Praktischer Okkultismus
 
Eva Jahn
 
Niederschrift eines Vortrages, der im Mai 2000 von der Verfasserin in Berlin gehalten wurde.
Zur Vertiefung wird dem Leser die von H. P. Blavatsky verfaßte Schrift „Praktischer Okkultismus" (Adyar-Verlag) empfohlen.
 
Oft ergab sich die Gelegenheit, öffentliche Theosophische Veranstaltungen zu besuchen, und wenn ich dann in die Gesichter der Zuhörer schaute, sah ich, dass sie gespannt an den Lippen der Vortragenden hingen. Manchmal sah ich auch so etwas wie „das habe ich nicht verstanden". Sprach ich den einen oder anderen darauf an, so hörte ich, dass Theosophie etwas wunderbar Beglückendes sei, jedoch habe man nicht alles verstanden, und dann kam die Frage: „Gibt es nicht einmal etwas ganz einfaches, womit man beginnen kann?"
 
Meister, Mahatmas, Avatara, Guru, Esoterik, Okkultismus — alles Worte, die fast in jedermanns Munde sind und meist in entstellter und erniedrigender Form gebraucht werden. Ich verstand die Fragenden und habe einmal in der Literatur unserer Großen nachgeschlagen, was sie uns hinterlassen haben, welche Wegweiser sie uns aus dem Schatz ihrer Erfahrungen gegeben haben.
 
Was ist eigentlich ,Okkultismus' ?
 
Im Schlüssel zur Theosophie (Adyar Studienausgabe, 3. erweiterte und überarbeitete Auflage 1995, S. 48) finden wir folgenden Dialog: „Kann jeder ein „Theosoph" oder ein „Okkultist " werden? Sind Theosophie und Okkultismus das Gleiche"?
 
„Keineswegs". - So sagt Frau Blavatsky, und weiter: - „Ein Mensch kann durchaus ein sehr guter Theosoph sein, sei es innerhalb oder außerhalb der Theosophischen Gesellschaft, ohne daß er in irgendeiner Weise ein Okkultist ist. Aber niemand kann ein wahrer Okkultist sein, ohne daß er ein wirklicher Theosoph ist; sonst ist er ganz einfach, sei es bewußt oder unbewußt, ein Schwarzmagier.
Ein wahrer Theosoph muß die erhabensten moralischen Ideale in die Tat umsetzen und muß danach trachten, seine Einheit mit der ganzen Menschheit zu verwirklichen. Er muß danach trachten, unaufhörlich für andere zu arbeiten. Wenn nun ein Okkultist all dies nicht tut, dann muß er selbstsüchtig für seinen eigenen Nutzen handeln, und wenn er tatsächlich mehr Kräfte erlangt als andere gewöhnliche Menschen, dann wird er dadurch ein viel gefährlicherer Feind für die Welt und seine persönliche Umgebung als ein gewöhnlicher Sterblicher. Das ist klar".
 
„Dann ist ein Okkultist also einfach ein Mensch, der mehr Kräfte besitzt als andere Menschen"?
 
„Er besitzt viel mehr Kräfte, wenn er ein praktischer und wirklich wissender Okkultist ist und nicht nur einer dem Namen nach..."
 
Lassen wir es vorerst bei diesen Worten von Frau Blavatsky bewenden, denn das Gesagte ist schwer genug, und es geht ganz klar daraus hervor, daß dem Okkultisten der Theosoph vorausgeht, der die erhabensten moralischen Ideale in die Tat umsetzen und ständig für andere arbeiten muß und der sich seiner Einheit mit der Menschheit ständig bewußt sein muß.
 
Wird nicht in der heutigen Zeit etwas ganz anderes „kultiviert"?, nämlich: das Bessersein, Größersein, mehr haben als andere? Ist das nicht die reinste Form des Egoismus? Im Buddhismus und auch in der Theosophie spricht man dabei von der „Ketzerei des Sonderseins".
 
