Einige praktische Winke über
Konzentration und Meditation
 
 
Dr. Franz Hartmann
 
Unter „Konzentration" versteht man die innerliche Sammlung des Gedankens und das Richten desselben auf einen bestimmten Gegenstand; „Meditation" im wahren Sinne des Wortes ist nicht nur eine objektive Betrachtung oder Anschauung eines solchen Gegenstandes, sondern vielmehr ein geistiges Eingehen in diesen Gegenstand selbst, ein Eins werden und eine Identifizierung mit demselben, wodurch die volle Erkenntnis erlangt werden kann; denn derjenige, dem diese Vereinigung gelingt, erkennt sich selbst als denselben und erlangt auch dessen Selbsterkenntnis, weil dasjenige, womit er sich vereinigt hat, für ihn kein „Gegenstand", sondern er selber ist. In einem Menschen, der ganz in dem Gegenstand seiner Liebe oder Anbetung aufgeht, verschwindet der Begriff von „ich und du" und damit auch alles Verlangen nach Besitz. Es ist da kein Objekt und Subjekt mehr, sondern nur die eine Kraft der Liebe, das eine Bewußtsein, aus dem, wenn es vollkommen ist, die wahre Erkenntnis entspringt.
 
Jeder Mensch übt mitunter, auch ohne es zu wissen, oder zu beabsichtigen, Gedankenkonzentration, nämlich so oft seine Aufmerksamkeit intensiv auf irgend etwas gerichtet ist, und es findet schon dadurch ein gewisser Grad von Vereinigung statt. Man lauscht mit gespannter Aufmerksamkeit den Worten eines guten Schauspielers auf dem Theater, fühlt sich beinahe gedrungen dessen Bewegungen mitzumachen und spielt in dem Stücke gleichsam selbst seine Rolle. [...]
 
Nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere sind dieser Konzentration fähig, denn jenes Prinzip, welches man als „Geist" oder „Gemüt", im Lateinischen als „mens" bezeichnet und vermittelst dessen man denken und Ideen erfassen kann, ist dasselbe in Menschen und Tieren. Einem hungrigen Hunde, dem ein Knochen vorgehalten wird, „vergeht Hören und Sehen"; er geht ganz in der Betrachtung dieses Knochens und in der Sehnsucht nach demselben auf und hat ebenso wenig Sinn und Verstand für etwas anderes, als ein Mensch, der von irgendeiner Idee oder Begierde ganz eingenommen ist.
 
Die Konzentration ist daher nichts Außerordentliches oder Außergewöhnliches, und der Unterschied zwischen der Konzentration eines Menschen, der eine gewöhnliche Tätigkeit verrichtet, die ihn völlig in Anspruch nimmt, und derjenige eines Heiligen oder Yogi, welcher sich ganz in Gott versenkt, ist nur der, daß der Gegenstand der Konzentration des einen ein materieller und der des andern ein rein geistiger, ja der höchste ist, der alle menschlichen Begriffe übersteigt, und gerade deshalb am schwersten zu erfassen ist; denn der menschliche Geist kann nur Dinge erfassen, die für ihn denkbar und begreiflich sind; das Unbegreifliche muß durch den Geist Gottes im Menschen selbst erfaßt werden, und dieser ist über alles Begreifen erhaben. „Wer Gott erkennen will, muß sich im Geiste der Wahrheit zu ihm wenden." Niemand kann anders in Gottes Heiligkeit eingehen, als durch den heiligen Geist Gottes im Menschen selbst; niemand kann auf andere Weise in die ewige Seligkeit eingehen als dadurch, daß die Seligkeit des göttlichen Daseins in ihm selber erwacht.
 
