ERSTES KAPITEL

 

Der Pfad des beschleunigten Sieges

Der Mensch ist ein selbstbewusstes Wesen, und als solches besitzt er die Kraft, sich einer spirituellen Disziplin zur Beschleunigung seiner Entwicklung zu unterziehen. Er kann sein Ziel schneller erreichen, wenn er die Prinzipien, welche das normale Wachstum regieren, bewusst in intensiverer Form anwendet.
Der Vorgang besteht darin, dass der Mensch immer mehr, und schließlich ununterbrochen, in seinem Denken und Fühlen, in seinen Motiven und seiner Lebensführung alles das betont, was in ihm spirituell ist, während er in ergänzender Weise aus diesen vier Aspekten seines persönlichen Lebens allesausscheidet, was zu dem spirituellen Ideal in Widerspruch steht. Dies macht die Einrichtung eines Systems unaufhörlicher mentaler undemotioneller Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur notwendig.
Eine solche systematische Selbstzucht verursacht in dem Neo-phyten zuerst eine Verstärkung seiner Konflikte. Alles Materielle in seiner Natur widerstrebt dem vergeistigenden Prozess und versucht, sich seiner mentalen Beherrschung zu entziehen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt deshalb in der Bemeisterung des Denkens, und auf diese Aufgabe muss der Strebende alleseine Energien verwenden. Er wird gut daran tun, soweit wie möglich die Impulse und Einflüsterungen seiner Gefühlsnatur und die Forderungen seines Körpers unbeachtet zu lassen und sich auf die Beherrschungseines Denkens zu konzentrieren.
 

Das vergeistigte Leben

Die Bemeisterung des Verstandes erfordert, dass man das Bewusstsein aus Gefühl und Handlung in den Intellekt zurückzieht, bis die Fähigkeit zu rein mentaler Wahrnehmung entfaltet ist. Das Interesse am Leben sollte zunehmend vorwiegend intellektueller und spiritueller Natur werden, aber der spirituelle Zustand schließt dann die veredelten und beherrschten Gemütsbewegungen ein. Arbeit, Studium und Erholung müssen intellektuell und spirituell gestaltet werden, bis der Neophyte lernt, in seinem Denken zu leben und sein Leben durch seinen Intellekt zu beherrschen und zu leiten. Als Folge verfeinert und läutert sich sein persönliches Leben. Ernst und Askese werden seine Lebensführung kennzeichnen, Zurückhaltung und Würde seine Sprache und Haltung. Dennoch wird er dabei warmherzig und gütig bleiben und stets bereit, seinen Mitmenschen zu helfen; besonders wird er darauf bedacht sein, ihnen auf dem Pfad zum beschleunigten Sieg Beistand zu leisten.
Diesen allgemeinen Methoden der Vergeistigung müssen sich systematisch ausgeführte spirituelle Übungen anschließen, welche bezwecken, einerseits den Brennpunkt des Bewusstseins im höheren Verstand zu festigen, andererseits die mentale Beherrschung der Lebensführung zu stärken und zu erhalten wie auch die Fähigkeit des abstrakten Denkens zu entwickeln. In einer späteren Zeit muss der Strebende das intuitive Bewusstsein entfalten und sich dadurch für das Erreichen der höchsten Selbstverwirklichung, jener desspirituellen Willens, vorbereiten.
 

