Mutter
Manfred Kyber
In einem Heukorb oben auf der Dachkammer lag eine
Katzenmutter mit zwei Katzenkindern. Die Kinder waren erst vor wenigen Tagen
zur Welt gekommen, und sie waren noch sehr hilflos - kleine Pfoten hatten
sie, die immer ausrutschten, und unverhältnismäßig große Köpfe mit blinden
Augen, die sich suchend im Magenfell der Mutter vergruben. Sehr sonderbar
sahen sie aus. Aber die Katze fand sie über die Maßen schön, denn es waren ja
ihre Kinder - das eine grau und schwarz getigert, wie sie selbst, eine
Schönheit also, wie man wohl ohne falsche Bescheidenheit sagen durfte - das
andere ganz der Vater, der bunt war, mit eleganten weißen Hosen und weißen
Handschuhen und einem Tupf auf der Nase, und der so gefühlvoll sang. Wie
hatten sie beide so
herrlich zusammen gesungen an den ersten Märzabenden im Garten, zweistimmig,
viele hübsche Lieder ... Sehr begreiflich, dass diese Kinder mit den kleinen
rutschenden Pfoten und den großen Köpfen so prachtvolle Geschöpfe geworden
waren, nicht nur Katzen, was an sich schon der Gipfelpunkt ist, wie jeder
weiß, nein, Katzenkinder, wie sie die Erde noch nicht gesehen! Stolz reckte
sich die Katzenmutter in die Höhe und betrachtete liebevoll schnurrend die
kleinen Wunder ihrer Welt.
Hier diese angenehme Bodenkammer schien übrigens in
jeder Hinsicht der richtige Ort zu sein, still und ungestört. Ein weicher
heugefüllter Korb, warm und überaus geeignet für die ersten Kletterversuche,
viel Gerümpel ringsherum, voller Spannungen und Entdeckungsmöglichkeiten,
freundlich vom Maimond beleuchtet, der durch die Fenster lugte, weite Flächen
zum Spielen, und dann - welch ein berühmtes Mausrevier, welch ein weites
Gebiet zur sachgemäßen Ausbildung der beruflichen Fähigkeiten!
„Ich sollte doch selbst mal ein wenig nach Mäusen
sehen", sagte die Katze, „die Kleinen schlafen, und eine Ablenkung würde
mir gut tun, Kinderpflege ist angreifend, und mir ist auch so, als hätte ich
einen beachtenswerten Appetit."
Die Katze erhob sich vom Heulager, beleckte schnell
noch einmal ihre Kinder und strich dann auf leisen Sohlen, schnuppernd, an
Kisten und Körben entlang. Es hatte doch, auch wenn man allmählich etwas in
die Jahre gekommen war, immer noch etwas angenehm Aufregendes, so nach
Mäusen zu schnüffeln. Und jetzt - raschelte da nicht jemand? Roch es nicht so
erbaulich nach Mäusen? War das nicht der feine Duft, unverkennbar für eine
kätzliche Nase? Noch einige vorsichtige Schritte, auf Samtpantoffeln -
niemand machte ihr das nach -, und dann stand sie vor einem Mäusenest, in dem
zwei kleine nackte Junge lagen.
Bloß Junge? dachte die Katze, da wären die
Samtpantoffeln überflüssig gewesen, die könnten weder laufen noch sehen. Es
lohnt überhaupt kaum, zwei kleine Bissen, weiter nichts. Aber man kann ja
immerhin, zur Stärkung sozusagen ...
Sie wollte
zupacken. Aber etwas in ihr redete.
„Sie können weder laufen noch sehen, ganz wie deine
Kinder. Sie sind völlig hilflos, und die Mutter wird wohl tot sein. Sie sind
so hilflos wie deine Kinder, wenn du nicht da bist. Es ist wahr, dass es
Mäuse sind, aber es sind kleine Mäuse, sehr kleine, es sind Kinder - nicht
wahr, du weißt es, was Kinder sind?"
Es war die Mutterliebe, die redete, und in ihr
redete die All-Liebe, ihr künftiger Geist. Er kann nur reden in einer
Mutterliebe, die sehr groß ist, so groß wie die Mutterliebe einer Katze, denn
sie ist eine der größten.
„Nicht
wahr, du weißt es, was Kinder sind?" fragte die Stimme.
Die Katze beugte sich herab, fasste die eine kleine
Maus vorsichtig mit den Zähnen und trug sie in ihren Heukorb. Dann ging sie
zurück und holte das andere Junge. Sie nahm beide an die Brust und säugte
sie, mit ihren zwei Katzenkindern zusammen.
Die kleinen Mäuse waren schon halb erstarrt, aber
sie erwärmten sich sehr bald im Magenfell der Katze. Sie waren halb
verhungert, aber sie sättigten sich bald an der Brust der Katze. Sie fühlten
sich völlig geborgen bei einer Mutter und ahnten es nicht, dass diese Mutter
eine Katzenmutter war. Wie sollten sie das wissen? Sie waren blind und
hilflos. Über ihnen lag schützend die krallenlose, weiche, samtene
Katzenpfote.
Die Katzenkinder wuchsen, und die Mäusekinder
wuchsen, beide öffneten die Augen, und das erste, was beide sahen, war die
gleiche Mutter und die gleiche große Mutterliebe.
Sie waren Kinder, und sie spielten miteinander, und
die Maisonne sah zum Fenster herein und spielte mit. Und sie wob einen
goldenen Schein um den Kopf der Katzenmutter.
Es ist dies eine wahre Geschichte. Sie ist nur
klein, und doch ist sie sehr groß. Es ward eine neue Welt in ihr geboren von
einem kleinen Geschöpf und in einer ärmlichen Dachkammer. Es wird auch nicht
immer so sein, noch lange nicht; aber es ist ein großes Ereignis, dass dies
geschehen ist. Die Gesetze der alten Welt sind stark und schwer, aber sie
werden überwunden, Stufe um Stufe, denn die All-Liebe ist eine lebendige
Kraft in der Seele dieser Erde. Langsam, sehr langsam wird die neue Welt aus
der alten geboren, und das geschah schon oft in einer ärmlichen Dachkammer,
und die Menschen wussten nichts davon. Die Menschen wissen so wenig, und am
wenigsten wissen die, welche am meisten zu wissen meinen. Sie wissen auch
nicht, ob Tiere beten. Aber ich glaube, dass auch Tiere in ihrer Not eine
Macht anrufen, die über ihnen ist [...]
Die Maisonne wusste, was die Menschen nicht wissen.
Denn sie wob einen goldenen Schein um den Kopf der Katzenmutter.
Manfred Kyber, Gesammelte Tiergeschichten,
Christian
Wegner Verlag, Hamburg
Autor: Manfred Kyber