Katastrophen und Karma

Reiner Ullrich

Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche gehören zu jenen Naturkata­strophen, für die menschliche „Umweltsünden" als Ursachen ausscheiden. Sie zerstören Lebensräume und fordern ungezählte Opfer (wenn auch bei weitem weniger als die meisten Kriege!). Ihr Eintreten lässt sich nur sta­tistisch prognostizieren, d. h. Ort, Tag und Stunde ihres Zuschlagens nur bei den Riesen-Flutwellen Minuten bis wenige Stunden vorher, auch wenn die „Plattentektonik" als wissenschaftliches Modell ihren Entstehungsmechanis­mus gut veranschaulicht.
 
Wen eine solche Katastrophe trifft, dem ist allerdings mit einer wissen­schaftlichen Theorie nicht geholfen, und auch die größte Spendenbereitschaft kann höchstens materielle Not lindern und medizinische Versorgung bereit­stellen, vor allem zur Eindämmung von Seuchengefahr. Zerstörtes Hab und Gut kann man nach und nach ersetzen, körperliche Verletzungen lassen sich ärztlich behandeln, aber seelische - durch den Verlust von Angehörigen oder einfach durch den Anblick des Grauens - kaum: müsste doch ein Helfer im­stande sein, Betroffenen das ungeheure Geschehen so zu deuten, dass es wenigstens ansatzweise sinnvoll erscheint.
 
Vor einem Vierteljahrtausend erschütterte das Erdbeben von Lissabon auch außerhalb Portugals die Gemüter der Menschen, besonders derjenigen „Aufgeklärten", die ihren Gott noch nicht ganz in Pension geschickt hatten: die „prästabilierte Harmonie" der Welt (Leibniz) hatten sie sich doch etwas zu idyllisch ausgemalt, und mit dieser Idylle zerbrach ihr Religions-Surrogat. Solchen Ersatz brauchen „ungläubige" Menschen (scheinbar) nicht, denn sie „glauben" in kahlem Heroismus an ein blindes Wüten des „Zufalls". „Gläu­bige" hingegen, die für ihre Weltdeutung vor allem anderen auf das letzte Buch der christlichen Bibel (oder entsprechende andere heilige Schriften) schwören, „kennen" den rächenden und strafenden Gott genauer als den lie­benden, sie fürchten ihn, aber flüchten sich unter seinen Schutz in der Ge­wissheit, dass das Bekenntnis zu ihm und das Halten seiner Gebote sie retten und bewahren werde (wenn auch nicht ganz ungeschoren; siehe Hiob!).
 
Insofern ein theosophisch strebender Mensch sich als „aufgeklärt" be­trachtet, wird er solchem „Entrinnen" nur den Wert eines Palliativs, eines Schmerzlinderungsmittels ohne Heilkraft, zuerkennen, wohingegen das theosophische Weltbild umfassendere Zusammenhänge erkennbar - oder zumindest erahnbar! - macht, die auch Tragödien so gewaltigen Ausmaßes als sinnvolle Teile des Weltlaufes erscheinen lassen.
 
Man konnte nach der Flutwelle, die Weihnachten 2004 die Küsten des Indischen Ozeans heimsuchte, auch unter „Reinkarnationisten" die Meinung vertreten hören, dass solche Ereignisse das theosophische Weltbild zum Ein­sturz brächten. Es wäre ja vielleicht noch vorstellbar, dass die Insassen eines abstürzenden Großflugzeuges ihr Schicksal alle „verdient" hätten, da sie von den weisen „Lenkern des Karmas" quasi „handverlesen" worden seien -aber mehrere hunderttausend „unschuldiger Menschen" „handverlesen"?? Das übersteigt natürlich unser Vorstellungsvermögen und entzieht damit der naiven Annahme jegliche Grundlage, das Wirken Karmas sei als Auswirkung des Gesetzes von Ursache und Wirkung eine „wissenschaftliche Tatsache" (und so einfach zu „beweisen" wie z. B. das Gesetz des Freien Falles). Wer die Last sinnvollen Deutens des Weltgeschehens von so dünnen Verstandes-Spinnenbeinchen tragen lassen möchte, der wird von deren Einknicken selbstverständlich erschüttert werden - oder er ist ein „gläubiger" Mensch, der von „Beweisen" nur redet, um sich einen Anschein von Wissenschaft­lichkeit zu geben.
 