Die Entdeckung der Wahrheit

Die erforderlichen Übungen bestehen aus dem inneren Studium ewiger Wahrheiten mittels Meditation und Kontemplation.
Diese und andere Wahrheiten sind die Grundlage aller Religionen der Welt, und der Neophyte wird darum zu ihrem Studium hingeleitet. Er muss bei dem Studium inspirierter exoterischer Lehren Denkkraft und Intuition anwenden, um ihre esoterische Bedeutung zu erfassen. Durch dieses Verfahren wird er eine sich stets vergrößernde Menge von Vorstellungen über spirituelle Wahrheiten sammeln, welche er dann methodisch in echte Wirklichkeiten für sich umwandeln muss. Er muss sich zu einem „Kenner" der Wahrheit entwickeln.
Dies wird durch unermüdliche Experimente erreicht, deren Art bei jedem Menschen verschieden sein wird. Die Methode, die göttliche Weisheit aus den Schriften der verschiedenen Religionen herauszuschälen, besteht darin, dass man sich mit jeder Darstellung einer Wahrheit mental eingehend beschäftigt, bis ihre wesentlichen Bestandteile klar zutage treten. Diese werden dann in tiefer Meditation betrachtet, bis man ihre volle Bedeutung erfasst und die Form ihrer Anwendung auf das tägliche Leben entdeckt hat.
Dies erfordert mentale Anstrengung. Man muss sein Denken dazu bringen, mit nie wankender Konzentration auf dem erwählten Gegenstand zu verharren, in der Absicht, ihn bis zu seinem inneren Kern zu durchdringen. Der Erfolg ist möglich, weil die Wahrheit im Bewusstsein des Menschen verborgen ruht. Dadurch, dass die Wahrheit, die er sucht, im Strebenden gegenwärtig ist, vermag er sie im Gegenstand seiner Meditation zu erfassen. Durch das Studium der äußeren Ausdrucksformen der Wahrheit wird er zur Entdeckung der Wahrheit in sich selbst geführt.
 

ZWEITES KAPITEL

Gehirn und Körper

Da das Gehirn eine überauswichtige Rolle für die Erfassung der Wahrheit während des Wachbewusstseins spielt, muss der Neophyte sowohl die Funktionsweiseals auch die Entwicklung des Gehirns verstehen. Wenn die im vorhergehenden Kapitel erwähnten Meditationen mit Ausdauer durchgeführt werden, verändern sie allmählich den Zustand des Gehirns. Die Tätigkeitseiner Zellen wird verstärkt und die Fähigkeit seiner Reaktion auf Schwingungen geweitet; die Atome, aus denen es besteht, werden dadurch, dass sie durch die konzentrierte Gedankenkraft dazu gebracht werden, Energie, Leben und Erkenntnisse aus übermentalen Bewusstseinsebenen zu übertragen, stärker belebt.
Das gesamte Gehirn wird durch die Meditation über abstrakte und spirituelle Wahrheiten einer Anspannung unterworfen, und der Neophyte muss große Sorgfalt anwenden, um es in seiner Begeisterung nicht zu verletzen. Leichter Schmerz OderMattigkeit ist eine Warnung, dass die Anspannung sich dem Gefahrenpunktnähert, an dem eine bleibende Schädigung möglich ist. Beim Auftreten eines solchen Zeichens sollte die Meditation unterbrochen oder ihre Form gewechselt werden. Die den Schmerz erzeugende Methode sollte unteräußerster Vorsicht experimentell geprüft werden. Das Ausbleiben von Schmerz zeigt die Gefahrlosigkeit einer Übung an.
Die Schulung des Gehirns eines geistigen Neophyten muss während des Wachbewusstseins praktisch ununterbrochen vor sich gehen. Wenn eine zu große Lockerung der Kontrolle und ein zu tiefes Absteigen in grobes und materielles Denken erfolgt, wird nicht nur der Schulungsprozess des Gehirns verzögert und die Anstrengung während der Meditation fast erfolglos gemacht, sondern es entsteht sogar ein Einfluss in der entgegengesetzten Richtung. Seine Fähigkeit, auf Schwingungen zu reagieren, wird eingeengt und die Entwicklung der Atome verlangsamt.
 

