgibt, die wir mit unseren schwachen und unzulänglichen Sinnen wahrzunehmen vermögen. Diese tiefe gefühlsmäßige Überzeugung von der Existenz einer höheren Denkkraft, die sich im unerforschlichen Weltall offenbart, bildet den Inhalt meiner Gottesvorstellung." (Ideas and Opinions, New York 1954)

Nach Blavatsky ist die Evolution keine Zufallsfolge. Sie ist verursacht und zeigt deutlich eine Richtung an:

„Die ganze Anordnung der Natur zeigt ein Vorwärtsschreiten in Richtung auf ein höheres Leben",

heißt es in der Kosmogenesis. Was dies bedeutet, erläutert Nicholson: „Das ganze ungeheuere evolutionäre System setzt die Kräfte eines Bewusstseins frei - von dem elementarsten Empfindungsvermögen des Pflanzenreichs, sogar auch des Mineralreichs, bis zur übermenschlichen Intelligenz, die noch entwickelt werden soll. Erscheinungsformen wie die menschliche Gestalt mit ihrem unvorstellbar komplizierten Gehirn können mit neuen Arten von Intelligenz wirken, die weit über frühere einfache Formen hinausgehen. Die Entwicklung schreitet voran, um immer sensitivere Formen hervorzubringen, durch die höhere Bewusstseinsstufen und damit höhere Grade des Göttlichen Geistes sich manifestieren können." ( S. 151)

Gegenwärtiges Stadium

Blavatsky stellt die menschliche Fähigkeit zur Selbsterkenntnis in einen evolutionären Rahmen: Im siebenfältigen Spektrum der menschlichen Konstitution zieht sich ein Leitfaden durch die verschiedenen Stufen und Facetten des Bewusstseins, deren Entfaltung vor dem Hintergrund von Reinkarnation und Karma durchaus einsichtig ist. Die modernen Wachstumspsychologien sind mehr oder weniger ein Widerhall der Impulse, ein Ausarbeiten der ,Landkarte', die Blavatsky hundert Jahre zuvor skizziert hat.
Betrachten wir unsere gegenwärtige Bewusstseinslage, so scheint es, dass die Menschheit offenbar an einer kritischen Stelle ihrer Entwicklung angekommen ist. Die Emotional-Natur (Gefühle, Wünsche, Leidenschaften) ist voll entfaltet, ihr zur Seite steht ein immer mehr entwickelter und trainierter Intellekt (als möglicher Erfüllungsgehilfe?) - ein Stadium, das zu wenig erfreulichen, teilweise bedrohlichen Entwicklungen führen kann. „Wir sind Riesen an Intellekt, aber Zwerge an Herz", charakterisierte der Inder Gopi Krishna den gegenwärtigen Entwicklungsstand. Blavatsky fasste den Entwicklungsschritt, der vor uns liegt, in den Worten zusammen:

„Der Wogenkamm des intellektuellen Fortschritts muss in Spiritualität übergeleitet werden."

Vielleicht ist das der Grund, warum in den Werken Blavatskys ein so tiefgründiger Blick in die Weisheitstradition der Menschheit gewährt wurde.

(Schluss folgt)
 
1H. P. Blavatsky, Der Schlüssel zur Theosophie, übers. v. Hank Troemel, Satteldorf, 3. Aufl. 1995, S. 210f.
 
2 Johann Ch. Hampe, Sterben ist doch ganz anders, Zürich 1975, S. 92
 
 
4 S. Cranston, Leben und Werk der Helena Blavatsky, Satteldorf 1995, S. 168f
 
5 Veröffentlicht in Theosophie heute, Jg. 2002, Heft 3 bis Jg. 2003, Heft 2
 
6 Vgl. Fußnote 4, a. a. O. S. 545
 
7 Daisetz T. Suzuki, The Field of Zen, London 1989, S. XIII
 
8 M. K. Gandhi, Autobiography - The Story of my Experiments with Truth, Boston 1948, S. 321
 
9 s. Übersetzung von Sylvia Botheroyd in ihrer Blavatsky-Anthologie Theosophie und Geheimwissenschaft, München, 1995, S. 38f (vgl. auch Isis Entschleiert, übers. u. zusammengestellt v. H. Troemel im Aquamarin Verlag 2003. - Gesamtausgabe: Verlag Esoterische Philosophie, Hannover)
 
10 Die Geheimlehre, neu übersetzt und zusammengestellt von H. Troemel in der Studienausgabe, Satteldorf 1999. - Gesamtausgabe: Verlag Esoterische Philosophie, Hannover 2000.
 
11 Echoes of the Orient, Bd. I, S. 237. Es versteht sich von selbst, dass diese Mahatmas nicht mit den Gestalten und Karikaturen zu verwechseln sind, die heutzutage auf esoterischen Bühnen paradieren. Siehe auch „Die großen Weisen" in Theosophie heute 3/2002.
 
12 Vernon Harrison „ J'accuse, An Examination of the Hodgson Report of 1885", Journal of the Society for Psychical Research, London, April 1986, S. 309f
 
13 Vgl. die Forschungen von David Reigle in der Studienausgabe der Geheimlehre a.a.O. S. 530 ff.
 
14 Übersetzt v. S. Botheroyd, a. a. O. S. 174 f.
 
15 Interview von B. Rohan, Detroit Free Press, 25. Okt. 1983, zit. S. Cranston, Leben und Werk der H. Blavatsky, a. a. O. S. 537
 
16 Übersetzt v. S. Botheroyd, a. a. O. S. 175
 
17 „Leben und Geist im Universum", zitiert in S. Cranston, Leben und Werk der H. Blavatsky, a. a. O. S. 530
 

 



Autor: Charlotte Wegner