Dr. Gottfried de Purucker hat dieser Ketzerei ein ganzes Kapitel in seinem Büchlein „Goldene Regeln der Esoterik" gewidmet, aus dem hier zitiert werden soll.
 
„Ein auf die persönliche Selbstheit gerichtetes Denken, das Suchen von persönlicher anstelle von spiritueller Freiheit ist der Pfad, der abwärts führt. Der Pfad des Ichs ist der Pfad zu immer tieferen Reichen und Sphären des Stoffes, bis schließlich am Ende des kosmischen Zyklus die Vernichtung kommt, wenn sich der Stoff selbst auflöst: Mâyâ, Stoff, ist Täuschung.
 
Strebe dem Lichte zu; pflege deine höheren Fähigkeiten. Hüte dich vor dem Trugglanz der niederen Natur, und ganz besonders vor der niederen Zwischennatur, welche die psychische genannt wird. Nichts ist so trügerisch wie die falschen Lichter Mâyâs. Oft enthalten schön aussehende Blumen tödliches Gift, entweder in der Knospe oder im Dorn oder in beiden. Ihr Honig ist todbringend, tödlich für die menschliche Seele. Suche zuerst deine spirituellen und intellektuellen Kräfte; bade dich im Lichte deiner spirituellen Natur, damit du geistiges Schauen und Willenskraft entwickelst; und dann werden diese anderen Fähigkeiten in dir von selbst, ganz natürlich und ungezwungen erwachen.
 
Das Gesetz der Gesetze des Alls ist Selbstvergessen, nicht Konzentration der Aufmerksamkeit auf unsere persönliche Freiheit, nicht einmal auf unsere Individualität. Das Grundgesetz des Alls will, daß wir für alle Dinge leben und nicht, daß jeder für sich lebe, um für sich die inneren spirituellen Kräfte zu entfalten. Die Weisung, die inneren, spirituellen Kräfte zu entwickeln, ist wohl richtig als allgemeine Forderung, doch ist sie als solche auch irreführend, gefährlich, unweise und deshalb ungeeignet als Regel esoterischer Schulung, es sei denn, sie werde richtiggestellt, ergänzt durch folgenden Zusatz: Gib auf dein Leben, so du es finden willst. Lebe für das Wohl der Menschheit, denn dies ist der erste Schritt. Wenn du die Sonne schauen willst, dann laß die Erde mit ihren Wolken hinter dir.
 
Die große Ketzerei und wahrhaft einzige Ketzerei ist der Gedanke, daß irgend etwas getrennt, gesondert und im Wesen verschieden sei von anderen Dingen. Dies ist eine Abirrung von natürlicher Tatsache und Gesetz, denn die Natur ist nichts als Zusammengliederung, Zusammenwirken und gegenseitige Hilfeleistung; und die Regel der fundamentalen Einheit ist vollkommen universal; jedes Ding im Universum lebt für alle anderen Dinge.
 
Dieses Gefühl des Getrenntseins ist die Ursache und Wurzel allen Übels. Es erzeugt die Leidenschaft des persönlichen Habenwollens: Ich will für mich, ich bin ich, mein eigen. Und der Wahn des persönlichen Sonderseins, der Glaube, daß wir von allen anderen getrennt, völlig verschieden seien, verhindert uns, zu jenem inneren Gott zu werden. Denn wenn wir zu jenem inneren Gott geworden sind, werden wir bewußt eins mit dem Universum, dessen Kinder wir sind, von dem wir ein unlösbarer Teil sind; und dies verbindet uns mit einem Quell unerschöpflicher Kraft, unbegrenzter Weisheit, da wir an dem Born der Inspiration trinken, welche dem Herzen des Alls entströmt. Jeder hat seine Wurzel und seinen Ursprung in dem All-Ozean der kosmischen Lebens-Intelligenz-Substanz.
 
