Helena P. Blavatsky (1831 -1891)

Welche Impulse hat sie gegeben?
Welche Perspektiven hat sie eröffnet?
 
Charlotte Wegner
(Fortsetzung und Schluss)
 

Erkenntnisprozesse statt endgültiger Erklärungen

Bei einer Betrachtung der Impulse, die von H. P. Blavatsky ausgingen, sollten die Anregungen, die sie zum Studium ihres Hauptwerkes gab, nicht unberücksichtigt bleiben, zumal sich mancher Leser von der unerwarteten Weite der Perspektive und der komplexen Fülle des Dargebotenen überwältigt, wenn nicht gar irritiert fühlen mag.
 
Ein Zeitgenosse Blavatskys, Robert Bowen, hat die Hinweise der Autorin über die Art und Weise, wie man an die Geheimlehre herangehen sollte, aufgezeichnet. Sie sind insofern interessant, als sie indirekt und im Einklang mit Blavatskys Zielsetzung wiederum Impulse zur Entfaltung höheren Erkennens geben. Sie stellen zudem klar, dass mit den Inhalten der Geheimlehre nicht fertige Konzepte verabreicht werden, sondern Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt werden sollen, die im Leser selbst den Weg in Richtung auf ein Erfassen der Wahrheit bahnen. In diesem Zusammenhang fällt auch ein Licht auf spätere Interpretationen und Erklärungsversuche der Geheimlehre, ihren relativen und begrenzten Wert, so nützlich sie zuweilen auch sein mögen.
 
Der Bedeutung dieser Anweisungen entsprechend scheint es angemessen, sie
in ihren Hauptpunkten nachfolgend aufzuführen.
 
„Wenn man die GL wie jedes andere Buch einfach durchliest, ... dann kann das Ergebnis nur verwirrend sein. Zu allererst muss man lernen, die drei fundamentalen Lehrsätze (im „Proem") zu verinnerlichen, selbst wenn das Jahre (!) dauern sollte.
 
Dann nehme man sich die Rekapitulation vor, das sind die numerierten Absätze in der „Zusammenfassung" des ersten Buches (1. Teil). Danach sollten die „Einleitenden Anmerkungen" und die „Schlussbetrachtung" des zweiten Bandes gelesen werden ...
 
Sie sprach sehr ausgiebig über die FUNDAMENTALEN LEHRSÄTZE und sagte, die Erwartung, das Studium der Geheimlehre könne eine befriedigende Vorstellung von der Konstitution des Universums vermitteln, müsse in Frustration enden (!). Das Werk sei nicht mit dem Vorsatz geschrieben worden, eine solch endgültige Erklärung über das Dasein abzugeben, sondern ZUR WAHRHEIT ZU FÜHREN.
Sie wiederholte diese Worte mehrmals.
 
Weiter sagte sie, dass es völlig nutzlos sei, sich mit der Bitte um „Interpretationen" der GL an andere zu wenden, die wir für fortgeschrittene Schüler halten (!). Sie seien dazu nicht in der Lage.
 
Wenn sie es versuchten, dann würden sie nichts anderes als vorgefertigte exoterische Darstellungen von sich geben, die nicht das Geringste mit der WAHRHEIT zu tun hätten. Wer solchen Interpretationen glaube, klammere sich an fixe Ideen; die WAHRHEIT aber liege jenseits aller Ideen, die von uns formuliert oder ausgedrückt werden können (!).
 
Exoterische Interpretationen haben für H.P.B. eine gewisse Berechtigung, und sie verwirft sie nicht, solange sie als Hilfsmittel für Anfänger dienen und die Lernenden ihnen keine höhere Bedeutung beimessen."
 
Für jene, die das „Potential" haben, „sich über die allgemeine Bandbreite exoterischer Vorstellungen hinaus weiterzuentwickeln", empfiehlt sie folgende Vorgehensweise:
 
„Befasse dich mit der GL, ... ohne das Verlangen, in ihr letztendliche Wahrheiten über das Dasein zu finden und ohne irgendwelche anderen Vorstellungen, außer einer einzigen, nämlich, wie weit sie dich zur Wahrheit HINFÜHREN wird.
 
Sieh in ihrem Studium einen Weg, auf dem du deinen Verstand so schulen und entwickeln wirst, wie es durch keine anderen Studien jemals möglich wäre, und beachte die folgenden Regeln.
 