Schlaf, reine Nahrung

Das Gehirn muss als ein zartes und äußerst kostbares Instrument angesehen werden, welches durch seine Berührung mit der äußeren Welt und die Arbeit in ihr fortwährend stumpfwird und darum immer wieder neue Schärfung benötigt. Dies wird erreicht durch Meditation, Gedankenbeherrschung, sorgfältige Ausschaltung von Denkgewohnheiten, welche die spirituelle Wahrnehmung verringern, durch geordnetes, ruhiges Leben und richtige Nahrung. Alle Fleischnahrung verunreinigt den Blutstrom und stumpft das Gehirn ab. Sie vermehrt auch die Neigung zu groben Gedanken und Gefühlen. Frische Früchte und Gemüse- besonders Rohkost - reinigen die Blutströme und vitalisieren Körper und Gehirn.
Weisheitsschüler des Westens, welche die Praxis der Meditation mit Regelmäßigkeit und Ernstaufnehmen, brauchen dazu als Ergänzung ausreichenden Schlaf. Während der Schlafstunden erholt sich das Gehirn von der Anspannung der täglichen Tätigkeiten und wird dadurch fähig gemacht, immer vollkommener auf die Resultate der Meditation zu reagieren. Darum ist während dieses Schulungsvorganges viel Ruhe notwendig, besonders in den ersten Stadien, und ein frühes Zubettgehen ist dringend anzuraten. Reizmittel, die ein ermüdetes Nervensystem zur Fortsetzung seiner Arbeiten befähigen sollen, sind schädlich. Ein systematisch geordnetes tägliches Leben macht ihre Anwendung überflüssig.
 

Geordnetes tägliches Leben

Die täglichen Tätigkeiten müssen sinnvoll geplant und so angeordnet werden, dass sie eine direkte Beziehung zu dem Ziel der Selbsterkenntnis und Erleuchtung haben. Handlungen, die nicht diesem Zweck dienen, müssen unterbleiben.
Die Umgebung des Anfängers wird ihn vielleicht zuerst daran hindern, sich mit diesen Notwendigkeiten in Einklang zu setzen. Aber während seines Fortschreitens wird er entweder eine andere Umgebung erhalten, oder sie wird seinen geistigen Bedürfnissen angepasst werden. Dieser Vorgang mag langsam erscheinen, doch er wird sich vollziehen, und zwar in genauem Verhältnis zu dem Grad der Umwandlung in seinem Inneren. Die Umgebung eines Menschen enthält alles das, was seine entwicklungsgemäße Schulung erfordert. Der Mensch, welcher spirituell erwacht und sich immer rascher und inniger mit dem Leben in Einklang setzt, wird bemerken, dass seine Umgebung sich rasch ändert. Seine Lebensumstände werden mitzunehmender Treue den Zustand und die Veränderungen seines Bewusstseins widerspiegeln.
 

Reinheit des Körpers als Erfordernis für spirituelles Wachstum

Die das Gehirn betreffenden Gebote beziehen sich auch auf den ganzen Körper. Er muss ebenfallsinnen und außen rein gehalten werden. Sein Magnetismus soll durch häufiges, regelmäßiges Baden, Öfteren Kleidungswechsel und ein reines natürliches Leben geschützt und geläutert werden, selbst in einer unreinen und unnatürlichen Umgebung. Die Hände und die Füße sind jene Körperteile, welche am empfänglichsten für äußere magnetische Unreinheiten sind. Sie sind sozusagen magnetische Mündungen -Eingangspforten in das magnetische System des Körpers und gleichzeitig Austrittstore aus demselben. Man kann beim Händereichen durch die Berührung der eigenen Hand mit der eines anderen willentlich einen Strom von segnendem Magnetismus in diesen Menschen leiten. Der Grußeines Okkultisten muss aufrichtig und von einer positiven Absicht getragen sein. Aufrichtige und positive Haltung ist eine der bedeutendsten Sicherungen im okkulten Leben.
Das Gehirn kann als der Makrokosmos und der Körper als der Mikrokosmos angesehen werden, denn in jeder Körperzelle ist Gehirnleben gegenwärtig, wird Gehirnbewusstsein  geoffenbart und Gehirnenergie zum Ausdruck gebracht. Umgekehrt werden alle Funktionen, Handlungen und Erfahrungen des Körpers durch das Medium der Sinne im Gehirn reflektiert. Unreinheit des Körpers - ob durch Lebensführung oder mangelhafte Sauberkeit - hat einen hemmenden Einfluss auf die Höherentwicklung des Gehirns und trübt seine Schärfe. Außer seiner Funktion als das spezifische Organ der Intelligenz ist das Gehirn auch der Sitz des Ego-Bewusstseins. Es ist der physische Logos des KörperSonnensystems und befindet sich inständiger Wechselwirkung mit ihm. Daher die Notwendigkeit gewissenhafter aufmerksamer Sorge für die Reinheit und das Wohlbefindendes Körpers.
Okkulte und andere Praktiken, die den Körper in abnorme Funktionszustände zwingen, die bestimmte Organe oder Glieder über- oder unempfindlich machen, bringen zerstörende Wirkungen auf Körper und Gehirn hervor. Harmonie, Rhythmus, Leichtigkeit, Gleichgewicht und Anmut sind die Eigenschaften, zu denen der Neophyte seinen Körper erziehen sollte.
 

