Die nachfolgende Studie über Karma zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur, von (damals) aktuellen Ereignissen ausgehend, auf frühere karmische Ursachen zurückblendet, sondern auch die tiefgreifende Transformation, die sich im Erleiden der Folgewirkungen im Menschen vollziehen, aufzeichnet. Der Leser erhält Einblick in die subtilen psychologischen Prozesse, die sich unter der Wirkung eines schmerzvollen, äußerlich tragischen Schicksals entfalten können, ihn gleichzeitig aber auch für das Licht seiner höheren Natur empfänglich machen. Man kann diese Studie als ein literarisches Werk Blavatskys lesen, wird im Laufe der Lektüre jedoch feststellen, insbes. im Rückblick nach zwei Weltkriegen, dass die Verfasserin hier eine Zukunftsvision beschreibt, die einen tatsächlichen Hintergrund hat.

(Ch. Wegner)
 

Vorbemerkungen von Boris de Zirkoff

Diese ungewöhnliche prophetische Studie über das Wirken des Karmagesetzes in der europäischen Geschichte vom 5. Jahrhundert an wurde 26 Jahre vor dem 1. Weltkrieg von H.P.B, niedergeschrieben.

Obwohl es nicht ausdrücklich behauptet wird, geht es doch aus der Erzählung, in der H.P.B. das Leben und die Leiden Kaiser Friedrichs III. von Deutschland schildert, recht klar hervor, dass er dieselbe Individualität war, die früher den Körper Chlodwigs, des Königs der Franken, bewohnte. Die Geschichte wurde im gleichen Monat veröffentlicht, als Kaiser Friedrich III. nach einer kurzen Regentschaft von nur 99 Tagen starb.

In der Januar-Ausgabe des „Lucifer" des Jahres 1888 hatte H.P.B. in ihrem Neujahrsartikel geschrieben:

„Es ist nicht wahrscheinlich, dass zu jenen, die unter solcher düsteren Zahl wie 1888 für die Wahrheit leben, viel Glück oder Wohlstand kommen kann, aber trotzdem wird das Jahr durch den glorreichen Stern Venus-Lucifer eingeleitet, der so glänzend scheint, dass er irrtümlich für jenen stillen aber selteneren Besucher, den Stern von Bethlehem, gehalten wird. Dieser ist auch in der Nähe; und sicher muss etwas vom Christusgeist unter solchen Voraussetzungen auf Erden geboren werden."

In der Januar-Ausgabe ihrer Zeitschrift vom Jahre 1889 hatte sie zu sagen: „Vor einem Jahr wurde behauptet, dass 1888 eine düstere Zahlenverbindung sei. Das hat sich seither auch als richtig erwiesen. Fast jede Nation wurde durch irgendeine unheilvolle Katastrophe heimgesucht. Deutschland fiel besonders auf. Im Jahre 1888 erreichte das Kaiserreich eigentlich sein 18. Jahr der Vereinigung. Unter der todbringenden Verbindung der vier Achten verlor es zwei seiner Kaiser und legte die Saat für viele unheilvolle karmische Auswirkungen."

Hier wird auf den Tod des Kaisers Wilhelm I., der am 9. März 1888, und des Kaisers Friedrich III., der am 13. Juni desselben Jahres starb, angespielt.

In Verbindung mit der vorliegenden Geschichte sollten auch die nachfolgenden Bemerkungen H.P.B.'s nicht vergessen werden. Sie erschienen in ihrem Essay über die Natur der Träume, der im Jahre 1890 veröffentlicht wurde ... Sie sagt:

„... Unsere Träume' die (zu bestimmten Zeiten) einfach der Wachzustand und die Handlungen des wahren Selbstes sind, müssen natürlich irgendwo aufgezeichnet werden. Lies ,Karmische Visionen' im „Lucifer" und beachte die Beschreibung des wahren Ichs, das wie ein Zuschauer das Leben des Helden betrachtet, und dir wird vielleicht manches klar werden. Vom Kapitel II an wird in der Geschichte „Karmische Visionen" ein sehr klarer Unterschied zwischen der „Seele" und dem „Körper" (engl. "form") gemacht, in der sie wiedergeboren wurde. Es scheint, dass an einem Punkte ihres Lebens als Chlodwig die Seele, die die „Form" bewohnte, durch das Aufwallen eines alten, wilden Naturtriebs veranlasst wurde, eine zum heidnischen Glauben gehörende Seherin zu ermorden, indem sie ihr eine Schwertspitze durch die Kehle stieß.

In der Jahrhunderte später erfolgten Wiederverkörperung als Friedrich III. erntet die Seele ihre karmische Frucht durch einen „Körper", der wegen eines unheilbaren Kehlkopfkrebses schließlich die Sprache verliert. Die Krankheit gab keiner der bekannten Behandlungsweisen nach, und es könnte angenommen werden, dass die Wesenheit das entstellte Bild ihres früheren Opfers in ihr eigenes Gemüt (engl. mind) - und deshalb in ihren astralen Modellkörper - eingeprägt hatte.

Dem ernsthaft Studierenden wird geraten, bevor er H.P.B.'s erstaunliche Geschichte liest, die biographischen Skizzen über Chlodwig und Friedrich III. ... im bibliographischen Index dieses Bandes durchzulesen.

