Lehrerin und Freundin
Walter R. Old, F. T. S.
Meine
erste Bekanntschaft mit Madame Blavatsky spann sich durch einen Briefwechsel
über das Thema des westlichen Okkultismus an, und zwar im Jahre 1887.
Oft hatte
ich mir gewünscht, ihr zu begegnen, und hatte mir auch einen Weg ausgedacht, wie ich mir diesen
Wunsch erfüllen konnte, ohne die flüchtige Bekanntschaft, die mich mit der
berühmten Autorin der „Entschleierten Isis" bereits verband, über
Gebühr auszunützen. Aber einige Monate gingen ins Land, und immer noch hatte
ich Madame Blavatsky, aus Gründen, in denen ein zur Zurückgezogenheit
geneigtes Naturell allerdings einigen Trost finden konnte, nicht persönlich
gesehen. Ich stand in täglichem Briefwechsel mit Mitgliedern der
Theosophischen Gesellschaft und anderen Partnern, die an den besonderen
Themen ihrer Forschungen interessiert waren, und jeden Tag versetzte mich der
Umstand, daß ich den großen Beweger, der die Renaissance des Okkultismus im 19. Jahrhundert bewirkt hatte, immer
noch nicht gesehen hatte, in größere Unruhe. Aber ganz unerwartet und zu
meiner großen Befriedigung erledigte sich die Sache plötzlich von selbst. In
einem Brief teilte mir ein Londoner Freund mit, er habe einige Freunde zu
sich eingeladen, um die Probleme zu diskutieren, die uns alle so am Herzen
lagen, und wenn ich an dem und dem Abend zu ihm in die Stadt käme, würde er
mich am nächsten Morgen mitnehmen und H. P.
B. vorstellen.
Ich ging also, aber
nicht um meine Freunde zu besuchen oder Probleme zu diskutieren, sondern mit
dem einzigen Gedanken und der einzigen Absicht, H. P. B. zu begegnen.
In dieser
Nacht schien es mir, als ob die Zeit stillstünde, nur um mich wegen meiner
Ungeduld auszulachen. Aber schließlich kam doch der Morgen, ein herrlicher
Sommertag, und gegen Mittag befand ich mich mit meinem Freund in dem Haus in
Notting Hill, von wo, so sagte er mir, alles Leben der Theosophischen
Gesellschaft ausging.
Wir traten
ein, man führte uns in den Empfangsraum — zumindest nahm ich an, daß das
seine Bestimmung war, denn ich habe niemals einen Raum wie diesen gesehen und
werde wohl auch keinen mehr sehen. Aber nein, ich hatte mich geirrt, denn ein
paar Sekunden später erhob sich H. R B. nach einem herzlichen Gruß meines
Freundes von ihrem Schreibtisch, wo sie ein ungewöhnlich großer Armsessel
unserer Sicht entzogen hatte, kam uns entgegen und hieß uns willkommen.
Die
größten und hellsten blauen Augen, in die ich jemals geschaut habe, richteten
sich weit offen auf mich, als sie meine Hand nahm und mich begrüßte. All
meine Verwirrung, mit der ich insgeheim gerechnet hatte, fiel bei ihren
ersten Worten von mir ab. Ich fühlte mich bei H. P. B. sofort wie zu
Hause und sehr behaglich. „Nein, ich möchte nicht ,Madame' genannt werden,
nicht von meinem besten Freund, von so etwas war gar nicht die Rede, als ich
getauft wurde, nennen Sie mich bitte einfach H. P. B. Setzen Sie
sich doch, natürlich rauchen Sie, ich mache Ihnen schnell eine Zigarette. E.,
du Kindskopf (das galt meinem Freund), wenn Du mir meine Tabakdose dort
holst, werde ich wohl glauben müssen, daß Du ein Gentleman bist." Dann
erklärte sie mir lachend, so fröhlich und übermütig wie ein Kind, E. und sie
seien „alte Freunde" und sie habe ihn sehr gerne, aber oft nütze er ihr
Alter und ihre Unschuld aus. Unter solchen kleinen Anzüglichkeiten nahm H. P. B.
etwas Tabak aus der Dose und drehte Zigaretten für uns beide. Hierauf setzten
wir uns zu ernsteren Gesprächen, und H. P.
B. fragte mich über meine
Beschäftigung mit Theosophie und westlichem Okkultismus aus. Sie erzählte
mir, wie günstig sich die theosophische Bewegung entwickle und daß man in der
Öffentlichkeit dies und jenes darüber sage und daß die Zeitungen noch viel
mehr dazu zu sagen hätten und daß sie sich alle irrten, weil sie nicht
verstehen könnten, vergessen hätten, was in den Geschichtsbüchern stand, und
nicht sehen könnten, welche Richtung die Bewegung nehme. Dann bat sie mich,
etwas von mir selbst zu erzählen, gab mir praktische Hinweise, und kurze Zeit
später hatte ich mich von der interessantesten Persönlichkeit verabschiedet,
die mir jemals begegnet war.