Meditation

Wenn der Körper so geschult und das Gehirn sensitiv gemacht worden ist, dann ist der Weg für das Herabsteigen und die physische Manifestation des Ego-Bewusstseinsgebahnt. Das Licht des höheren Verständnisses beginnt die Dunkelheit des persönlichen Intellektes zu erhellen, und der Mentalkörperentwächst seinen charakterlichen Eigenschaften, nämlich, dem Mangel an Elastizität sowie der Neigung zu Analyse, Kritik und Selbstabsonderung; diese werden durch geistige Aufgeschlossenheit, konstruktives Urteil und Vereinigungsstreben ersetzt.
Diese Wandlung im Mentalkörper ist wiederum für die Entwicklung des Gehirns von Wichtigkeit, denn jeder Zustand in dem einen Bewusstseinsorgan wird auch in dem andern widergespiegelt. Das Gehirn und das Intelligenz-Zentrum im Mentalkörperkönnen als der negative und der positive Brennpunkt in der Ellipse des persönlichen Bewusstseins betrachtet werden. Veränderungen in dem einen erscheinen sofort auch in dem anderen, die Vervollkommnung des einen ist ohne die des anderen unmöglich. Im Zustand des Wahnsinns und nach dem Tod ist das mentale Leben in hohem Grad subjektiv, weil ihm der negative Pol fehlt.
Der Weg zur höchsten intellektuellen Erleuchtung führt vom Gehirn zum Mentalkörper, von dort ins Ego-Bewusstsein und dann weiter aufwärts und nach innen durch die Intuition zum spirituellen Willen. Von dort führt er - beim Adepten -aus der individuellen in die universelle Sphäre, wo er der gleichen allgemeinen Richtung weiter ins kosmische Bewusstsein folgt. – Die Aufgabe, die vor dem Neophyten liegt, welcher bereits seinem Körper, Gehirn und Verstand die bestmögliche Aufmerksamkeit und Fürsorgeerweist, besteht darin, ein gewisses Maß von wachem Ego-Bewusstsein in sich zu begründen und es an Umfang und Beständigkeit fortwährend zu verstärken. Er sollte sein Denken unablässig in das Reich der Ur-Prinzipien erheben, die Gewohnheit erringen, alle intellektuellen Tätigkeiten zu der Ebene der höheren Vernunft empor zu tragen, und der Neigung widerstehen, das Denken von Einzelheiten gefangen nehmen zulassen.
Die Meditation über die ewigen Wahrheiten wird allein nicht zum Erfolg führen, sie muss durch ein standhafte und immer erfolgreichere Anstrengung unterstützt werden, den Geist während der Zeiten zwischen den Meditationen im höheren Bewusstsein festzuhalten. Die Haltung des Neophyten zu einer Handlung, die Gemütsbewegungen mit in sich schließt, wird ganz davon bestimmt werden, was für eine Wirkung sie auf dieses sein Bemühen hat. Gemütsbewegungen, welche das Denken ablenken und den Körper erregen, müssen konsequent vermieden werden. Solche, die eine vollere undfreiere Art des Selbstausdruckes herbeiführen, wie reine Liebe, Sympathie, religiöse Hingabe und Schönheitsempfinden, sollten zur höchsten Ausdrucksfähigkeit entfaltet werden, bis das Gefühlsleben aus ihnen allein besteht, wobei ihnen ihr Platz von dem durch die Vernunftwirkenden Willen zugewiesen wird.
 

