Wir alle haben bereits eine lange Reihe physischer Leben hinter uns, und jeder Durchschnittsmensch hat eine ziemlich große Anzahl solcher Leben noch vor sich. Jedes dieser Leben ist einem Schultage zu vergleichen. Das Ego[1] bekleidet sich mit einem physischen Körper und begibt sich in die Schule der physischen Welt, um darin bestimmte Lektionen zu lernen. Es lernt sie, je nach den Umständen, entweder gut, schlecht oder gar nicht, während seines Schultages im irdischen Leben; sodann legt es das Gewand des Fleisches wieder ab und kehrt in seine eigene Welt zurück, um sich auszuruhen und zu erholen. Am Morgen eines jeden neuen Tages nimmt es seine Lektionen an dem Punkte wieder auf, an dem es diese am Abend vorher unterbrach. Manche Lektionen lernt es vielleicht in einem Tage, während es für andere viele Tage benötigt.

Handelt es sich um einen befähigten Schüler, der schnell das Notwendige lernt, gelingt es ihm, die Vorschriften der Schule mit Intelligenz zu erfassen, und bemüht er sich, sein Verhalten danach zu richten, dann ist sein Schulleben von verhältnismäßig kurzer Dauer; wenn es vorüber ist, dann geht das Ego, vollkommen ausgestattet, in das wirkliche Leben der höheren Welten ein, für welche dieses Leben nur eine Vorbereitung ist. Andere Egos sind unbegabtere Schüler, die nicht so rasch lernen; einige von ihnen haben kein Verständnis für die Gesetze der Schule, und in ihrer Unwissenheit verstoßen sie infolgedessen fortwährend gegen sie; andere wiederum sind eigensinnig und können, selbst wenn sie das Gesetz verstanden haben, ihr Handeln nicht mit ihm in Einklang bringen. Alle diese Egos haben eine längere Schulzeit durchzumachen, und sie verzögern durch ihr Tun ihren Eintritt in das wirkliche Leben der höheren Welten.

Denn dies ist eine Schule, in der kein Schüler endgültig fehlgeht; jeder muss sie völlig absolvieren. Er hat darin keine Wahl; nur die Länge der Zeit, in der er sich für die höheren Prüfungen qualifiziert, ist zu bestimmen ihm selbst überlassen. Der weise Schüler, der einsieht, dass das Schulleben nichts weiter ist als die Vorbereitung zu einem herrlichen und weit reicheren Leben, bestrebt sich, die Gesetze der Schule so vollkommen wie möglich zu verstehen und sein Leben ganz mit ihnen in Harmonie zu bringen, so dass beim Lernen aller notwendigen Lektionen keine Zeit verloren geht. Er arbeitet weise im Einklang mit den Lehrern, und sein entschlossener Wille versucht soviel Arbeit wie möglich zu leisten, so dass er sobald wie möglich die Reife erlangt und als verklärtes Ego in sein Königreich einzieht.

Die Theosophie erklärt uns die Gesetze, unter denen diese Lebensschule durchlebt werden muss und gewährt daher ihren Schülern große Vorteile. Das erste große Gesetz ist das der Entwicklung. Jeder Mensch muss vollkommen werden, muss die in ihm schlummernden göttlichen Kräfte voll und ganz zur Entfaltung bringen; denn diese Entfaltung ist, soweit der Mensch dabei in Frage kommt, der Zweck des ganzen Plans. Dieses Entwicklungsgesetz treibt ihn stetig vorwärts, immer höheren Möglichkeiten zu. Der Weise versucht, den Forderungen des Gesetzes zuvorzukommen – dem notwendigen Drängen desselben vorauszueilen, denn dadurch vermeidet er nicht nur alle Zusammenstöße mit ihm, sondern er erhält auch das Höchstmaß der Hilfe durch die Wirksamkeit des Gesetzes. Der im Wettlauf des Lebens zurückbleibende Mensch findet, dass das Treiben der Lebenswogen ihn gewaltsam vorwärts zwingt, und, falls er widerstrebt, er sich durch den Druck Schmerzen verursacht. Daher kommt es, dass der Nachzügler auf dem Entwicklungsweg stets das Gefühl hat, von seinem Schicksal gejagt und getrieben zu werden, während derjenige, der in vernünftiger Weise mitwirkt, die freie Wahl hat, irgendeine Richtung einzuschlagen, solange diese nur vorwärts und aufwärts führt.

