Spiritismus durchleuchtet - unverminderte Aktualität

Das theosophische Weltbild, wie es von Blavatsky dargelegt wurde, bringt eine klare Beantwortung der grundlegenden Fragen des menschlichen Daseins: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich hier? - und zwar nicht als blinder in Dogmen gefasster Glaube, sondern als ein philosophisch umfassendes und in sich kohärentes System, dessen Wahrheitsgehalt von jedem erforscht und je nach den Bedingungen, die er mitbringt, erkannt werden kann. Im Schlüssel zur Theosophie, einem Kompendium theosophischer Lehren in Frage und Antwort (einer damals beliebten literarischen Form) wird das theosophische Weltbild gegenüber einem im christlich dogmatischen Denken beheimateten Fragesteller argumentativ erläutert.
Das detaillierte Inhaltsverzeichnis spiegelt die Vielfalt und Aktualität der behandelten Themen, wie z. B. Evolution und Illusion - Siebenfältiger Aufbau unseres Planeten und des Menschen - Unterschied zwischen Seele und Geist - Die verschiedenen Zustände nach dem Tode - Warum wir uns nicht an vergangene Leben erinnern - Über das Bewusstsein nach dem Tode und nach der Geburt - Die Natur des Denkprinzips - Der Unterschied zwischen Theosophie und Spiritismus - Was ist Karma? - Praktische Theosophie -Pflicht - Selbstaufopferung usw.

Angesichts der oft kritiklosen Akzeptanz von Channeling und Mediumismus sind Blavatskys Ausführungen über Spiritismus aufschlussreich, insofern als sie erkennen lassen, was möglicherweise tatsächlich hinter dem Schleier der physischen Wahrnehmung vorgeht. Ein anschauliches Fallbeispiel beschreibt Blavatsky in einem Brief an ihre Schwester Vera, in welchem sie „den grausigen Aspekt dieser Sitzungen" schildert, „indem nämlich die Gedanken der Anwesenden die sich auflösenden Reste vom Astralkörper der Verstorbenen anziehen, die von der Seele abgestoßen werden, während diese zu höheren Bewusstseinszuständen aufsteigt."

„Je mehr Medien ich sehe ..., desto deutlicher erkenne ich die Gefahr, die die Menschheit umgibt ... Du wirst Dich an die Experimente erinnern, die ich für dich in Rugodevo anstellte, wie oft ich die Geister derer sah, die einst in dem Haus gewohnt hatten, und sie Dir beschrieb, da Du sie selbst nie sehen konntest ... Nun, so war es auch hier in Vermont ... Ich sah und beobachtete diese seelenlosen Geschöpfe, die Schatten irdischer Körper, denen Seele und Geist meistens schon längst entflohen waren, die aber ihre halb-materiellen Schatten bewahrten, (indem sie sie aus den Lebensenergien) von Hunderten von Besuchern speisten, die kamen und gingen, wie auch aus den Energien der Medien ... Es war gespenstisch, diesen Vorgang mitanzusehen! Es bereitete mir oft Übelkeit und Schwindelgefühle ... ich konnte nichts anderes tun, als mir die abscheulichen Wesen auf Armeslänge vom Leibe zu halten. Aber es war eine Sehenswürdigkeit, wie all die Spiritisten diese umbrae (Schatten) freudig begrüßten! Sie vergossen Tränen und jubelten im Kreis um das in diese leeren materialisierten Schatten gekleidete Medium ... Wenn sie nur sehen könnten, ... wenn sie nur wüssten, dass diese Schattenbilder von Männern und Frauen allein aus den irdischen Leidenschaften, Lastern und weltlichen Gedanken, aus den Rückständen der Persönlichkeit bestehen, die einmal gelebt hatte; es ist nur wertloser Abschaum, der der befreiten Seele und dem befreiten Geist nicht folgen konnte und für ein zweites Sterben in der irdischen Sphäre zurückgelassen wurde, der dem Durchschnittsmenschen und dem Publikum sichtbar wird." 4

Blavatsky leugnet nicht, dass es auch Ausnahmen gibt; doch die echte Verbindung zu einem geliebten Menschen über das Grab hinaus manifestiert sich für sie auf andere Weise. Ausführlich erörtert sie die gesamte Thematik im Schlüssel (Kap. II, VII - IX), wo es u. a. heißt: „Reine göttliche Liebe hat ... ihre Wurzeln in der Ewigkeit ... Liebe über das Grab hinaus hat ... eine magische göttliche Kraft, die auf die Lebenden einwirkt ... Sie wird sich in ihren Träumen und oft auch in verschiedenen Ereignissen zeigen, wo sie erleben werden, dass sie gewissermaßen von der Vorsehung beschützt werden und Unheil entrinnen, denn Liebe ist ein starker Schild und nicht von Raum und Zeit begrenzt." „Karma wird früher oder später all jene, die einander in einer solch spirituellen Zuneigung liebten, wieder in der gleichen Familiengruppe zur Inkarnation bringen." ( S. 197)