Zirbeldrüse und Hypophyse

Auch bei diesen Bestrebungen spielt das Gehirn mit seinen verschiedenen Teilen und Organen eine Rolle von überragender Bedeutung. Das Gehirn ist die Wohnstatt desindividuellen Selbst es im inkarnierten Menschen. Es ist das innere Heiligtum im Tempel des Körpers. Alle seine Zellen sind von dem Erkenntnis-Aspekt des individuellen Selbst es durchdrungen. Jedes Molekül ist mit seiner Energie geladen, deren Grundschwingung oder Frequenz die des Denkens ist. Im Verhältnis zu dieser gedanklichen Beseelung des Gehirns ist die Gegenwart der beiden anderen Aspekte desdreifältigen Selbst es von bloß untergeordneter Bedeutung. Daher ist das ganze menschliche Gehirn ein Träger des erwachenden individuellen Ich-Bewusstseins, und seine Abteilungen entsprechen den Facetten des Juwels des menschlichen Erkenntnisvermögens, das heißt, den verschiedenen Eigenschaften des konkreten und abstrakten Verstandes.
Die Zirbeldrüse und die Hypophyse sind im Gehirn die Brennpunkte, durch welche sich das individuelle Bewusstsein in erster Linie offenbart. Von ihnen breitet sich das Bewusstsein über das ganze Gehirn aus, in Form von Energiewellen verschiedener Frequenz, je nach Art des Denkens. Im gewöhnlichen Menschen besteht die Fähigkeit der Zirbeldrüse auskonkretem Denken, mit gelegentlichen Ausdehnungen in das abstrakte Denken, während die Hypophyse Gemütsbewegungen übermittelt, mit gelegentlichen Ausdehnungen in die Intuition.
Im entwickelten Menschendringt die Intuition durch das Erkenntnisvermögen herab und wird durch dasselbe gedeutet. Sie erreicht das Gehirn durch die Zirbeldrüse. Indem Maß, in dem die Intuition sich entfaltet, wird das konkrete Denken allmählich in das Unterbewusstsein abgedrängt, es verbindet sich dort mit den Emotionen und erreicht das Gehirn durch die Hypophyse.
Die Entfaltung des Bewusstseins wird von einer parallel laufenden organischen Entwicklung des Gehirns begleitet, die auch eine Erweiterung des Bereiches der Schwingungsempfänglichkeit dieser beiden Drüsen mit sich bringt. Ihre positive und negative Polarität wird infolge ihrer wachsenden Tätigkeit als Empfänger und Übermittler stärker ausgeprägt, so dass eineunmittelbare Wechselwirkung - in elektrischen Begriffen ein magnetisches Feld - zwischen ihnen entsteht. Die dritte Gehirnkammerwird in dieses Feld eingeschlossen und vervollständigt den Aufbau eines dreifachen Mechanismus für die Offenbarung des dreifältigen Selbstes durch das Gehirn. [...]
 