Selbstsucht macht engherzig. Sie ist die Grundlage aller Entartung, jedes moralischen Verfalls, aller geistigen und körperlichen Schwäche; sie läßt uns verkümmern, sie legt Fesseln um uns und läßt uns keinen Raum zur Entfaltung und Wachstum. Die Selbstsucht ist die Wurzel allen Übels und deshalb die Wurzel geistigen Unvermögens, von Unzulänglichkeit, Kraftlosigkeit, von Mangel an Urteil und Unterscheidungskraft und von Herzlosigkeit. Die Selbstsucht ist deshalb der fruchtbare Boden, dem alles Unglück und alle Leiden entstammen. Sie ruft in uns beklagenswerte und schädliche Anschauungen wach, die uns an unseren beschränkten kleinen Gedankenkreis binden. Dann sind wir ein Gefangener im Kerker unserer eigenen Selbstsucht und deshalb in des Lebens edelsten Kämpfen schrecklich gehemmt. Die Selbstsucht macht uns zu einem Gefangenen, und unser Gefängnis ist unser niederes Selbst".1
 
Sind wir so selbstsüchtig wie G. v. Purucker es uns eben vor Augen geführt hat? Sicher nicht oder doch? Egoistisch - herzlos - nein niemals!---oder doch? Vielleicht ein wenig von allem? Nun ja, vielleicht ein wenig - aber doch nur manchmal.
 
Uns plagt bei diesen Gedanken starker Zweifel, und ein wenig graust es uns. Ob wir so sind? Wollten wir nicht immer ehrlich und wahrhaftig sein, Wahrheitssucher werden, stehen wir uns mit diesem Zweifel im Wege? Wie können wir dieses Gefängnis erkennen und uns daraus befreien? Gibt es einen gangbaren Weg?
 
Es gibt einen, einen uralten, der von Pythagoras niedergelegt worden ist und der lautet ungefähr folgendermaßen:
 
„Laß den Schlummer nicht nah'n deinen sinkenden Lidern, eh' du nicht dreifach geprüft dein Tagwerk und dich gefragt hast: Was ist gefehlt? Was geschah? Und was hätte noch sollen vollbracht sein?"
 
Eine kleine Regel - eine große Wirkung! Vor dem Einschlafen soll man also über sein Tagesgeschehen nachdenken und auch Bilanz ziehen. Warum? Versucht es einmal und ihr werdet eine erstaunliche Entdeckung machen - ihr werdet euch selbst kennenlernen. Solltet ihr einmal etwas beschönigen, bekommt ihr, nach ein wenig Übung, sofort einen Impuls, etwas klopft an, und es bleibt niemandem erspart, das Geschönte zu korrigieren, es ehrlich darzustellen. Eine prächtige Erziehungsmethode, glaubt mir.
 
Diese kleine Regel hat auch noch einen anderen Aspekt. Wenn man durch sie das Tagesgeschehen geordnet hat, sich für eventuelles schlechtes Benehmen zu entschuldigen gedenkt, sich seiner harten Worte einem anderen gegenüber schämt und sich vornimmt, sich dafür zu entschuldigen, alles Negative, das in seiner Magengegend rumorte, zu friedlicher Koexistenz in seinem Inneren bringt, kann man sicher sein, die Nacht tief, fest und traumlos zu schlafen.
 
Hierbei darf daran erinnert werden, daß gesagt ist, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes. Wenn man die Schwelle vom Wachsein zum Schlaf überschritten hat, ist man sich selbst nicht mehr bewußt. Unsere höhere Triade - Atma-Buddhi-Manas - verläßt den schlafenden Menschen, um in seinen Reichen Erfahrungen zu sammeln. Ist das nicht wunderbar schön, wenn die Seele ins Traumland untertaucht oder in die traumlosen Gefilde des Schlafes mit jenem Drange, der sie aufwärts in die höheren Regionen der spirituellen Natur trägt. Dann kehrt sie am Morgen nicht nur erfrischt zurück, sondern es ist auch ein Funke spiritueller und höher-intellektueller Weisheit entzündet, der unbewußt als vitaler Ansporn den ganzen kommenden Tag hindurch wirksam bleibt. Beruhigt und friedvoll erheben wir uns. Einfach und leicht ordnet sich alles ein. Alles scheint dann seinen harmonischen Lauf zu nehmen, nimmt ihn tatsächlich. Jeder kann diese Erfahrung machen, der sich darin übt. Falls Sie nach praktischen Regeln für den Okkultismus fragen: Hier haben Sie eine der besten. Sie können sie anwenden und werden Gewinn davon haben. Der Gewinn sollte aber nicht Ihr Beweggrund sein.
 