Neue Perspektiven in Literatur, Kunst und Religion

Silvia Cranston untersucht in ihrer hervorragenden Blavatsky-Biographie, die sich durch umfassendes Quellenstudium und natur- und geisteswissenschaftliche Blickweite auszeichnet, die Einflüsse, die von Blavatskys Schriften auf die künstlerische und literarische Avantgarde ihrer Zeit ausgingen. Auf dieser Grundlage aufbauend, beleuchtet Dr. Helen Westgeest von der Universität Amsterdam die „Beziehungen zwischen Theosophie und abstrakter, immaterieller' Malerei" in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden.5
Die Wirkung, die in philosophisch-religiöser Sicht von Blavatsky ausging, lässt sich am Beispiel des irischen Dichters W. B. Yeats ablesen, der beklagte, dass die materialistischen Biologen und Physiker wie Darwin, Huxley u. a. ihn der Religion seiner Jugend beraubt, ihm aber ihm nichts anderes dafür gegeben hätten. „Sein Intellekt und ihre Lehren zwangen ihn," so Prof. W. Y. Tindall, „den Materialismus zu akzeptieren, aber er war unglücklich damit und sehnte sich nach etwas, was die ständigen irrationalen Sehnsüchte seiner Seele befriedigen konnte. Die Irische Kirche konnte es nicht mehr ... In diesem Dilemma entdeckte er die Theosophie, die seiner Seele die ersehnte Erweiterung bot, ohne Widerspruch zu seinem Intellekt."6 Blavatsky zeigte einen Ausweg aus dem allseits wachsenden Skeptizismus gegenüber allem Metaphysischen und Religiösen. Religion ist nach ihrer Sicht nicht blinder Glaube an einen außerweltlichen anthropomorphen Gott; sie ist vielmehr ein in allen großen Religionen zu findendes Echo einer spirituellen Wirklichkeit, zu der ein jeder Mensch in seinem Innersten Zugang hat. Das hat nichts mit Selbsterlösung zu tun, sondern richtet vielmehr den Blick des einzelnen auf den gemeinsamen allgegenwärtigen Quellgrund, der Wesensgrund aller Menschen ist und damit auch Basis aller wahren Ethik. Was wir anderen antun, tun wir uns selbst an. Das Unrecht, einem Glied der menschlichen Familie zugefügt, verletzt alle (vgl. Schlüssel, Kap. II).

Die Vorstellung von der Menschheit als einer großen Familie, die durch unzählige Fäden miteinander verbunden ist, beginnt langsam in das allgemeine Bewusstsein zu dringen. Auf der essentiellen Einheit aller Menschen fußt das Hauptziel der 1875 von Blavatsky und anderen gegründeten Theosophischen Gesellschaft (Bildung eines Kerns einer die ganze Menschheit geistig umfassenden Bruder- und Schwesternschaft).

Die hohen ethischen Prinzipien und Gebote der Religionsstifter (Güte, Nächstenliebe, Selbstverleugnung und Opfer) erscheinen hiermit in neuem Licht: sie sind nicht von außen herangetragene Forderungen eines fernen Gottes, sondern Ausdruck der transzendenten Natur eines jeden Menschen, deren Entfaltung wahre Selbstfindung ist.

Selbstverwirklichung - die „Stimme der Stille"

Jesus Christus, Gautama Buddha u.a. sind die strahlenden Leuchten und Zeugen dieser Selbstverwirklichung, wobei das Wort „Selbst" einen neuen Sinn erhält, der allumfassend ist. Der Weg dahin, hier Nachfolge, dort Pfad genannt, wird von Blavatsky wunderbar klar dargestellt im Bodhisattva-Ideal der Stimme der Stille - drei Fragmente, die aus den verborgenen Überlieferungen eines tibetischen Klosters in den Westen gebracht wurden.
In poetischer Sprache sind im erstenFragment die inneren Wandlungen beschrieben, die notwendig sind, um die „Stimme der Stille" zu hören, im zweiten die Herzensweisheit, die im Unterschied zum Kopfwissen auf den Pfad führt, im dritten die Sieben Pforten (Paramitas), deren „Durchschreiten" endgültige Befreiung (aus der egozentrischen Verhaftung) bewirkt und den Menschen zu einem Bodhisattva werden lassen.
Es wird berichtet, dass der große buddhistische Philosoph und Zen-Meister D. T. Suzuki starr vor Staunen war, als er die Stimme der Stille zu Gesicht bekam und Blavatsky eine profunde Kenntnis des Mahayana-Buddhismus bescheinigte. Er war überzeugt, dass sie „unzweifelhaft auf irgendeinem Wege in die tieferen Aspekte des Mahayana-Buddhismus eingeweiht war."7
Je mehr sich dem Leser ein Verstehen dieser Texte erschließt, um so mehr ist er geneigt, jenen Recht zu geben, die die Stimme der Stille zu den kostbarsten Weisheitsschätzen der Menschheit zählen. War der Blick des Lesers bisher auf die eigene Religion eingeengt, die er für die einzig wahre hielt, so öffnet sich ihm der Sinn für den gemeinsamen Wahrheitskern, die allen Religionen zugrunde liegt.

Horizonterweiterung



Autor: Charlotte Wegner