Das zweite große Gesetz, unter dem diese Evolution vor sich geht, ist das Kausalgesetz, oder das Gesetz von Ursache und Wirkung. Es kann keine Wirkung geben ohne eine Ursache, und jede Ursache muss ihre Wirkung hervorbringen. Eigentlich sind beide nicht eine Zwei-, sondern eine Einheit, denn die Wirkung ist in Wahrheit ein Bestandteil der Ursache, und wer das eine in Bewegung versetzt, bewegt gleichzeitig auch das andere. In der Natur gibt es weder Belohnung noch Strafe, sondern nur Ursache und Wirkung. Jedermann kann dies in der Mechanik oder in der Chemie beobachten; der Hellseher sieht dies ebenso deutlich bei den Problemen der Entwicklung. Dasselbe Gesetz herrscht in den höheren wie in den niederen Welten, und dort wie hier ist der Reflexionswinkel gleich dem Einfallswinkel. Es ist ein Gesetz der Mechanik, dass Wirkung und Rückwirkung gleich und entgegengesetzt sind. In der fast unendlich feineren Materie der höheren Welten tritt die Reaktion durchaus nicht immer augenblickliche ein; sie kann sich bisweilen auf lange Zeiträume erstrecken, aber sie wirkt unvermeidlich und exakt.

Genauso sicher, wie das mechanische Gesetz in der physischen Welt, arbeitet auch das höhere Gesetz. Der Mensch, der einen guten Gedanken aussendet, oder eine gute Tat verrichtet, erhält auch wieder Gutes zurück, während derjenige, der böse Gedanken ausschickt oder Böses tut, mit der gleichen Genauigkeit Böses zurückerhält. Das ist, wie bereits gesagt wurde, durchaus keine durch irgendeinen höheren Willen vollzogene Belohnung oder Strafe, sondern einfach das bestimmte und mechanische Resultat eigenen Tuns. Der Mensch weiß ein mechanisches Resultat in der Welt zu schätzen, weil die Rückwirkung gewöhnlich unmittelbar eintritt und von ihm gesehen werden kann. Er versteht aber nicht immer die Rückwirkungen in den höheren Welten, weil diese einen weiten Umweg machen und weil die Rückwirkung oftmals nicht mehr im physischen Leben, sondern erst in einem Leben in den höheren Welten hervortritt.

In der Wirksamkeit dieses Gesetzes liegt die Erklärung vieler Probleme des gewöhnlichen Lebens. Es erklärt die verschiedenen Schicksale der Menschen und auch, warum die einzelnen Menschen so voneinander verschieden sind. Wenn der eine in einer gewissen Richtung intelligent und ein anderer dumm ist, so hat das seinen Grund darin, dass der gescheite Mensch in einem früheren Leben eifrig bemüht war, in jener besonderen Richtung sich zu üben, während der Dumme dies zum ersten Mal versucht. Das Genie und das Wunderkind sind Beispiele für die durch eifrigste Tätigkeit in früheren Leben hervorgebrachten Resultate und haben nicht das mindeste zu tun mit einer Begünstigung durch irgendeine Gottheit. Alle die uns umgebenden mannigfaltigen Umstände sind die Wirkung unserer eigenen Taten in der Vergangenheit, ebenso wie die Eigenschaften, die uns anhaften. Wir selbst haben uns zu dem gemacht, was wir sind, und unsere Verhältnisse sind genau diejenigen, die wir verdient haben.

Aus: C. W. Leadbeater, Ein Textbuch der Theosophie, Ring-Verlag Ernst Pieper, Düsseldorf, 1932 S. 80-83

[1] Das höhere Selbst

 


Autor: C. W. Leadbeater