Das also
waren die Umstände, unter denen ich persönliche Bekanntschaft mit meiner
geliebten Lehrerin und Freundin schloß. Ich war auf die denkbar günstigste
Weise von all dem, was ich während dieser kurzen Visite im Quartier der
Theosophen gehört und gesehen hatte, beeindruckt. Woran ich mich bei H. P. B.
besonders lebhaft erinnere, sind ihre überwältigende Freundlichkeit, ihre
furchtlose Aufrichtigkeit, ihr lebhaftes Temperament und vor allem die
Begeisterung, mit der sie von der Arbeit sprach, die vor der Theosophischen
Gesellschaft lag. Als mir viele Monate später der Vorschlag gemacht wurde,
direkt ins Hauptquartier in London überzusiedeln, das sich damals in der
Lansdowne Road befand, erklärte ich mich überglücklich einverstanden. Ich
wäre sonstwo hingegangen, nur um den klaren, starken Einfluß von H. P. B.s Beispiel und Lehre noch direkter
spüren zu können. Der Eindruck, den ich gleich zu Anfang von ihrem Charakter
gewonnen hatte, blieb während unserer sehr engen Beziehung, bis sie von uns
ging, unverändert. Bei all meinen Problemen, sei es beim Studium ihrer
Lehren, sei es bei der Arbeit, habe ich sie stets als kluge Ratgeberin und
starke Führerpersönlichkeit erlebt. War ich krank oder traurig, so war sie
immer freundlich, zartfühlend, hilfsbereit und machte mir Mut. Mit einem
Wort, niemand hat in meinem Leben eine so große Rolle als Freundin und
Lehrerin gleichzeitig gespielt wie sie, und es gibt niemanden, dem mein Herz
so dankbar entgegenschlägt.
Ich sprach
schon von der begeisterten Hingabe, mit der H. P. B. der Sache
diente, die sie vor der Welt zu vertreten die Ehre hatte. Niemand, der den
Vorzug genoß, mit H. P. B.
arbeiten zu dürfen, konnte über diesen Punkt im Zweifel sein.
In einem
ihrer ersten Briefe an mich, den sie in ihrer besonderen, ausländisch
geprägten Ausdrucksweise formulierte, teilte sie mir mit, daß „der erste Band
meines Buches (die Geheimlehre) gesetzt ist, und ich stehe in diesen Tagen
immer schon um fünf Uhr auf". Ihre Ausdauer kam in jeder Hinsicht ihrer
Hingabe gleich. Sie war eine unermüdliche Arbeiterin. Ich habe sie schon um
sechs Uhr morgens am Schreibtisch sitzen sehen, und oft hatte sie auch in den
kältesten Wintertagen
schon mehrere Seiten beschrieben, bevor sie ihr Frühstück einnahm. Ihr Fleiß
und ihre Zähigkeit versetzten mich oft in Erstaunen, vor allem, wenn ich
erwog, daß sie einen Großteil des Lebens in der ewigen Aufregung ihrer Reisen
und Abenteuer verbracht hatte. Es gibt zahlreiche Ziele, für die Männer und
Frauen sich eingesetzt haben und auch gestorben sind, und sie sind von unterschiedlichem
Wert. Sicher ist aber, daß sich niemand für sein Ziel glühender, ausdauernder
und unter größeren Schmerzen eingesetzt hat, als H. P. B. für die
Theosophie. Noch am Abend vor ihrem Hingang saß sie für ein paar Minuten an
ihrem Schreibtisch und ordnete zum letzten Mal ihre Papiere. Ein Editorial
lag halb vollendet auf dem Tisch, als sie zum letzten Mal die Feder beiseite
legte, um sich zur Ruhe zu begeben. Ich war bei ihrem Hingang zugegen. Ihre
rechte Hand erkaltete in der meinen. Ich will gar nicht erst den Versuch
machen, meine Empfindungen zu beschreiben, als mir zum ersten Mal dämmerte,
was wir an ihr verloren hatten, mag dieser Verlust auch nur vorübergehend
sein. Diese Augenblicke des höchsten Schmerzes, wo Selbstmitleid und Freude,
daß sie, die ich liebte, jetzt Frieden hatte, mit größter Heftigkeit um die
Vorherrschaft stritten und mich innerlich zerrissen, werden immer zu den
heiligsten Erinnerungen meines Lebens gehören.
Die
letzten Worte aus ihrer Feder dienten der Verteidigung der Wahrheit, für die
sie gelebt hatte. Sterbend formten ihre Lippen Worte der Ermutigung an alle,
auf denen die Last des Werkes nach ihrem Hingang ruhen würde. Was spielt es
da für eine Rolle, daß viele öffentliche Meinungsmacher ihr die Lauterkeit
der Motive absprachen, die sie selbst als erste für sich in Anspruch nehmen
würden? Was spielt es für eine Rolle, daß ihr unermüdlicher Einsatz für die
Sache der Wahrheit von der oberflächlichen Menge nur mit Hohn, Spott und
hämischem Gelächter beantwortet wurde, und daß ihre Freundschaft aus
verletzter Eitelkeit von ein paar Menschen verraten wurde, von denen jetzt
schon niemand mehr spricht? In ihrem Ziel war sie unbeirrbar und bewältigte
über alles Denken und Meinen ihrer Gegner hinaus erfolgreich die Aufgabe, die
sie unter so entmutigenden Umständen in Angriff genommen hatte. All jene
zumindest, die mit
ihr zusammenlebten und sie am besten kennen mußten, können bestätigen, wie
rein und selbstlos ihr ganzes Wesen und wie inspirierend ihre Lehren und ihr
Beispiel waren. Ich könnte nichts sagen, was der Schönheit und Reinheit, die
in ihrem Wesen lagen, etwas hinzufügen könnte, und so leiste ich nur mit dem
Gefühl dankbarer Hingabe und im Bewußtsein meiner Pflicht diesen geringen
Beitrag zum Gedächtnis meiner größten Freundin.
Aus „H. P. Blavatsky, Die Botin des Neuen
Zeitalters, von ihren Schülern",
Hirthammer Verlag, Frankfurter Ring
247, 80807 München
Autor: Walter R. Old, F. T. S.