(Diese lauten wie folgt [Collected Writings, IX, S. 409f. u. 417f.]:)

Chlodwig (ca. 466-511)

war der König der salischen Franken, der Sohn Childerichs I., dem er im Jahre 481 im Alter von 15 Jahren nachfolgte. Die salischen Franken waren bis dahin bis zur Somme vorgedrungen und wurden bei Tournai zusammengezogen. Von den ersten wenigen Jahren seiner Regentschaft wissen wir fast nichts. 486 besiegte er den römischen Feldherrn Syagrius in der Schlacht bei Soissons und erweiterte sein Reich durch die Zweite Belgische Provinz, deren Hauptstadt Reims war. 493 heiratete Chlodwig eine burgundische Prinzessin, Clotilde, die eine Christin war. Obgleich er erlaubte, dass seine Kinder getauft wurden, blieb er selbst Heide bis zum Krieg gegen die Alemannen. Nachdem er einen Teil von ihnen unterworfen hatte, ließ er sich am Weihnachtstag des Jahres 496 zusammen mit einer großen Anzahl von Franken in Reims von Remigius (Bischof später heilig gesprochen, Red.) taufen. Das war ein gewichtiges Ereignis, weil die orthodoxen Christen im Königreich der Burgunder und der Westgoten auf Chlodwig als den kommenden Befreier von ihren arianischen Königen schauten. Im seinem Krieg gegen die Westgoten hatte er mehr Glück. Er besiegte ihren König Alarich II. im Jahre 507 und fügte das Königreich der Westgoten bis zu den Pyrenäen dem Reich der Franken hinzu.

Die letzten Lebensjahre verbrachte Chlodwig in Paris, das er zur Hauptstadt des Königreichs machte. Dort errichtete er die Dynastie der Merowinger-Könige. Er kann mit Recht als der wahre Gründer des fränkischen Königreichs angesehen werden, des ersten Königreichs, das aus den Trümmern des römischen Imperiums hervorging. Zwischen den Jahren 486 und 507 ließ er das salische Recht einführen. Seinen Erfolg verdankte er zum großen Teil der Verbindung mit der Kirche, deren Besitz er unter seinen Schutz stellte. Im Jahre 511 berief er in Orleans ein Konzil ein. Indem er die Kirche schützte, hielt er gleichzeitig seine Herrschaft über sie aufrecht. Er war energisch und ehrgeizig, hatte wenig Skrupel und nicht viel Mitleid, wenngleich auch eine edlere Seite seines Charakters zu finden ist.

Friedrich III.,

König von Preußen und Deutscher Kaiser, geboren am 18.10.1831 in Potsdam als ältester Sohn des Prinzen Wilhelm von Preußen, des späteren ersten Deutschen Kaisers, und der Prinzessin Auguste. Nach einer sorgfältigen Erziehung studierte er an der Universität Bonn von 1849-50. Die nächsten Jahre widmete er militärischen Studien und Reisen in der Begleitung Moltkes. 1851 besuchte er England. Am 25. Januar 1858 heiratete er in London die Kronprinzessin Viktoria von Großbritannien. Mit der Thronbesteigung seines Vaters im Jahre 1861 wurde er Kronprinz von Preußen und wurde unter dem Namen Friedrich Wilhelm bekannt. Er war in seinem Herzen freisinnig und lehnte Bismarcks Politik ab. Im Juni 1863 hörte er auf, die Staatsratssitzungen zu besuchen; und er war häufig von Berlin abwesend. Er leistete wertvolle Dienste während des Krieges gegen Dänemark und kommandierte 1866 eine Armee gegen Österreich. 1870/71 spielte er eine hervorragende Rolle und wurde dazu ernannt, die Armeen Süddeutschlands zu kommandieren. Seine Truppen nahmen an der Schlacht bei Sedan und der Belagerung von Paris teil.

Während der nachfolgenden Jahre gab es für ihn wenig Gelegenheit zu politischer Aktivität; er und seine Frau hatten großes Interesse an Kunst und Industrie, insbesondere an Museen. Er war hauptverantwortlich für die Ausgrabungen in Olympia und Pergamon. Als der Kaiser 1878 wegen der Folgen eines Attentates behindert war, wirkte er für einige Monate als Regent. Seine zukünftige Thronbesteigung wurde von vielen sehnlichst erhofft.

Unglücklicherweise entwickelte sich bei ihm Kehlkopfkrebs, dessen zunächst unscheinbare Geschwulst zu einer lebensgefährlichen Größe anwuchs. Nach verschiedenen erfolglosen Behandlungen wurde der berühmte englische Arzt Sir Morell Mackenzie am 18. Mai 1887 hinzugezogen. Im Juni 1887 machte Friedrich den Versuch, den Jubiläumsfestlichkeiten in London beizuwohnen. Nachdem er London im September verlassen hatte, ging er nach Toblach, Venedig und Ravenna. Am 3. November 1887 ließ er sich für die Wintermonate in San Remo nieder. Sir Morell besuchte ihn während dieser Zeit mehrere Male. Schließlich musste am 9. Februar 1888 ein Luftröhrenschnitt von Dr. Bramann in San Remo durchgeführt werden.

Am 9. März starb Kaiser Wilhelm, und Friedrich wurde Kaiser. Er reiste am 10. März von San Remo nach Charlottenburg. Seine sehr kurze Regentschaft war durch eine Anzahl liberaler Reformen gekennzeichnet, die Friedrich einzuführen versuchte, und die von den Anhängern Bismarcks scharf kritisiert wurden. Seine Krankheit verschlimmerte sich. Am 1. Juni 1888 ging er nach Potsdam, wo ihn Königin Viktoria besuchte. Friedrich starb am 15. Juni 1888 um 11 Uhr morgens nach einer Regentschaft von 99 Tagen.

Boris de Zirkoff

I

Die Seherin und der König

Ein Feldlager voller zweirädriger Streitwagen, wiehernder Rosse und Legionen langhaariger Soldaten ...

Ein Königszelt, farbenprächtig in seiner barbarischen Pracht. Seine Leinenwände werden von einer Last von Waffen niedergedrückt. In seiner Mitte erhebt sich ein erhöhter mit Fellen bedeckter Sitz. Und auf ihm sitzt ein robuster, wild ausschauender Krieger. Er lässt Kriegsgefangene nacheinander an sich vorüberziehen. Sie sind den Launen des herzlosen Despoten ausgeliefert.