Auch bedarf es kaum einer Erwähnung, daß niemand durch leere Zeremonien, Ablässe, Festhalten an dem Fürwahrhalten von Dogmen und Theorien oder durch Befriedigung seiner wissenschaftlichen Neugierde in diesen Zustand der Vereinigung mit dem Gottesbewußtsein eingehen kann. Alle äußerlichen und intellektuellen Mittel hierzu können höchstens dazu dienen, die Hindernisse zu beseitigen, die dieser innerlichen Erweckung im Wege stehen, und oftmals sind diese selbst gerade das unübersteiglichste Hindernis. Auch bedarf ein reiner, einfältiger, glaubensvoller Mensch, in dessen Seele die Flamme der göttlichen Liebe brennt und der diese Flamme ernährt und sich ihr zum Opfer bringt, keiner weiteren Erklärung; aber für diejenigen, welche gerne von allem erst das „wie" und „warum" wissen möchten, weil sie sich zu nichts entschließen können, solange sie darüber im Zweifel sind, und auch für die Dummgläubigen, welche sich über dergleichen Dinge verkehrte Ansichten gebildet haben, ist eine Erklärung nötig. Zu diesem Zwecke dient eine Betrachtung der verschiedenen Zustände des Bewußtseins, deren der Mensch fähig ist.
 
Das ganze Weltall ist eine Offenbarung des Geistes, aus welchem es hervorgegangen ist, und somit ist auch in jedem Dinge „Geist", d. h. Bewußtsein verkörpert; jedes stellt eine Verkörperung des ihm eigentümlichen Bewußtseinszustandes dar, und es gibt nichts in der Welt, in dem nicht irgendeine Art von Leben und Bewußtsein, sei es auch noch so „latent" oder verborgen, enthalten ist. Wenn das Göttliche gegenwärtig ist, so ist es auch in jedem Dinge und in jedem von dessen Atomen enthalten, wenn auch das Ding oder der Mensch nichts davon fühlt oder weiß; denn von der bloßen Annahme, daß das Göttliche in allem gegenwärtig und wir selbst der Tempel seines Heiligen Geistes seien, bis zu dem Zustande, in welchem wir uns dieser Wahrheit bewußt werden, ist noch ein weiter Schritt, und mit dem bloßen Fürwahrhalten der Theorie ist noch wenig gedient.
 
Die okkulte Wissenschaft sowohl als der gesunde Menschenverstand lehren aber auch, daß im Menschen in der Essenz oder dem Wesen nach, alle Dinge und Kräfte enthalten sind, welche im Weltall existieren; denn wäre in ihm auch nur ein einziges Ding weniger, so wäre er eine Mißgeburt und unvollkommenes Kind Gottes und der Natur, und wäre in ihm mehr, so hätte er dies von irgend woher außerhalb des Weltalls bekommen müssen und wäre eine ganz undenkbare Monstrosität. Da nun jedes der in ihm enthaltenen Prinzipien mit demselben Prinzip in unserm Weltall in innigster harmonischer Verbindung steht, weil Prinzipien einheitlich sind und nicht geteilt werden, und da das Höhere stets auf das Niedere einwirken muß, sobald das ihm ähnliche Niedere sich ihm entgegenregt, so liegt es in der Macht des Menschen, in sich selbst höhere oder niedere, edlere oder gemeine Eigenschaften zu kultivieren und dadurch sich zu einem höheren Bewußtseinszustand zu erheben oder in einen niederen zu versinken. Jedes Prinzip wird aus demjenigen Boden ernährt, aus dem es geboren ist; der Körper gehört der Erde an und wird durch die Produkte der Erde ernährt; der Geist erhält seine Nahrung aus der Gedankenwelt und dem Reich der Ideen; die himmlische Seele hat ihren Ursprung in Gott und erhält ihre Nahrung durch seinen Geist, welcher die Liebe und Weisheit ist.
 