In seinem Buch „Wind des Geistes"(S. 151) sagt G. v. Purucker unter der Überschrift ,Verhaltensregeln': „UM UNSEREN GROSSEN GLEICH ZU WERDEN, muß man beginnen, ihnen gleich zu werden. So einfach ist das. Möchten Sie gern ein paar Regeln haben? Ich werde Sie Ihnen geben. Aber sobald der Verstand über Regeln nachdenkt, stellt er Fragen und Bedingungen und macht Einwände. Trotzdem, hier sind sie. Verhalten Sie sich im täglichen Leben so, daß Sie am Abend beim Zubettgehen die Ereignisse des soeben zu Ende gegangenen Tages betrachten und sich dabei sagen: Das habe ich richtig gemacht, das hätte ich besser machen können, und das habe ich gar nicht gut gemacht. Und nehmen Sie sich Ihre Erkenntnisse so zu Herzen, dass Sie, wenn der nächste Tag anbricht, an dem Sie vielleicht den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind, am Ende des zweiten Tages beim Zubettgehen mehr in Frieden mit sich selbst sind?
 
Sagen Sie immer die Wahrheit, außer wenn die Mitteilung der Wahrheit anderen Schaden oder Leid bringen würde. In diesem Falle seien Sie mitleidsvoll und leiden Sie stillschweigend. Besteht, wenn Sie Ihre Wünsche erfüllen wollen - das heißt, wenn Sie etwas erlangen, bekommen oder anschaffen wollen - die Gefahr, dass Sie es nur auf Kosten anderer, durch deren Schmerz oder deren Verlust erreichen können? Oder können Sie das Gewünschte nur durch Falschheit erlangen, durch Betrug, was man auch als falsches Spiel bezeichnet? Sind Sie stark genug, diesem Schritt nach unten zu widerstehen? Es kann der erste Schritt in den Abgrund sein. Erkennen Sie, wenn Sie den ersten Schritt abwärts gemacht haben, daß nach dem nächsten Schritt der Versuch folgen wird, die Tat schamvoll zu verschweigen und zu verhüllen? Man wird dadurch nicht nur zum Betrüger, sondern auch zum Heuchler. Der dritte Schritt fällt leicht, denn wenn Entdeckung droht, versucht man die Spuren zu verwischen, indem man an die Nachsicht, an die Vergebung und an das Mitleid der anderen appelliert und vorgibt, man hätte für diesen und jenen so gehandelt, weil das Herz weh tut, nur um überhaupt etwas zu sagen.
 
Drei Schritte: Und haben Sie gemerkt, dass jeder Schritt eine Entstellung Ihres Charakters bedeutet, eine Mißgestaltung Ihrer Seele und der natürlichen menschlichen Impulse Ihres Herzens, dass Sie dadurch Ihrem Charakter ein unauslöschliches Zeichen eingeprägt haben, das vielleicht für Äonen vorhanden bleiben wird? Wieviel besser und einfacher ist es, nach Möglichkeit zu vermeiden, die Füße durch falsche Handlungen zu beschmutzen. Oder, wenn man dabei ertappt wird, dass man sich losreißen und um jeden Preis mit den Göttern verbinden will.
 
Ich könnte noch viel mehr Regeln geben. Diese Regeln sind das Einfachste in der Welt. Sie sind so wunderbar okkult, so einfach und klar, dass die Menschen die meiste Zeit nicht an ihre Wirksamkeit glauben; dennoch sind es die Regeln, die von den größten Weisen und Sehern der Welt aufgestellt worden sind: Leben Sie aufrichtig, sprechen Sie die Wahrheit, lassen Sie Ihr Leben rein und sauber sein, so dass Sie jedem Menschen ohne Scham ins Gesicht sehen können. Tun Sie anderen - ich will es in der anderen Form sagen —, fügen Sie niemandem etwas zu, was Sie selbst nicht von anderen erleiden wollen. Auf diese Weise entstehen im Laufe der Zeit die Buddhas, die heiligsten Menschen auf Erden."
 