Eine neue Gefangene steht jetzt vor ihm und redet ihn mit leidenschaftlichem Ernst an ... Wie er so auf sie hinhört mit verhaltener Leidenschaft in seinem männlichen, doch wilden grausamen Gesicht, rollen seine blutunterlaufenen Augen vor Wut. Und wie er sich so mit wild starrendem Blick vorneigt, seine ganze Erscheinung - seine über die finsteren Brauen hängenden glanzlosen Locken, sein grobknochiger Körper mit den starken Sehnen und die beiden großen Hände, die auf dem Schilde ruhen, der auf seinem rechten Knie liegt - alles das rechtfertigt die kaum hörbare Bemerkung, die ein grauhaariger Soldat seinem Nachbar ins Ohr flüstert.

„Wenig Erbarmen soll die heilige Seherin aus den Händen Chlodwigs empfangen!"

Die Gefangene, die zwischen zwei burgundischen Kriegern steht und dem gewesenen Prinzen der Salier, dem jetzigen König aller Franken, fest ins Auge blickt, ist eine alte Frau mit silberweißem, wirrem Haar, das über ihren knochigen Schultern hängt. Trotz ihres hohen Alters steht sie hoch aufgerichtet da, und ihre beseelten schwarzen Augen schauen stolz und furchtlos in das grausame Antlitz des verräterischen Sohns des Childerich.

„Ja, König," sagt sie mit laut tönender Stimme. „Ja, du bist groß und mächtig, aber deine Tage sind gezählt, und du sollst nur noch drei Sommer herrschen. Gottlos wurdest du geboren ... Treulos bist du gegenüber deinen Freunden und Verbündeten und raubst mehr als einem seine rechtmäßige Krone. Mörder deiner nächsten Verwandten, du, der du dem Messer und dem Speer im offenen Kampfe Dolch, Gift und Verrat hinzufügst, hüte dich, wie du mit der Dienerin der Nerthus umgehst!" („Die Ernährende" [Tacitus, Germania, 40] - die Erde, eine Muttergöttin, die gütigste Göttin der alten Germanen)

„Ha, ha, ha! ... alte Höllenhexe!" lacht der König mit einem üblen, drohenden, höhnischen Grinsen in sich hinein. „Du bist wahrlich aus den Eingeweiden deiner Muttergöttin herausgekrochen. Fürchtest du nicht meinen Zorn? Es ist gut. Aber ebenso wenig brauche ich deine leeren Flüche zu fürchten ... Ich bin ein getaufter Christ!"

„So, so," erwidert die Seherin. „Alle wissen, dass Chlodwig die Götter seiner Väter für immer verlassen hat; dass er allen Glauben an die warnende Stimme des Weißen Sonnenrosses verloren hat, und dass er aus Furcht vor den Alemannen kniend dem Remigius in Reims dient, dem Diener des Nazareners. Bist du aber in deinem neuen Glauben auch nur ein wenig wahrer geworden? Hast du nicht alle deine Brüder, die dir vertrauten, sowohl nach wie auch vor deinem Abfall kaltblütig ermordet? Hast du nicht Alarich, dem König der Westgoten, die Treue gelobt? Und hast du ihn nicht heimlich getötet, indem du ihm deinen Speer in den Rücken stießest, während er tapfer mit einem Feinde kämpfte? Und ist das dein neuer Glaube, sind das deine neuen Götter, die dich lehren, gerade jetzt in deiner schwarzen Seele Übles gegen Theoderich zu planen, der dich besiegte? ... Hüte dich, Chlodwig, hüte dich! Denn jetzt haben sich die Götter deiner Väter gegen dich erhoben! Hüte dich, sage ich, denn ..."

„Weib!", schreit der König wild - „Weib, höre auf mit deinem unsinnigen Geschwätz und beantworte meine Frage. Wo ist der Schatz aus dem Hain, den deine Satanspriester zusammengescharrt und versteckt haben, nachdem sie von dem Heiligen Kreuz vertrieben wurden? ... Du allein weißt es. Antworte, oder ich werde dir bei Himmel und Hölle deine böse Zunge für immer die Kehle hinunter stoßen!"...

Sie beachtet die Drohung nicht und fährt ruhig und furchtlos wie vorher zu reden fort, so als ob sie nichts gehört hätte.

„... Die Götter sagen, Chlodwig, du bist verflucht! ...

Chlodwig, du sollst unter deinen jetzigen Feinden wiedergeboren werden und die Qualen erleiden, die du deinen Opfern bereitet hast. Alle die zusammengeballte Macht und aller Ruhm, um die du sie beraubt hast, sollst du zum Greifen nahe haben, aber du sollst sie nie bekommen! ... Du sollst..."

Die Prophetin beendet ihren Satz nicht.

Der König duckt sich wie ein Raubtier auf seinem fellbedeckten Sitz, stürzt sich mit einem schrecklichen Fluch und dem Sprung eines Jaguars auf sie und streckt sie mit einem Schlag zu Boden. Und als er seinen scharfen, mörderischen Speer hebt, gibt die „Heilige" des sonnenanbetenden Volkes einen letzten Fluch von sich.

„Ich verfluche dich, Feind der Nerthus! Möge mein Schmerz dich zehnfach treffen! Möge das Große Gesetz rächen ..."

Der schwere Speer fällt, dringt durch die Kehle des Opfers und nagelt den Kopf am Boden fest. Ein Strom heißen, roten Blutes stürzt aus der klaffenden Wunde und bedeckt den König und die Soldaten mit unauslöschbarem Blut...
 
II

Wiedergeboren für Wohl oder Wehe ...