VIERTES KAPITEL

Leben und Form

In der Natur ist die Form dem Leben untergeordnet, und so sollte es auch beim Menschen werden. Er muss von innen heraus leben und mehr die Erfüllung des Lebens suchen als die Verewigung der Form. Die Form ist die Dienerin des Lebens, aber in der Welt, in der der Strebende lebt, hat man das Leben der Formuntergeordnet. Das Leben ist trotzdem alles besiegend, und die Form muss, so stark sie auch sein mag, schließlich vernichtet werden. Diese Vernichtung bringt jenen Leid, welche ihr Vertrauen allein in die Formgesetzt haben. Dem aber, der gelernt hat, auf das Leben zu bauen, ist das Leid fremd, denn er hat das Geheimnis des Glückes gefunden. Da er eins mit dem Leben ist und dem Leben vertraut, teilt er dessen Freiheit und kennt dessen Seligkeit. Schmerz gehört den Formen an. Leiden ist unvermeidlich für jene, die unter der Herrschaft der Formen stehen, denn die Formen müssen, da sie vergänglich sind, unvermeidlich dahinschwinden; da sie sterblich sind, müssen sie eines Tages vergehen. Das Leben ist ewig dauernd, unsterblich; jene, die ihr Vertrauen auf das Leben setzen, werden den Tod überwinden und ewige Seligkeit gewinnen.
Leben und Form sind jedoch in Wirklichkeit keine Gegner. Sie sind zwei Aspekte des Einen, aus welchem sie beide hervorgehen. Dadurch, dass er beides erfährt und verstehen lernt, findet der Mensch seinen Weg zu dem Einen. Diese Vollendung ist das Ziel des menschlichen Lebens.
 

Der Weg nach oben

Leben und Form sind die beiden Pfeiler des Torweges, welcher zur Wohnstatt des Höchsten Einen führt. Zwischen ihnen und sie verbindend liegt jener Weg, den man sich konkret als eine Straße vorstellen kann, welche die Füße aller beschreiten müssen. Sogar die höchsten Götter sind diese Straße gewandert, jene sieben hohen Geistwesen, in welchen die sieben Töne oder Seins weisen am vollkommensten geoffenbart sind. Selbst der Höchste Eine hat die Freuden und Mühsale dieser Straße erfahren - vor langen, fernen Zeiten, in Universen, die jetzt zu Staub zerfallen sind.
Tiere, zivilisierte undkultivierte Menschen, Genies und Propheten, Weise und Heilige scharen sich auf der Straße, die zum ewigen Leben führt, und nähern sich immer mehr dem Ziel: der Pforte der Befreiung von den Paaren der Gegensätze. Jenseits dieser Pforte weilen die „gerechten, vollkommen gewordenen Menschen", die Adepten, die spirituellen Könige in der Wohnstatt desHöchsten.10 Man kann diesen mächtigen Wesen auch auf der Straße selbst begegnen, wenn sie freiwillig in die Einkerkerung des Lebens in Formen zurückgekehrt sind, um der strauchelnden Menschheit, ihren jüngeren Brüdern zu helfen, sie zu heilen, zu leiten und zu inspirieren. Aber obwohl sie sich unter der langsam empor klimmenden Menge bewegen, werden sie von den Menschen nur selten erkannt; denn die an die Verschiedenheiten und Teilungen der Offenbarungsformen des Einen gewohnten Augen der Menschensind blind für das Licht jener, welche in der Einheit wohnen. Doch die Großen werden von jenen Menschen wahrgenommen, die begonnen haben, die Einheit inmitten der Verschiedenheit, das Leben innerhalb der Formen zuerkennen und dieser ihrer Einsicht gemäß zu leben. Die Vollkommenen schauen immer nach jenen aus, in denen diese Einsicht aufdämmert, nachjenen, welche sich bemühen, den „Pfad" zu beschreiten, und die daher bereit sind, ihre Hilfe anzunehmen.
 