Die Leserbriefspalten kirchlicher Zeitschriften füllen sich, wie regel­mäßig nach großen Unglücken, mit Versuchen, das uralteTheodizee-Problem zu lösen, und deren Überschriften lauten (mehr oder weniger variiert): „Wie kann Gott so etwas zulassen?" Solange man sich „Gott" menschen­gestaltig („anthropomorph") vorstellt (damit gegen eines der Zehn Gebote verstoßend!) und ein einmaliges Zufalls-Erdendasein für das einzige Leben des Menschen hält, wird man allerdings vergebens nach Antworten suchen. Das theosophische Weltbild verstellt aber weder die Denkmöglichkeit, das gegenwärtige Erdenleben sinnvoll einem größeren Ganzen einzuordnen, noch verdunkelt es Ausblicke vertrauenden Aufschauens zu Intelligenzen, die uns gnädig-gerecht „zufallen" lassen, was gleicherweise „alte Schulden tilgt" und Stufe sein kann zu stetem Emporsteigen. Solche Intelligenzen sind nicht „Gott", aber sie müssen mindestens so „erhaben" über Menschlichem sein wie wir über unseren Schwestern und Brüdern im Tierreich; und wenn jene uns sozusagen „allwissend" scheinen, sind sie doch keinesfalls Auto­maten oder auf Schicksalsverarbeitung programmierte Supercomputer. Alltagsgemütern wie Sonntagsfrommen mögen solche „Götter" zuweilen unerbittlich-grausam vorkommen, nicht geeignet zum Anbetteln zwecks „Korrektur des Glücks" - aber müssen nicht auch Eltern zuweilen unerbittlich bleiben ihren Kindern gegenüber, wenn diese partout nur Eis und Schokolade essen oder gar nicht in die Schule gehen möchten?
 
Wer dabei ist, das Kleine Einmaleins oder schriftlich dividieren zu ler­nen, hat keine Ahnung von der Einbettung dieser elementaren Fertigkeiten in das Begründungsgefüge der Mathematik - und wäre von Erklärungsversu­chen nur verwirrt und überfordert.
 
Auch wer sich in die „elementaren" „theosophischen Lehren" hineinzu­denken beginnt - also in Reinkarnation und Karma, in die gestufte Ordnung der Seins-Zustände vom Grob-Irdischen bis zum „rein Geistigen" und, ansatzweise, in die größeren Entwicklungszyklen -, wird wohl nur selten in geistesgeschichtliche Zusammenhänge einordnen, was ihm als „neue" Ein­sicht aufgeht, und noch viel weniger ist anfangs gleich offenbar, welche „Aussichten in die Ewigkeit" (Lavater1) sich nach und nach erschließen wer­den. Dennoch erweitern schon die elementaren „Lehren" den Horizont so sehr, dass es bald schwerfällt, sich weiterhin auf das zu beschränken, was in positivistisch - reduktionistischen Lehrbüchern für möglich gehalten wird (von dogmatischen Einengungen religiöser Überlieferung ganz zu schwei­gen!).
 
Kein Wunder, dass ein fast unwiderstehliches Mitteilungsbedürfnis erwacht (denn das „Kleine Einmaleins" ist ja so einfach und überzeugend!), aber nichts wäre verkehrter, als ihm unbedacht nachzugeben und einem von einer Katastrophe Betroffenen „theosophische Lehren" möglichst komplett eimerweise einzutrichtern - homöopathische Dosierung beugt ungewollten Nebenwirkungen vor! Sorgfältige Dosierung zwingt auch zu genauer Auswahl der Arznei wie der Therapie, ja mehr noch: zu verständnisvollem Eingehen auf den oder die einzelnen leidenden Menschen. Da ist ein stummer Händedruck oft heilsamer als viele noch so gut gemeinte und „richtige" Worte! Noch spezieller: Auch wenn sich erste Verkrampfungen lösen und dadurch ein Gespräch fruchtbar wird, dürfte es sinnvoller sein, nicht etwa Spekulationen anzustellen, was für eine Schuld (= „Karma") ein in einer Katastrophe Umgekommener wohl abzutragen hatte, als vielmehr Hinweise z. B. darauf, dass auch in schlimmsten Unglücken kein Mensch „allein" stirbt, sondern dass jeder Sterbende von (uns unsichtbaren) Helfern umgeben ist, die ihn gegen störende Einflüsse abschirmen, wenn er die Bi­lanz seiner Erdentage zieht und die Reise ins für ihn neue Licht antritt. Wenn man den Andeutungen Erhard Bäzners anlässlich der Zerstörung Dresdens vor sechzig Jahren einigen Wert beimessen darf, so tröstet und beruhigt am meisten seine Vision von den helfenden Lichtwesen, die über und durch den Feuersturm ihre harmonisierenden Kräfte strahlen ließen.
 
Dergleichen Gedanken gehören zu jenem „Elementaren", dessen Einüben Türen öffnet - und nicht frustriert wie wissenschaftlich sein sollendes Verschließen der Augen oder die Aufopferung der eigenen Vernunft, wie sie angesichts „unerforschlicher Ratschlüsse Gottes" von mehr oder weniger hilflosen Seelsorgern zuweilen noch gefordert wird (verbrämt als „Demut", wie sie uns Menschen zukomme). Wer zur Theosophie unterwegs ist, kann darauf vertrauen, dass er „wird", was er im Grunde seines Wesens immer schon „ist" - darauf, dass sich ihm schrittweise immer klarer erschließt, was er jetzt nur dunkel ahnt: immer umfassendere Einsicht in sich selbst und in das Geschehen der Welt, zwei Aspekte eines großen Ganzen:

»TAT TVAM ASI«.

 
1 J. C. Lavater (1741 - 1801), prot. Pfarrer und Schriftsteller in Zürich, zeitweise mit Goethe befreundet. Unter dem zitierten Titel erschienen 1768 - 1778 vier Bände „Briefe", deren Zielrichtung unseren Überlegungen durchaus verwandt ist, nicht allerdings ihre dogmatische Festlegung.
 


Autor: Reiner Ullrich