Horizonterweiterung
In ihren großen Werken Isis Entschleiert und Geheimlehre führt H. P. Blavatsky den Leser auf die Spur einer universellen Weisheitsreligion, die in den verschiedenen Religionen und Überlieferungen, besonders denen des fernen Ostens, mehr oder weniger klar durchscheint. Sie erweitert den Horizont zu dem spirituellen Erbe der Menschheit, das Jahrhunderte hindurch missachtet, ignoriert, verdreht oder gar eliminiert wurde und schließlich Gefahr lief, völlig vergessen zu werden - unter dem Monopolanspruch einer einzigen, institutionalisierten Religion, die sich im Alleinbesitz der Wahrheit dünkt.
Blavatsky legt dar: Frühere und andere Religionen bergen Teile der Wahrheit; ihre Mysterien hüten Geheimnisse über die verborgene Natur von Kosmos und Mensch. Nicht nur die christliche Religion kündet von der Geburt eines göttlichen Kindes. Die Zustände nach dem Tode, ,Himmel' und ,Hölle', waren im alten Ägypten, und nicht nur da, wohlbekannt - die Reihe ließe sich fortsetzen.
Christlicher Missionseifer und koloniale Überfremdung hatten bei vielen Völkern Glauben und Vertrauen in die eigenen spirituellen Traditionen schwinden lassen. Die Wende, die Blavatsky einleitete, wird am Beispiel Gandhis deutlich. Dieser lernte nicht in Indien, sondern erst in London durch Vermittlung theosophischer Freunde, zweier Brüder, das Weisheitsbuch seines Volkes, die Bhagavad Gita, kennen:
„Sie sprachen mit mir über die Gita ... und luden mich ein, das Original gemeinsam zu lesen. Ich empfand Scham, denn ich hatte diese göttliche Dichtung weder im Sanskrit noch in Gujarati gelesen ..." Dieses Buch wurde bekanntlich zum wichtigsten Buch seines Lebens, auf dem er seine Politik der Gewaltlosigkeit (ahimsa) aufbaute. Nicht zu unterschätzen auch die Wirkung, die der Schlüssel zur Theosophie auf ihn ausübte: „Ich erinnere mich, dass ich auf Veranlassung der Brüder Madame Blavatskys Schlüssel der Theosophie gelesen habe. Dieses Buch entfachte den Wunsch in mir, Bücher über den Hinduismus zu lesen und befreite mich von der durch die Missionare genährten Vorstellung, der Hinduismus sei voller Aberglaube."8
"Isis Entschleiert" (1877) und „Geheimlehre" (1888)
Köstlich die Ironie, mit der Blavatsky die vermeintliche Überlegenheit ihrer Zeit kommentiert.9 Mit unglaublichem Mut reißt sie Fassaden angeblicher Gelehrsamkeit ein und enthüllt dabei eine Vielfalt okkulten (d. h. verborgenen) Wissens: die Umrisse einer, wie sie sagt, okkulten Wissenschaft, die jenseits des physischen Schleiers, eine komplexe und umfassende Sicht von Mensch und Kosmos beinhaltet. Im Unterschied zur Isis, die die einzelnen Spuren uralter Weisheit in den verschiedenen Überlieferungen aufdeckt, bringt ihr Monumentalwerk, Die Geheimlehre, eine zusammenhängende Darstellung dieser Uralten Weisheit.10
Das Werk behandelt im e r s t e n Band kosmische und menschliche Evolution in ihren ersten Anfängen: wie Welten entstehen oder vielmehr, wie sie nach einer Zeit der Ruhe wiedergeboren werden, und wie sich unser Globus und seine niedrigeren Bereiche bis zu der Zeit entwickelten, als die menschliche Form entstand.
Es behandelt im z w e i t e n Band die weitere Entwicklung dieser Form, das Aufleuchten des Bewusstseins durch die Inkarnation menschlicher Seelen aus früheren Welten, die darauffolgende Evolution der frühen Menschengeschlechter bis zur heutigen Zeit und deren mögliche zukünftige Entwicklung.
Schöpfungsmythen der Völker werden herangezogen und in ihrem tieferen Sinngehalt erläutert, untergegangene Kontinente und Zivilisationen wie Atlantis, Lemurien u.a. beleuchtet, die Entwicklung der Menschheit in ihren früheren, feinerstofflichen Zuständen und den Phasen zunehmender Verdichtung dargestellt (was Plato nur in Bildern beschreibt: Seelenvogel, Verlust der Schwingen und Gefangensein im Körper, Trennung der Geschlechter). Der Blick senkt sich in schier unermessliche Zeiträume; gleichzeitig werden die Spuren des Wissens, sowohl in den spirituellen Traditionen des Ostens als auch denen des Westens, insbes. der pythagoreisch-(neu)platonischen Philosophie (dem „letzten Hort der Weisheitsreligion") offenbar.
Die Geheimlehre fußt, so erklärt Blavatsky, auf der „gesammelten Weisheit der Zeitalter". Sie betont, dass dies kein von ihr erfundenes spekulatives System, keine Einbildung einzelner Menschen sei. „In der Tat handelt es sich um die lückenlosen Aufzeichnungen Tausender Generationen von Sehern." Von ihr stamme nur das Band, das diesen Blumenstrauß zusammenhält (Studienausgabe, Satteldorf 1999, S.69, 201).
Autor: Charlotte Wegner