Ältere und jüngere Brüder

Im gegenwärtigen Zeitalter sind spirituell gesinnte Menschen zahlreich vorhanden; dadurch, dass sie sich zu Dienern der Menschheit machen, werden sie näher zu den älteren Brüdern herangezogen. In dieser Zeit wird der Schleier zwischen der äußeren Welt der Formen und der inneren Welt des Lebens immer dünner. Erleuchtete Menschen beginnen, diesen Schleier zu durchdringen und in die Welt des Lebens einzutreten. Die Vollkommenen bemerken dieses Eindringen, sie segnen und inspirieren ihre jüngeren Brüder, wenn diese sich dem inneren Reiche nähern, in welchem sie wohnen. Das Vorrecht der Gemeinschaft mit vollkommen gewordenen Menschen konnte immer von solchen Menschen errungen werden, welche fähig waren, die Einheit von allem, was lebt, die Tatsache der universalen Bruderschaft zu erkennen und ihr Leben in Übereinstimmung mit dieser Wahrheit zubringen. Allen jenen, welche ihre Gemeinschaft suchen und sich sehnen, der Menschheit unter ihrer Führung zu dienen, rufen die älteren Brüder in der Tat zu:
„Erhebet Euch! Erwachet! Werdet die Götter, die ihr seid! Lebet als Götter, rein, selbstlos und stark!"11
„Der Gott, der ihr in der wirklichen Welt seid, leuchtet dort in makelloser Reinheit, er strahlt selbstlose Liebe aus und beginnt, jene Stärke zu entfalten, welche die Verheißung der Allmacht ist."
„Inmitten der Unreinheit der Welt seid rein! Inmitten der Selbstsucht der Menschen dienet! In mittender Schwachheit der Menschen seid stark!"
„Durch solches Leben werdet ihr die Pforte zum ewigen Leben finden. Durch solches Dienen werdet ihr uns finden, die wir leben, um zu dienen. Durch solche Stärke werdet ihr unsere Stärke empfangen, die wir Pfeiler im Tempel des allmächtigen Gottes geworden sind."
„Im Schlaf und im Wachen wird unsere Kraft euch durchfluten für den Dienst der Welt. In unserem Namen und durch unsere Kraft werdet ihr zu Heilern der Welt werden, zu Tröstern in ihren Nöten und zu Inspiratoren jener, die fähig sind, auf das Ideal eines vollkommenen Lebens und auf die Gegenwart vollkommener Menschen zu reagieren."
„Eure Welt ist euer Erntefeld. Eure Mitmenschen sind seine Garben. Eure Aufgabe ist es, diese Garbeneinzusammeln, damit der göttliche Sämann, der sie ausgesät hat, nicht Menschen, sondern Götter als Ernte in sich aufnehmen kann."
„Lebet so, dass alle, die euer Leben sehen, danach trachten, eurem Leben nachzueifern! Dienet so, dass jene, die euch dienen sehen, auch ihrerseits dienen mögen! Seid so kraftvoll, dass alle, die eure Stärke sehen, Niederlagen in Siege umzuwandeln vermögen!"
„Von solcher Art sind unsere Lebensregeln. Gehorsam gegen sie wird euch uns näher bringen. Jeden von euch erwartet ein älterer Bruder, um aus jedem von euch einen Erlöser der Welt zu machen."
 
 