Ganz einfach, nicht wahr? - Wirklich, ganz, ganz einfach! An anderer Stelle fragt G. v. Purucker noch: „Haben Sie heute schon jemanden verteidigt, der nicht anwesend war, als er irgend einer Tat bezichtigt wurde"? - Haben Sie - ?
 
Seien Sie versichert, wenn Sie alle ,guten' Taten bejaht haben, Sie werdengeprüft! Hoffentlich merken Sie es auch gleich - die Prüfungen schleichen sich nämlich ganz unbemerkt ein!
 
Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt, denn den zweiten Teil haben wir ja schon fast komplett im ersten Teil dieses Vortrages gelesen. Und die Regeln werden sich immer und immer wieder wiederholen, bis wir eines Tages zu diesem Inhalt der Regeln, zu diesem Idealismus und dieser Selbstlosigkeit geworden sind, dann haben wir einen großen Schritt gemacht, wir haben unser selbst verloren und unser Selbst gefunden.
 
Doch glauben Sie nicht, daß es nur Dinge gibt, die wir tun sollten, nein es gibt auch eine ganze Menge Dinge, die der Mensch, der Theosophie studiert, nicht tun sollte oder tunlichst unterlassen oder vermeiden sollte.
 
In den , Echoes of the Orient' (I / 446) hat sich William Quan Judge der Dinge angenommen, die man vermeiden sollte. Warum? Weil sie der Sache nicht dienlich sind und anstatt die Menschen in ihrem Denken auf die Lehren und ihre Wahrheiten aufmerksam zu machen, bei diesen Menschen nur Widerspruch wecken würden. Wir behindern sie durch diesen Widerspruch, an ihr spirituelles Inneres zu gelangen, und haben irgendwann karmische Wiedergutmachung zu leisten. Also, warum nicht vermeiden, was zu vermeiden möglich ist?
 
Doch lassen wir W. Q. Judge zu Worte kommen: „Sprich oder schreib nicht, dass man von Moralität und Ethik nichts gewußt hätte, ehe H. P. B. die, Stimme der Stille' schrieb. Manche unserer ergebenen Schar kann man in einer Weise sprechen hören, dass die Zuhörer glauben, der Sprecher wolle die Idee verbreiten, dass nur in der, Stimme der Stille' oder in anderen ähnlichen Büchern von uns die hohe und wahre Ethik zu finden sei, nach der man sein Leben führen wollte. Der Buddhismus, das Christentum und alle anderen Religionen lehren dieselbe Moral, und die Literatur ist voll davon.
 
Sage nicht, dass alle theosophischen Lehren zum erstenmal von den Mahatmas durch ihre theosophischen Chelas ausgegeben wurden. Alles allein den Mahatmas zuzuschreiben, ist dumm und kann leicht bestritten werden.
 
Sage nicht bei jeder Gelegenheit: ,Uns wird dieses gelehrt und uns wird so gesagt'. Die Zahl der Lehren von den Mahatmas, die man zum erstenmal durch H. P. Blavatsky erwähnt findet, ist klein. Was Vorstellung und Tiefe betrifft, sind sie ungewöhnlich und leicht zu erkennen.
 
Erkläre nicht alles mit Hilfe einer Theorie, d.h., sei nicht so unzulänglich und tue den ganzen Spiritismus mit den Worten ab: , Alles nur Spuks und Schalen'. Das ist nicht richtig und die Folge davon wird Widerspruch sein.
 