Die Zeit - das Wahrzeichen der Götter und Menschen in dem grenzenlosen Felde der Ewigkeit, die Mörderin ihrer Nachkommenschaft und der Erinnerung im Menschengeschlecht - die Zeit schreitet fort mit lautlosem, stetem Schritt durch Äonen und Zeitalter ... Unter Millionen anderer Seelen wird eine Seele wiedergeboren: für Wohl oder Wehe, gute oder schlechte Tage, wer weiß das! In ihre neue menschliche Gestalt gefangen wächst sie mit dieser, und sie werden sich schließlich beide gemeinsam ihres Daseins bewusst.

Glücklich sind die Jahre ihrer blühenden Jugend, ungetrübt durch Mangel und Sorge. Keins weiß etwas, weder von der Vergangenheit noch auch von der Zukunft. Für sie ist alles freudige Gegenwart. Die Seele weiß nicht, dass sie jemals in anderen menschlichen Leibern wohnte. Sie weiß nicht, dass sie einmal wieder verkörpert werden soll, und sie denkt nicht an morgen.

Sohn eines Prinzen, der dazu geboren wurde, eines Tages seines Vaters Königreich selbst zu regieren; der von der Wiege an von Ehrerbietung und Ehrungen umgeben ist und die allgemeine Achtung und Gewissheit der Liebe aller verdient, was könnte sich die Seele mehr wünschen für den Körper, in dem sie wohnt.

Und so fährt die Seele fort, sich in ihrem starken Horte des Daseins zu erfreuen und ruhig auf das Panorama des Lebens zu blicken, das sich vor ihren beiden Fenstern — den beiden gütigen, blauen Augen eines liebenden und guten Mannes — unaufhörlich verändert.

III

Instinkte des Kriegers aus alten Zeiten

Eines Tages bedroht ein anmaßender, ungestümer Feind das Königreich des Vaters. Und die wilden Instinkte des Kriegers aus alten Zeiten erwachen wieder in der Seele. Sie verlässt ihr Traumland inmitten der Blüte des Lebens, lässt das irdische Ich das Schwert des Soldaten ziehen und versichert ihm, dass es nur zur Landesverteidigung geschehe.

Durch gemeinsames, schnelles Handeln besiegen sie den Feind und bedecken sich selbst mit Ruhm und Ehren. Sie zwingen den hochmütigen Feind dazu, tief gedemütigt den Staub an ihren Füßen zu küssen. Dafür werden sie durch die Geschichte mit den unvergänglichen Lorbeeren der Tapferkeit gekrönt, den Lorbeeren des Erfolges. Sie überwältigen den besiegten Feind völlig und verwandeln das kleine Königreich ihrer Väter in ein großes Kaiserreich. Sie waren zufriedengestellt und konnten im Augenblick nicht mehr erreichen. Sie kehren in die Abgeschlossenheit und das Traumland ihrer stillen Heimat zurück.

IV

Schmerzenslager

Doch zu allen kommt ein schlechter Tag in dem Drama des Lebens. Er wartet auf seine Zeit sowohl im Leben des Königs als auch des Bettlers. Er hinterlässt seine Spuren in der Geschichte jedes Sterblichen, der von einem Weibe geboren wurde, und kann weder verjagt, noch flehentlich gebeten, noch günstig gestimmt werden. Die Gesundheit ist ein Tautropfen, der vom Himmel auf die Erde niederfällt, um die Blüten nur während des Lebensmorgens, während ihres Frühlings und Sommers zu beleben ... Sie ist nur von kurzer Dauer und kehrt wieder dahin zurück, woher sie kam - in die unsichtbare Welt.

Der rinnende Sand, der in dem Stundenglase des menschlichen Lebens nach unten rieselt, fällt schneller. Der Wurm hat die Blüte der Gesundheit im Innersten angenagt. Der starke Körper liegt eines Tages ausgestreckt auf dornenvollem Schmerzenslager.

Die Seele strahlt nicht mehr. Sie sitzt still und blickt traurig aus ihren Kerkerfenstern in die Welt, die sich für sie jetzt schnell in die Leichentücher des Leides gehüllt hat. Ist das der Vorabend der ewigen Nacht, die sich nähert?

V

Das Auge der Seele1 - ein anderes Licht
 
Schön sind die Erholungsplätze am Mittelmeer. Eine endlose Reihe von Wellen gepeitschter, schwarzer, schroffer Felsen, die von den goldenen Sandstränden der Küste und dem tiefblauen Wasser des Golfes eingefasst sind, breitet sich vor dem Blicke aus.

Lieblich ist der Morgen, wenn die Sonne aufgeht, alles golden färbt, und ihre Strahlen die Klippen des schönen Ufers küssen. Froh ist das Lied der Lerche, wie sie sich aus ihrem warmen Nest im Grase erhebt und den Morgentau aus den tiefen Blumenkelchen trinkt; wenn die Spitze der Rosenknospe unter der Liebkosung des ersten Sonnenstrahls erschauert und Himmel und Erde in gemeinsamem Gruße lächeln. Traurig ist nur die Seele, wie sie von ihrem hohen Ruhebett gegenüber dem großen Erkerfenster hinausschaut auf die erwachende Natur ...

Die Morgenlerche baut geschäftig ihr Nest in den Büscheln am Granatapfelbaume. Die rührige Sängerin verstummt.

„Ihre Stimme wird morgen wieder so freudig erschallen wie heute!" seufzt die Seele; und sie lauscht auf das ersterbende Gesumm der Insekten auf dem grünen Rasen. „Wird meine Stimme je das gleiche tun?"

Und nun bewegt die mit Blumenduft erfüllte Brise ganz schwach die müden Köpfe der üppigen Pflanzen. Das Auge der Seele erfasst nun eine einsame Palme, die aus der Spalte eines moosbedeckten Felsens herauswächst. Ihr einst aufrecht stehender, walzenförmiger Stamm wurde von den nächtlichen Böen der Nordweststürme umgedreht und halb abgebrochen. Müde streckt die Palme ihre herabhängenden, gefiederten Zweige von sich, die in der blauen, durchsichtigen Luft hin und her schaukeln. Ihr Körper zittert und droht beim ersten neuen Windstoß, der sich erheben kann, zu zerbrechen. „Und dann wird der abgerissene Teil ins Meer fallen und die einst so stattliche Palme wird nicht mehr sein," sagt die Seele zu sich selbst, als sie so traurig aus ihrem Fenster schaut.