Welchen Teil der GL man auch studiert, der Geist muss dabei als Grundlage für seine Ideenbildung immer an den folgenden Ideen festhalten:
 
1. DIE GRUNDLEGENDE EINHEIT ALLEN SEINS
Diese Einheit ist etwas ganz anderes als die gewöhnliche Vorstellung, die man von dem Begriff der Einheit hat, z. B. wenn wir von der Einheit einer Nation ... sprechen ... Darum geht es in dieser Lehre nicht. In ihr geht es darum, dass das Dasein eins ist, also nicht eine Ansammlung von zusammenhängenden Dingen, sondern EIN DING ... Sowohl separat als auch kollektiv sind Atom, Mensch und Gott in letzter Konsequenz - also in ihrer WAHREN INDIVIDUALITÄT - Absolutes Sein. Vernachlässigt man diesen Grundsatz dann gewinnt die Vorstellung des GETRENNTSEINS die Oberhand, und dadurch wird das Studium wertlos.
 
2. ... ES GIBT KEINE TOTE MATERIE: Jedes Atom lebt...
 
3. Der dritte unverzichtbare Grundsatz besagt, dass der Mensch der MIKROKOSMOS ist. Und weil das so ist, existieren in ihm alle Hierarchien der Himmel. Aber in Wirklichkeit gibt es nicht Makrokosmos und Mikrokosmos, sondern EIN DASEIN. Nur in der Betrachtungsweise eines begrenzten Bewusstseins gibt es scheinbar Großes und Kleines.
 
4. Der ... letzte Grundsatz, der immer bedacht werden muss, wird in dem großen hermetischen Axiom ausgedrückt. Er fasst alle anderen Grundsätze zusammen und ist ihre Synthese. Wie innen, so außen; wie das Große, so das Kleine; wie oben, so unten: Es gibt nur EIN LEBEN UND GESETZ.
 
Ich (Bowen) sagte, dass eine solche geistige Disziplin wohl extrem anstrengend sein müsse.
 
HPB lächelte und nickte: „Man darf nicht so unvernünftig sein, sich am Anfang gleich zu viel zuzumuten ...
 
Jede normale gedankliche Tätigkeit bewegt sich auf bereits erschlossenen Bahnen des Gehirns...
diese neue Art geistiger Anspannung verlangt ... das Betreten, neuer Gehirnwege' und eine Neuordnung der bisherigen Arbeitsweise des Gehirns...
 
Diese Art des Denkens wird in Indien Jnana Yoga genannt..."1
 
In den Meister-Briefenheißt es: „Wahres Wissen ist vom Geist und im Geist allein und kann auf keinem anderen Wege erworben werden als durch die Region des höheren Denkens".2 Die Ausführungen Blavatskys mit ihrem Schwerpunkt auf EINHEIT machen deutlich, dass dieses „höhere Denken" synthetisches Erkenntnisvermögen, die Fähigkeit synthetischer Schau beinhaltet. Im Unterschied dazu ist unser jetziges Denken überwiegend analytisch, d. h. trennend, „sezierend".
 
In poetischer Form kommt dieser Bewusstseinszustand in einem Gespräch zwischen Meister und Schüler zum Ausdruck, das die Geheimlehre aus einem alten „Katechismus" östlicher Tradition zitiert:
 
„Erhebe dein Haupt, o Lanu,
siehst du eines oder zahllose Lichter über dir
am dunklen Mitternachtshimmel erstrahlen?"
„Ich nehme eine Flamme wahr, o Gurudeva,
ich sehe zahllose ungetrennte Funken in ihr leuchten."
 
„Du sprichst richtig.
Und jetzt blicke um dich und in dich selbst.
Empfindest du das Licht, das in dir brennt,
in irgendeiner Weise verschieden von dem Licht,
das in deinen Menschenbrüdern leuchtet?"
 
„Es ist in keiner Weise verschieden,
wenn auch der Gefangene von Karma in Fesseln gehalten wird
und seine äußeren Gewänder den Unwissenden täuschen,
so dass er sagt: „Deine Seele und meine Seele'."3
 
 
 
Die Geheimlehre, Adyar Studienausgabe, S. 33-35
 
2  Die Mahatma-Briefe, hrg. N. Lauppert, Graz 1977, Bd.1, S.163
 
3  Die Geheimlehre, Bd. 1, S. 145 (Ausgabe Verlag J. J. Couvreur, Den Haag)
 
 


Autor: Charlotte Wegner