Sage nicht, dass die Wissenschaft immer Unrecht hat und die Wissenschaftler Materialisten sind. Huxley hat uns gute Dienste geleistet. Er hat erst vor kurzem Bewußtsein als einen dritten Faktor im Universum anerkannt und sieht ihn nicht nur als einen Teil von Kraft und Materie. Auch Spencer2 hat manches Gute in seinen Werken. Außerdem, wenn ihr wissen wollt, was H. P. Blavatsky in dieser Hinsicht sagt, dann könnt ihr ihre Worte dahingehend nachlesen, dass die Wahrheit in einer Vereinigung von Wissenschaft mit dem Okkultismus zu finden ist.
 
Denkt oder sagt nicht, dass Phänomene gute Sprungbretter zur Theosophie sind. Sie sind es nicht. Die, die sich darauf stützen, werden fallen und dabei Schaden leiden. Setzt weder den Geist wahren Christentums herab, noch bildet euch ein, dass wir Geistliche und Kongregationen, en masse' in Theosophen verwandeln können. Der wahre Geist des Christentums, wie man sich ihn im Anfang zu lehren bestrebte, ist ohne Zweifel Theosophie; aber der Wahrheit wird nicht gedient, indem man den Glauben eines ganzen Volkes angreift."
 
So geht es noch eine ganze Weile weiter. Ich glaube aber, dass dieser kleine Vorgeschmack einstweilen genügen sollte, um zu erkennen, was den Lehren und der Wahrheit schadet und was nützt, denn sind die Lehren nicht zum Wohle der Menschheit und deren Entwicklung ausgegeben mit dem Ziele — Wahrheit — ?
 
Suche zuerst deine spirituellen und intellektuellen Kräfte; bade dich im Lichte deiner spirituellen Natur, damit du geistiges Schauen und Willenskraft entwickelst, waren die Empfehlungen von G. v. Purucker. Um dorthin zu gelangen, müssen wir nach den kleinen, vorangegangenen Regeln leben, sie stets beherzigen und all unser Tun stets kritisch überwachen. Die Veränderung unseres Charakters tritt, wie schon erwähnt, ganz unmerklich ein, aber sie tritt ein! Und wenn Sie einmal bei einer Tat oder Hilfeleistung, die Sie ganz spontan tun, obwohl Ihnen vielleicht bekannt ist, es mit einem mürrischen Wesen zu tun zu haben, dem Sie helfen wollen, bei der Sie deshalb absolut nichts erwartet haben, was man ja auch nicht sollte, ein tief inniges Dankeschön erhalten, was Sie dann auch noch so richtig verwundert, und sich in Ihnen so ein tiefes, unbestimmbares Gefühl der Freude darüber bemerkbar macht, dann ist es vielleicht die Freude, die aus den spirituellen Reichen Ihres Wesens kommt. Diese Freude ist leise und still, nicht laut und lärmend, sie ist im tiefsten Innern bewegend. Nehmen Sie sie einfach dankbar wahr, denn nun wissen Sie, weil die Erfahrung es gelehrt hat, wo die Spiritualität ihren Sitz hat; im Kern des Kernes Ihres Wesens - im Selbstvergessen. Einmal haben Sie nun von dieser spirituellen Freude gekostet aber noch lange nicht darin gebadet. Und wieder steht der Mensch am nächsten Fragezeichen: Baden in dieser Freude? Nein, gewiss nicht, denn wäre das nicht wieder Egoismus und Selbstsucht. Was also tun?
 
Katherine Tingley hat darauf eine wunderschöne Antwort: Imagination3!
 
„Schüler der Theosophie", so sagt sie, „die einen gewissen Punkt erreicht haben, wünschen manchmal genauere Erklärungen zu bekommen, um auf die eine oder andere Weise persönlichen Nutzen aus dem Wissen zu ziehen. Ohne Ansporn zur Anstrengung, ohne Vertrauen, ohne Glauben ist jedoch nichts möglich. Wir gehen in der Gewißheit schlafen, dass wir am kommenden Morgen wieder aufstehen werden. Wir stecken einen Samen — mit vollem Glauben, dass die Natur das ihrige tun wird und dass die Saat aufgeht und Frucht bringt.
 