So gleitet ein Tag nach dem andern vorüber. Und wie die eilende Zeit ihren Flug vorantreibt, so zerstört jede dahinschwindende Stunde einen Faden im Gewebe des Lebens. Die Seele wird in ihren Ansichten über Dinge und Menschen nach und nach gewandelt. Hin und her flatternd zwischen zwei Ewigkeiten, weit weg von ihrem Geburtsort, einsam unter einer großen Zahl von Ärzten und Dienern, wird die niedere Seele mit jedem Tag näher an ihre spirituelle Seele herangezogen. Ein anderes Licht, das sich in Tagen der Freude nicht näherte und auch nicht nähern konnte, senkt sich sanft auf den müden Gefangenen hernieder. Die Seele sieht jetzt, was sie vorher nie wahrgenommen hatte ...

VI

Der Schleier zerfällt

Heiß und fieberkrank wirft sich ihr Körper in ruheloser Pein hin und her. Für ihn ist jetzt die Zeit der glücklichen Träume ein entschwundener Schatten, eine lange vergangene Erinnerung. Ein durch Seelenpein gewandelter Mensch liegt da. Eine voll erwachte Seele zittert in dem schmerzgequälten Körper. Der Schleier der Illusion ist von den kalten Götzenbildern der Welt herabgefallen, und die Nichtigkeit und Leere von Ruhm und Reichtum stehen nackt, und oft schrecklich, vor ihren Augen. Die Gedanken der Seele fallen wie dunkle Schatten in das Hirn des schnell zerfallenden Körpers und quälen den Denker täglich, nächtlich, stündlich ...

Der Anblick seines schnaubenden Rosses erfreut ihn nicht mehr. Die Erinnerung an vom Feind erbeutete Gewehre und Flaggen, an zerstörte Städte, an Schützengräben, Kanonen und Zelte, an eine Menge eroberter Beutestücke berühren seinen nationalen Stolz jetzt nur wenig. Solche Gedanken bewegen ihn nicht mehr und der Ehrgeiz hat keine Macht mehr, in seinem wehen Herzen die stolze Anerkennung an eine mutige Tat der Tapferkeit zu erwecken. Visionen von ganz anderer Art suchen jetzt seine müden Tage und schlaflosen Nächte heim ...

Was er jetzt sieht, ist eine Masse von Bajonetten, die im Dunst von Rauch und Blut gegeneinander schlagen. Tausende zerfetzter Leichen bedecken den Boden, zerrissen von mörderischen Waffen, die von der Wissenschaft und der Zivilisation erfunden und von den Dienern seines Gottes für den Sieg gesegnet wurden. Wovon er jetzt träumt, das sind blutende, verwundete und sterbende Menschen mit fehlenden Gliedern und blutdurchtränktem Haar ...

VII

Schauder und Entsetzen

Ein schrecklicher Traum löst sich von einer Gruppe vorüber ziehender Visionen und senkt sich schwer auf seine schmerzende Brust. Der Alptraum zeigt ihm Menschen, die auf dem Schlachtfeld sterben und dabei jenen fluchen, die sie zu ihrer Vernichtung führten. Jeder Schmerz in seinem eigenen geschwächten Körper bringt ihm im Traum die Erinnerung an schlimmere Schmerzen, die durch ihn und für ihn erlitten wurden. Er sieht und fühlt die Qual der gefallenen Millionen, die nach langen Stunden schrecklichen mentalen und physischen Schmerzes sterben, die in Wäldern und im Flachland verscheiden, im abgestandenen Wasser der Straßengräben, in Tümpeln von Blut unter einem rauchgeschwärzten Himmel. Seine Augen sind noch einmal auf die Sturzbäche von Blut geheftet, von denen jeder Tropfen eine Träne der Verzweiflung, einen herzzerreißenden Schrei, ein lebenslanges Leid darstellt. Er hört wieder die erregenden Seufzer der Verlassenheit und die schrillen Schreie, die durch Berg, Wald und Tal gefallen. Er sieht die alten Mütter, die das Licht ihrer Seelen verloren; Familien, die die Hände dessen verloren, der sie ernährte. Er erblickt verwitwete junge Frauen, die in die weite, kalte Welt hinaus gestoßen wurden, und bettelnde Waisen, die zu Tausenden auf den Straßen umher jammern. Er erkennt, wie die jungen Töchter seiner tapfersten alten Soldaten ihre Morgengewänder gegen den aufgeputzten Tand der Prostitution austauschen; und die Seele erschauert in ihrer schlafenden Gestalt ... Sein Herz wird zerrissen von dem Stöhnen der Hungernden; seine Augen werden geblendet vom Rauch brennender Hütten, zerstörter Heime, Städte und Großstädte voller schwelender Ruinen ...

Und in seinem schrecklichen Traum erinnert er sich jenes wahnsinnigen Augenblicks in seinem Soldatenleben, da er auf einem Haufen von Toten und Sterbenden stand und in seiner Rechten ein bloßes Schwert schwenkte, das bis zum Knauf von dampfendem Blut gerötet war. In seiner Linken hielt er die Fahne, die er dem sterbenden Krieger zu seinen Füßen aus der Hand riss. Loblieder hatte er zum Allmächtigen gesandt und für den gerade errungenen Sieg gedankt! ...