Der Mensch hat vor vielen anderen Wesen den Vorteil voraus, daß er sich seine Nahrung selbst suchen kann. Wenn er seinen Körper nicht ernährt, so verhungert er; dasselbe ist mit Geist und Seele der Fall. Wenn er alle seine Energie zur Befriedigung seiner körperlichen Gelüste verwendet, so bleibt sein Intellekt in der Entwicklung zurück. Widmet er sich ganz der intellektuellen Spekulation, so wird der Geist überfüttert und die Seele verkümmert. Wer der Stimme seiner Leidenschaften kein Gehör gibt, der wird schließlich nicht mehr von ihnen belästigt werden. Wer Gott verläßt, der wird von ihm verlassen, wer aber sein Wollen und Denken fest auf ihn richtet, dem wird seine Gegenwart offenbar.
 
Es gibt nur ein einziges Bewußtsein, nur eine Liebe, Weisheit, Schönheit, Verstand usw. im Weltall. Prinzipien sind unteilbar, nicht die Prinzipien, sondern ihre Offenbarungen sind in den Formen zerteilt. Wenn man z. B. sagt, dieser oder jener Mensch hat mehr Intelligenz als ein anderer, so ist damit gesagt, daß das Allgemeinprinzip der Intelligenz in ihm besonders stark offenbar ist; gleichwie das Wasser in verschieden gefärbte Gläser gefüllt, in jedem als von dem andern verschieden erscheint.
 
Der göttliche Geist in dem Menschen ist eine Einheit, welche alles umfaßt und durchdringt, aber die menschliche Natur ist eine Vielheit, aus verschiedenen Kräften und Substanzen zusammengesetzt, von denen jede ihre besondere Art von Bewußtsein hat und aus der ihr eigentümlichen Quelle stammt, in die sie am Ende wieder zurückkehrt. Was in einem Menschen göttlich ist, zieht ihn zum Höchsten empor, was in ihm irdisch ist, bindet ihn an die Erde; seine Phantasie fliegt durch den Weltenraum und er kann ihr nicht folgen; die ihm innewohnende Leidenschaft zieht ihn hinab in das Reich der Dämonen, und je nach dem Grade, in welchem der Wille des Menschen durch die Erkenntnis des Höchsten frei geworden ist, liegt es in seiner Hand, dieser oder jener Anziehung zu folgen, sich von den niederen Kräften in seiner Natur beherrschen zu lassen, oder dieselben durch die Kraft des Höchsten zu überwinden. Sein Bewußtseinszustand richtet sich je nach dem Zustande, in dem er sich befindet, d. h. je nach der Daseinsebene, zu der er sich geistig erhebt, oder in die er versinkt. Ein Heiliger, im Zustande der Ekstase, kennt nichts als Gott, ein von Leidenschaft ganz erfüllter Mensch kennt nichts als die Leidenschaft, und zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich alle die stets wechselnden Bewußtseinszustände des menschlichen Lebens. Sich in diesen oder jenen zu versetzen und darin nach Belieben zu verharren und darin Erfahrungen zu machen, ist der Zweck der Konzentration und Meditation.
 
Gemäß den sieben Prinzipien, welche in der Konstitution des Menschen vorhanden sind, kann man in ihm auch sieben Bewußtseinszustände unterscheiden, welche nach H. P. Blavatskys Auseinandersetzung folgende sind:
 
1. Das äußerliche und objektive Bewußtsein.
2. Das Bewußtsein des innern oder Astralmenschen.
3. Das niedere psychische Bewußtsein (Prana-Kama).
4. Das höhere psychische persönliche Bewußtsein (Kama Manas).
5. Das wahre individuelle Selbstbewußtsein (Manas).
6. Das Bewußtsein des Gottmenschen in uns (Buddhi).
7. Das Allbewußtsein des Geistes Gottes im Menschen (Atma).
Da aber von diesen Bewußtseinsformen nicht jede für sich allein und von den anderen getrennt steht, wie z. B. die Fächer in einem Taubenschlag oder die Seidenbüchsen in einer Apotheke, sondern es sich hierbei um geistige Kräfte handelt, die aufeinander und ineinander wirken, so können in jedem dieser Zustände sieben Variationen unterschieden werden.
 
 


Autor: Dr. Franz Hartmann