Das Traurige ist nur, dass viele Menschen die Imagination nicht richtig erkennen, mit der sie gesegnet sind. Imagination, anerkannt als eine befreiende Macht, ist es, die die Perlen der Poesie und der Kunst hervorbringt, die wir so sehr bewundern; und das Gemüt, das durch diese Macht entsprechend geleitet wird, ist es, das uns alle emporheben wird.
 
Ich glaube nicht an Wunder, aber ich behaupte, dass die Imagination eine wundervolle schöpferische Macht besitzt. Ich behaupte, dass die Imagination, wenn wir sie in die höhergeistige und schöpferische Gedankenwelt aufsteigen lassen - das erschaffen kann, was sonst wirklich als ein Wunder erscheint.
 
Jedoch ist diese Imagination, wie alles andere auch, zweifacher Natur. Auf niederen Ebenen wirkt sie in ihrer Macht so zerstörend, wie sie auf höheren schöpferisch und aufbauend wirkt.
 
Gebraucht Eure Vorstellungskraft! Ihr kommt in Berührung mit einem mystischen Gesetz, wenn Ihr in der Vorstellungskraft ein Bild von mächtigen Dingen erschafft, denn Ihr öffnet dabei ein Tor in Euch für neue Kräfte. Eine Art machtvoller Energien wird erweckt und zum Leben und zur äußeren und inneren Kraftentfaltung aufgerufen. Wenn Ihr höheres Sehnen empfindet, belebt es in Eurer Vorstellungskraft. Macht Euch ein Bild von dem spirituellen Leben, so wie Ihr wißt, dass es sein sollte, und tragt dieses Bild bei Euch, Tag um Tag. Hegt es lieb als Euren ständigen Begleiter. Nehmt es mit Euch zum Frühstück, zum Mittag— und Abendessen, und ehe Ihr Euch verseht, ist ein neues Leben zur Geburt gelangt; das Ideale ist zum Wirklichen geworden, und ihr habt Euren Platz eingenommen als ein Schöpfer in dem großen göttlichen Plan des Lebens"4.
 
Hier sei noch bemerkt, daß man diese Imagination nicht mit Phantasie verwechseln darf, denn dann ist es nicht die aufbauende, sondern die zersetzende Seite der Kraft, wie Katherine Tingley sie geschildert und verdeutlicht hat.
 
H. P. Blavatsky gab ihren Schülern stets den Rat, über die Einheit allen Lebens nachzudenken oder zu meditieren, und nicht nur allen Lebens, sondern über die Einheit von allem, was ist! Versuchen Sie es, und sie werden sehen, dass Katherine Tingleys vorangegangene Worte sich bewahrheiten. Außerdem haben Sie eine weitere kleine Regel, die sie in Ihr tägliches Dasein einbauen können.
 
Bauen Sie dieses in Ihnen wachsende Bewußtsein um die Einheit allen Seins in Ihren Tagesablauf ein, so wie Katherine Tingley es beschrieb, zum Frühstück, zum Mittag- und Abendessen, und sie werden erleben, wie etwas in Ihnen wächst. Dies ist das Licht der spirituellen Natur, in das der Mensch eintauchen oder baden soll, wie G. v. Purucker es uns riet, damit geistiges Schauen und Willenskraft entwickelt werden.
 