Er schreckt aus seinem Schlafe auf und erwacht mit Entsetzen. Ein großer Schauder durchschüttelt seinen Körper, er zittert wie Espenlaub. Und wie er krank von der Erinnerung in seine Kissen zurücksinkt, hört er eine Stimme -die Stimme seiner Seele, die zu ihm spricht:

„Ruhm und Sieg sind prahlerische Worte ... Danksagung und Gebete für vernichtete Leben sind boshafte Lügen und Gotteslästerung!" -

„Was haben sie dir oder deinem Vaterland eingebracht, jene blutigen Siege!" - flüstert die Seele in ihm. „Ein Volk, das in eine eiserne Rüstung gekleidet ist," erwidert sie. „Vierzig Millionen Menschen, die jetzt für jedes spirituelle Streben und jedes Seelenleben tot sind. Ein Volk, das hinfort für die Stimme des Friedens, des ehrbaren Bürgers Pflicht, taub einem Leben in Frieden abgeneigt, den schönen Künsten und der Literatur gegenüber blind und allem anderen außer Gewinnsucht und Ehrgeiz gegenüber gleichgültig ist. Was ist dein zukünftiges Königreich jetzt? Eine Legion einzelner Kriegsmarionetten, ein großes wildes Tier in ihrer Gesamtheit. Ein Tier, das jetzt noch wie die See dort unten finster schlummert, aber mit umso größerer Wut über den ersten Feind herfallen wird, den man ihm zeigt. Gezeigt von wem? Es ist, als ob ein herzloser, stolzer Satan, der plötzlich die Gewalt an sich riss, verkörperter Ehrgeiz und verkörperte Machtsucht, alle Gemüter des ganzen Landes mit eiserner Faust fest gepackt hätte. Durch welchen bösartigen Zauber hat er die Menschen in jene früheren Tage des Volkes zurückgebracht, als ihre Vorfahren, die gelbhaarigen Sweben und die Franken in ihrer kriegerischen Gesinnung umherstreiften und danach dürsteten, einander zu töten, zu erniedrigen und zu unterwerfen? Durch welche höllischen Mächte wurde das vollbracht? Doch die Verwandlung geschah, und es ist nichts unleugbarer als die Tatsache, dass sich nur der Satan allein an der Verwandlung erfreut und sich ihrer rühmt. Die ganze Welt schweigt in atemloser Erwartung. Da ist keine Gattin oder Mutter, die in ihren Alpträumen nicht von der schwarzen Unheil verkündenden Gewitterwolke gequält würde, die über ganz Europa hängt. Die Wolke nähert sich ... Sie kommt immer näher ... Oh, Wehe und Entsetzen! ... Ich sehe nochmals für die Erde das Leid voraus, das ich schon miterlebte. Ich lese das unglückliche Schicksal auf der Stirn der Blüte von Europas Jugend!2

Doch wenn ich lebe und die Macht habe, so soll niemals, oh niemals, mein Land wieder daran teilnehmen! Nein, nein, ich will ihn nicht sehen ...

VIII

Die Flamme der Bruderliebe

Immer mehr wächst in der Seele das Gefühl intensiven Hasses gegen die schreckliche Schlächterei, Krieg genannt. Immer tiefer durchdringt sie die Gestalt, die sie gefangen hält, mit ihren Gedanken. Zuweilen erwacht die Hoffnung in der schmerzenden Brust und gibt den langen Stunden der Einsamkeit und Meditation Farbe. So wie der Morgensonnenstrahl, der die düsteren Schatten vager Mutlosigkeit vertreibt, so erhellt die Hoffnung die langen Stunden einsamen Sinnens. Doch wie der Regenbogen die Sturmwolken nicht immer vertreibt, sondern oft nur eine Brechung der sinkenden Sonne an der abziehenden Wolke ist, so folgen Augenblicken träumerischer Hoffnung meist Stunden noch schwärzerer Verzweiflung. Warum, o warum, hast du ihn, du Göttin der Vergeltung, den du hilflos, sprachlos und machtlos machtest, unter allen Herrschern dieser Erde so geläutert und erleuchtet? Warum hast du die Flamme der heiligen Bruderliebe zum Menschen in der Brust eines Mannes entzündet, dessen Herz schon die Nähe der eisigen Todeshand und des Verfalles spürt, dessen Kraft ihn immer mehr verlässt, und dessen wahres Leben vergeht wie der Schaum auf dem Kamm einer brechenden Woge!

IX

Stimm- und hilflos - Herrscher über einem offenen Grab

Und jetzt ruht die Hand des Schicksals auf dem Schmerzenslager. Die Stunde der Erfüllung des Naturgesetzes hat endlich geschlagen. Der alte Vater ist nicht mehr. Der jüngere Mann ist hinfort ein Herrscher. Obgleich er stimm- und hilflos ist, ist er nichtsdestoweniger ein Machthaber, der Herr über Millionen Untertanen. Das grausame Schicksal hat für ihn einen Thron über einem offenen Grabe errichtet und winkt ihn zu Ruhm und Macht heran. Ein vom Leid Verzehrter sieht sich plötzlich gekrönt. Der geschwächte Körper wird aus seinem warmen Nest inmitten der Palmenhaine und der Rosen gerissen. Er wird aus dem milden Süden in den frostigen Norden gewirbelt, wo die Wasser zu Kristallwäldern erstarren und „Woge auf Woge zu festem Fels sich erhebt". Dorthin eilt er jetzt, um zu regieren und um - zu sterben.

Vorwärts hastet das schwarze Rauch und Feuer speiende Ungeheuer. Vorwärts und mit jedem Augenblick fort vom Gesundheit gebenden, milden Süden fliegt der Zug. Seine schwingende, eintönige Bewegung wiegt den völlig erschöpften Insassen, den müden, tief betrübten Körper in den Schlaf ... In dem fahrenden Palast ist die Luft warm und mild. Der luxuriöse Wagen ist voller exotischer Pflanzen; und aus einem großen Büschel süß duftender Blumen erhebt sich mit deren Duft die schöne Königin der Träume, die von ihrer fröhlichen Elfenschar begleitet wird. Das Rattern der Räder wird nach und nach in das Brausen eines fernen Wasserfalls verwandelt, das langsam in silbernem Rieseln eines klaren Bächleins verklingt. Die Seele entflieht ins Land der Träume ...