FÜNFTES KAPITEL

Der Weg in die Freiheit - Meisterschaft

Die Welt ist ein Gefängnis, und das Herz des Menschen ist die Gefängniszelle, in welche seine Seele eingekerkert ist. Durch das vergitterte Fenster der Sinne schaut die Seele in den Gefängnishof und sucht nach einem Entkommen. Für viele ist die Stunde der Freiheit aber noch nicht gekommen, denn sollten auch die Riegel zurückgeschoben und die Tore aufgeschlossen werden, so harren draußen noch grimmige Wächter, die den Weg versperren. Begierde, Leidenschaft, Sinnlichkeit, Hinterlist, Habgier, Selbstzufriedenheit, Egoismus, Hass und Stolz - das sind die einkerkernden Mächte. Sie sind wahrhaft grimmige Wächter, denn ihre Existenz hängt von der Einkerkerung der Seele ab. Deshalb setzen sie ihrer Vernichtung heftigen Widerstand entgegen. Gegen sie anzukämpfen, vermehrt jedoch nur ihre Stärke, denn die ihnen von der gefangenen Seele gewidmete Aufmerksamkeit ist die Quelle ihrer Lebenskraft.
Der Weg des Entkommens wird nicht durch Kampf mit diesen Mächten errungen. Der Weg in die Freiheitführt nicht nach außen durch die Tore des Gefängnisses, welches dadurch entstanden ist, dass die Seele sich den Fehlern und Lastern desniederen Selbstes ergeben hat. Der Weg führt hinweg von äußerem Kampf und Streit zum inneren Frieden. Der Gefangene muss nach innenentfliehen. Er muss aufhören, durch das vergitterte Fenster der Sinn ein den Gefängnishof hinaus zu starren, wo nur die Hindernisse zu finden sind, die seiner Freiheit entgegenstehen, und er muss aufhören, seine Laster durch direkten Angriff zu bekämpfen. Stattdessen muss er allesDenken von ihnen abwenden und sich auf die ihnen entgegengesetzten Tugenden und Kräfte konzentrieren. Auf diese Weise wird er in sich selber den Weg finden, er wird in einen höheren Bewusstseinsbereich eingehen und dort auf wunderbare Weise seine Freiheit erlangen.
Diesen Weg findet undbeschreitet man durch die Übung der Selbstbeherrschung, durch Reinheit des Lebens, durch ernstes Streben, Idealismus und Selbstaufopferung. In Gegenwart der Reinheit erstirbt das Verlangen. Reine Liebe vernichtet die Leidenschaft, besiegt jedes Übel und befreit jene, in denen sieerblüht. Von solcher Art ist der Weg der Befreiung aus dem Gefängnis der materiellen Welt, aus der Marter der Versuchung, aus der Sklaverei der Sinnlichkeit und der Einkerkerung durch Hass und Gier.
Dieser Weg steht allen offen. Jede befreite Seele ist ihn gewandert. Er wird der Pfad der Rasiermesserschneide, der Pfad der Heiligkeit oder der direkte und der schmale Weg genannt, und „wenige sind es, die ihn finden". Nahezu zweitausend Jahre sind dahingegangen, seit diese Worte gesprochen wurden. Während dieser Zeit ist die Menschheit vorangeschritten. Viele Menschen erkennen jetzt den Weg des Entrinnens, aber sie verharren -freiwillig oder durch die Macht der Gewohnheit - in der Gefangenschaft und ordnen sich freiwillig der Herrschaft des Verlangens unter. Sie sind die Blinden, welche nicht sehen wollen; diese sündigen weit mehr als die jüngeren Seelen, die für den Ruf der Freiheit noch nicht erwacht sind.
Viele Seelen empfinden jetzteine göttliche Unzufriedenheit; Sinn und Bedeutung derselben aber wird noch nicht verstanden. Die Menschen halten dieses unaussprechliche Sehnen des inneren Menschen irrtümlich für ein Verlangen der Sinne, ein physisches Begehren und suchen seine nagende Pein dadurch zu stillen, dass sie sich noch tiefer in Ausschweifungen stürzen. Sie sind noch nicht imstande, es als ein Zeichen zu erkennen, dass sie im Begriff stehen, den Freuden, durch die sie bisher unterjocht wurden (die die Spielzeuge der Kinderzeit ihrer Seele waren), zu entwachsen.
Das spirituelle Jugendalter der Menschheit ist aber jetzt erreicht und erfordert radikale undpositive Wandlungen. Das Sich-Gehen-Lassen muss weiser Askese und die Sinnlichkeit ernster Strenge gegen sich selbst Platz machen. Selbstsüchtige Motive müssen durch Uneigennützigkeit und Philanthropie ersetzt werden. So tritt man in das spirituelle Jugendalter. So wird der zur spirituellen Reife führende Pfad gefunden und beschritten.
Auf diesem Pfad sind jene vollkommenen Menschen gewandelt, welche die spirituellen Herrscher der Welt, die wahren Lehrer der Menschheit sind. Sie sind im Willen, in der Liebe und im Wissen vollendet, und sie offenbaren diese dreiEigenschaften des Höchsten in vollkommener Weise.
 
10 Vgl. Bibel, Brief an die Hebräer 12; 23 [Red.]. 
 
11 Vgl. Bibel, 1. Kor. 3, 16; Matth. 5, 48 [Red.].
 
 
G. Hodson: Meditationen über das okkulte Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Beatrice Flemming, Graz 1964, S. 13-25, S. 34-40 (vergriffen, Neuauflage in Vorbereitung).
 
 



Autor: Geoffrey Hodson