Wenn Sie diese Betrachtung über die Einheit allen Seins täglich angewendet haben, werden Sie alles, was Ihnen begegnet, mit anderen, mit liebevolleren Augen ansehen. Jeder andere Mensch dieser Welt trägt das gleiche Leben in sich wie Sie selbst, jeder Hund, jeder Vogel, jeder Wurm ist Ihr brüderliches Ich, selbst die Steine und der Sand des Strandes tragen Leben in sich, wenn auch noch schlafend. Wenn Sie darüber schreiten, denken Sie dankbar daran, dass das eine Leben ein anderes, nämlich das Ihre trägt und sein Opfer bringt. Der Sand dient damit allen, die darüber laufen, so wie wir einzelnen Menschen der Menschheit zu dienen haben. Sehen Sie die Schönheit und Erhabenheit in diesem Gedanken? Wenn das Gefühl dafür in Ihnen ganz stark und tief geworden ist, gehen Sie einmal in den Wald. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, der Wind treibt kleine Wolken vor sich her, die Vögel zwitschern, rings um Sie her ist Stille. Dann gehen Sie hin zu der Kiefer, legen Sie ihre Hand an ihre Rinde oder legen Sie Ihre Stirn gegen den Stamm, öffnen Sie all Ihre Sinne ganz weit und lassen Sie das Gefühl der Einheit und Liebe in sich wachsen. Lassen Sie die Kiefer spüren, dass sie eines mit Ihnen ist und Sie eines mit ihr sind. Vielleicht erhebt sich dann in den Wipfeln der umliegenden Bäume ein Beben und Rauschen, vielleicht fällt Ihnen auch in diesem Augenblick ein Kienapfel vor die Füße - eine Antwort des Baumes — ?
 
Schwingt da nicht etwas in uns? Pulsiert nicht da etwas? Hören wir noch einmal Worte von Katherine Tingley: „Ich kam nie in die Wälder, ohne dass die Vögel nicht schöner sangen, solange ich dort war. Nicht dass ich ihnen dazu die Kraft gegeben hätte; aber sie fühlten, als Teil des großen Gesetzes in ihrer Schlichtheit das Sehnen meiner Seele nach dem Hauch der süßen Natur und sie sangen mir. Ich habe in der Behandlung von Blumen große Erfahrung gemacht; sie haben der Sehnsucht meiner Seele gerade die Antwort gegeben, die am notwendigsten war. Die winzigsten Atome der Erde haben ihre Stimme, und diese Stimmen sind eben ein Teil von uns".5
 
Wir beginnen langsam zu ahnen, was das Reinigen unseres Charakters, das Reinigen unseres Wesens für wundervolle Veränderungen mit sich bringt.
 
Und wenn Sie dann einmal jemand fragt, ob sich das alles lohnt und wo und wie und womit es alles beginnt - dann können Sie mit Sicherheit sagen, es beginnt mit dem Denken und dem beginnenden inneren Sehnen, das Leid der Menschen lindern zu wollen.
 
Erlauben Sie mir zum Abschluß, Ihnen noch ein Letztes mit auf den Weg zu geben. Es sind ein paar Sätze, die in den Schulen des Altertums ausgegeben wurden, die aber für die, die Theosophie und praktischen Okkultismus studieren und leben wollen auch heute noch die gleiche Gültigkeit besitzen, wenn nicht sogar mehr denn je.
 
- Ein strahlender Gedanke - ein reiner, starker, selbstloser Gedanke, der im Gemüt aufstrahlt, erhebt das ganze Wesen zu den Höhen des Lichtes. Von diesem Punkt aus kann bis zu einem gewissen Grade die Heiligkeit des Augenblicks und Tages ermessen werden.
Dies sollte zu erreichen gesucht werden ...
 
- Wenn der Jünger beginnt, sein Leben gemäß dem Höheren Gesetz seines Wesens bewußt zu vertiefen und zu erweitern, so muß er sich daran erinnern, daß ihm bei jedem Schritt Ideenverwirrung, hinter der die Begierde steht, gegenübertreten wird. Der strahlende Gedanke, als Wächter und Meister, wird, wenn als solcher erkannt, zur helfenden Macht.
 
Denkt darüber nach!...6
 
 1 Goldene Regeln der Esoterik, S.97-10
 
2 Herbert Spencer, *1820 +1903, engl. Philosoph; Prof. Thomas Huxley, *1825 +1895, engl. Naturforscher und Philosoph
 
3 Imagination (engl.), schöpferische Vorstellungskraft
 
4 „Der Pfad des Mystikers" , S.42-43
 
5 „Der Pfad des Mystikers", S. 37
 
6 „Der Pfad des Mystikers", S. 53
 
 
 


Autor: Eva Jahn