Reise durch Äonen - vergangene Leben

Sie reist durch Äonen von Zeitaltern und Leben und empfindet und atmet unter den verschiedenen Gestalten und Persönlichkeiten. Jetzt ist sie ein Riese, ein Jotun, der nach Muspelheim hineinstürzt, wo Surtur mit flammendem Schwert regiert.

Furchtlos kämpft sie gegen eine Menge scheußlicher Tiere und jagt sie durch eine einzige Bewegung ihrer mächtigen Hand in die Flucht. Dann sieht sie sich in der Nebelwelt des Nordens. Als ein tapferer Bogenschütze dringt sie in Heiheim ein, in das Königreich der Toten, wo ihr ein Schwarzelf eine Reihe ihrer Leben und deren geheimnisvolle Verkettung enthüllt. „Warum leidet der Mensch?" fragt die Seele. „Weil er einer werden wollte," ist die spöttische Antwort. Sogleich steht die Seele vor der heiligen Göttin, der Saga. Sie singt ihr von den mutigen Taten der germanischen Helden, von ihren Tugenden und ihren Lastern. Sie zeigt der Seele die mächtigen Krieger, die von der Hand vieler ihrer vergangenen Gestalten sowohl auf dem Schlachtfeld fielen als auch im geheiligten Schutz des Heimes starben. Sie erblickt sich selbst in den Persönlichkeiten von Mädchen und Frauen, von jungen und alten Männern, und von Kindern ... Sie fühlt, wie sie mehr als einmal in jenen Gestalten stirbt. Sie stirbt als ein Held und wird von den mitleidigen Walküren vom blutigen Schlachtfeld hinweg zur Wohnung der Glückseligkeit unter dem glänzenden Laubwerk der Walhalla zurückgeführt. Sie stößt ihren letzten Seufzer in einer anderen Gestalt aus und wird auf die kalte, hoffnungslose Ebene der Reue geschleudert. Sie schließt ihre unschuldigen Augen zu ihrem letzten Schlaf als ein Kind, und wird sogleich von den schönen Lichtelfen in einen anderen Körper getragen - den zum Scheitern verurteilten Erzeuger von Schmerz und Leid. Jedesmal werden die Nebel des Todes zerstreut und vergehen vor den Augen der Seele. Nicht eher überquert sie den finsteren Abgrund, der das Königreich der Lebenden von dem Totenreiche trennt. So wird der „Tod" für sie nur ein bedeutungsloses Wort, ein leerer Klang. Jedesmal nehmen die sterblichen Gedanken für das Unsterbliche sichtbares Leben und sichtbare Gestalt an, sobald es die Brücke spannt. Dann beginnen sie zu verblassen und verschwinden ...

„Was ist meine Vergangenheit?" fragt die Seele Urd, die älteste der drei Nornen.3 „Warum muss ich leiden?" Ein langes Pergament wird entrollt. Es enthält eine lange Reihe sterblicher Wesen. In jedem einzelnen erkennt die Seele eine ihrer Wohnungen wieder. Als sie zur vorletzten kommt, sieht sie eine blutbefleckte Hand, die zahllose Taten der Grausamkeit und des Verrats vollbringt, und sie schaudert ... Arglose Opfer erheben sich um sie und schreien zu Orlog (Krieg) um Rache.

„Was ist meine unmittelbare Gegenwart?" fragt die bestürzte Seele Werdandi, die zweite Schwester.

„Das Urteil des Orlog richtet sich gegen dich selbst!" ist die Antwort. „Doch Orlog verkündet seine Urteile nicht blindlings, wie es närrische Sterbliche taten."

„Was ist meine Zukunft?" fragt die Seele verzweifelt Skuld, die dritte Nornenschwester. „Wird sie für immer voller Tränen und ohne jede Hoffnung sein?" Es gibt keine Antwort.

Gelöbnis

Doch der Träumer fühlt, wie er durch den Raum gewirbelt wird. Und plötzlich ändert sich die Szene. Die Seele findet sich an einem ihr lang vertrauten Ort, dem königlichen Gemach und dem Sessel gegenüber der ungebrochenen Palme. Vor ihr dehnt sich wie früher die weite, blaue Wasserfläche und spiegelt die Felsen und Klippen wider. Dort steht auch die einsame Palme, die zum schnellen Tode verurteilt ist. Die sanfte, milde Stimme der stets plätschernden leichten Wellen nimmt jetzt menschliche Sprache an. Sie erinnert die Seele an die mehr als einmal an jenem Orte ausgesprochenen Gelübde. Und der Träumer wiederholt mit Begeisterung die schon einmal gesprochenen Worte!

„Niemals, oh nie werde ich hinfort um prahlerischen Ruhm und Ehrgeiz auch nur einen einzigen Sohn meines Heimatlandes opfern! Unsere Welt ist so voll unvermeidlichen Elends, so arm an Freude und Glück, soll ich da noch zu ihrem Becher der Bitterkeit den unergründlichen Ozean von Schmerz und Blut, Krieg genannt, hinzufügen? Fort mit solchen Gedanken! - Oh, niemals mehr! ..."

X

Ferne Horizonte

Ein seltsames Gesicht und ein Wechsel ... Die abgebrochene Palme, die vor dem mentalen Blick der Seele steht, hebt ihren schlaff herabhängenden Stamm, richtet sich auf und wird wieder grün wie vorher. Und eine noch größere Freude tritt ein, die Seele fühlt sich so stark und so gesund, wie sie ehemals war. Mit starker Stimme singt er (der Träumende) in alle vier Winde ein lautes und freudiges Lied hinaus. Er fühlt eine Woge von Freude und Glück in sich und scheint zu wissen, warum er glücklich ist.

Plötzlich wird er in etwas gebracht, was wie eine märchenhafte Halle aussieht, die mit hell strahlenden Lichtern erleuchtet und aus einem Stoff erbaut ist, desgleichen er vorher nie sah. Er erkennt die Erben und Nachkommen aller Herrscher der Erde, die sich in jener Halle wie eine glückliche Familie versammelt haben. Sie tragen nicht mehr die Insignien des Königtums. Vielmehr regieren jene, die die herrschenden Fürsten sind - so scheint er zu wissen -, vermöge ihrer persönlichen Verdienste. Größe des Herzens, Adel des Charakters, überragende Fähigkeiten der Beobachtung, der Weisheit, Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe haben sie zur Würde der Erben von Königs- und Königinnenthronen erhoben. Die im Namen Gottes empfangenen Kronen wurden abgelegt, und sie herrschen jetzt kraft der „Gnade des Gottmenschentums". Sie wurden durch die ehrerbietige Liebe ihrer freiwilligen Untertanen erwählt, indem man ihre Fähigkeiten zu regieren erkannte.

Alles ringsum scheint seltsam verändert zu sein. Ehrgeiz, Habgier oder Neid - fälschlich Patriotismus genannt - bestehen hier nicht mehr. Grausame Selbstsucht hat gerechtem Altruismus Platz gemacht, und kalte Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen der Millionen findet in den Augen der Auserwählten keinen Anklang mehr. Nutzloser Luxus, arglistige Täuschungen sozialer und religiöser Art sind verschwunden. Keine Kriege sind mehr möglich, denn die Armeen wurden abgeschafft. Die Soldaten wurden zu fleißigen, hart arbeitenden Ackerbauern, und die ganze Welt erklingt von ihrem Lied stürmischer Freude. Königreiche und Länder um ihn leben wie Brüder. Die große, glorreiche Stunde ist schließlich gekommen! Was er kaum zu erhoffen und woran er in der Stille seiner langen Leidensnächte kaum zu denken wagte, ist jetzt verwirklicht. Der große Fluch ist weggenommen, und die Welt steht frei und erlöst da in ihrer Wiedergeburt! ... Bebend vor Freude fließt sein Herz über in Liebe und Philanthropie. Er steht auf, um eine feurige Rede zu halten, die von geschichtlicher Bedeutung sein sollte. Da merkt er plötzlich, dass sein Körper verschwunden, oder vielmehr durch einen anderen ersetzt worden ist... Ja, es ist nicht mehr die hohe edle Gestalt, die ihm vertraut ist, sondern der Körper von jemand anderem, von dem er bis jetzt nichts weiß ... Etwas Dunkles tritt zwischen ihn und ein großes blendendes Licht, und er sieht den Schatten des Zifferblattes einer Riesenuhr auf den Wellen des Äthers. Auf ihrem drohenden Zifferblatt liest er:

„Neues Zeitalter: 970 995 Jahre seit der plötzlichen Vernichtung der letzten 2 000 000 Soldaten an der Front des westlichen Teils des Erdballs durch Pneumo-Dyno-Vril. 971 000 Sonnenjahre seit dem Untertauchen des europäischen Festlands und der Inseln. Das ist der Entscheid Orlogs und die Antwort der Skuld ..."

Er macht eine große Anstrengung und - ist wieder er selbst. Die Seele regt ihn an, sich zu erinnern und entsprechend zu handeln. Er hebt die Arme zum Himmel und schwört im Angesichte der ganzen Natur, bis zum Ende seiner Tage den Frieden zu erhalten - wenigstens in seinem eigenen Lande.

Ein ferner Trommelschlag und laute Rufe sind, wie er sich in seinem Traume einbildet, die stürmischen Dankgebete für das soeben gegebene Versprechen. Ein plötzlicher Stoß, lautes Stimmengewirr, und, als sich die Augen öffnen, schaut die Seele erstaunt durch sie hinaus. Der schwere Blick begegnet dem ehrerbietigen und feierlichen Gesicht des Arztes, der ihm die gewohnte Medizin reicht. Der Zug hält. Er erhebt sich von seiner Couch und fühlt sich schwächer und müder denn je. Rings um sich sieht er endlose Reihen von Truppen. Sie sind mit einer neuen und noch mörderischeren Vernichtungswaffe ausgerüstet - und stehen zum Kampfe bereit.

Sanjna4

Collected Writings, IX, S. 318 - 339, übers. von M. Gräf (gekürzt).

(Untertitel durch die Redaktion)
 
 
1 Seele: Im engl. Originaltext: Soul-Ego (Seelen-Ego) d. h., das spirituelle, die Verkörperungen (Persönlichkeiten) überdauernde Ego, die Individualität. (Red.)
 
2 Hier sieht Friedrich III. auf seinem Krankenlager, wie es scheint, visionär die Weltkriege voraus. (Red.)
 
 3 Altgermanische Mythen und Göttergestalten erweisen sich hier als Symbole tatsächlicher Mächte und Gesetzmäßigkeiten, in denen sich unser inneres und eigentliches seelisch-geistiges Dasein bewegt. Es sind Bewusstseinsbereiche, in die der Mensch nicht nur nach dem Tode, sondern auch während seines irdischen Daseins in entscheidenden Phasen seines Lebens visionär vorstößt. (Red.)
 

4 Sanjna ist ein Schriftstellername, den H.P.B. nur einmal benutzte und der höchstwahrscheinlich für eines der 5 Skandhas in der buddhistischen Philosophie steht, nämlich samjna, was Wahrnehmung bedeutet; es bedeutet auch Einklang, gemeinsames Verständnis, Harmonie, Bewusstsein, klares Wissen. (Boris de Zirkoff)

 
 


Autor: Helena P. Blavatsky