… Wir alle haben bereits eine lange Reihe physischer Leben hinter uns, und jeder Durchschnittsmensch hat eine ziemlich große Anzahl solcher Leben noch vor sich. Jedes dieser Leben ist einem Schultage zu vergleichen. Das Ego bekleidet sich mit einem physischen Körper und begibt sich in die Schule der physischen Welt, um darin bestimmte Lektionen zu lernen. Es lernt sie, je nach den Umständen, entweder gut, schlecht oder gar nicht, während seines Schultages im irdischen Leben; sodann legt es das Gewand des Fleisches wieder ab und kehrt in seine eigene Welt zurück, um sich auszuruhen und zu erholen. Am Morgen eines jeden neuen Tages nimmt es seine Lektionen an dem Punkte wieder auf, an dem es diese am Abend vorher unterbrach. Manche Lektionen lernt es vielleicht in einem Tage, während es für andere viele Tage benötigt. 

Handelt es sich um einen befähigten Schüler, der schnell das Notwendige lernt, gelingt es ihm, die Vorschriften der Schule mit Intelligenz zu erfassen, und bemüht er sich, sein Verhalten darnach zu richten, dann ist sein Schulleben von verhältnismäßig kurzer Dauer; wenn es vorüber ist, geht das Ego, vollkommen ausgestattet, in das wirkliche Leben der höheren Welten ein, für welche dieses Leben nur eine Vorbereitung ist. Andere Egos sind unbegabtere Schüler, die nicht so schnell lernen; einige von ihnen haben kein Verständnis für die Gesetze der Schule, und in ihrer Unwissenheit verstoßen sie infolgedessen fortwährend gegen sie; andere wiederum sind eigensinnig und können, selbst wenn sie das Gesetz verstanden haben, ihr Handeln nicht mit ihm in Einklang bringen. Alle diese Egos haben eine längere Schulzeit durchzumachen; und sie selbst verzögern durch ihr Tun ihren Eintritt in das wirkliche Leben der höheren Welten.

Denn dies ist eine Schule, in der kein Schüler endgültig fehlgeht; jeder einzelne muss sie völlig absolvieren. Er hat darin keine Wahl; nur die Länge der Zeit, in der er sich für die höheren Prüfungen qualifiziert, ist zu bestimmen ihm selbst überlassen. Der weise Schüler, der einsieht, dass das Schulleben nichts weiter ist als die Vorbereitung zu einem herrlichen und weit reicheren Leben, bestrebt sich, die Gesetze der Schule so vollkommen wie möglich zu verstehen und sein Leben ganz mit ihnen in Harmonie zu bringen, so dass beim Lernen aller notwendigen Lektionen keine Zeit verloren geht. Er arbeitet weise im Einklang mit den Lehrern, und sein entschlossener Wille versucht soviel Arbeit wie möglich zu leisten, so dass er sobald wie möglich die Reife erlangt und als verklärtes Ego in sein Königreich einzieht.

Die Theosophie erklärt uns die Gesetze, unter denen diese Lebensschule durchlebt werden muss und gewährt daher ihren Schülern große Vorteile. das erste große Gesetz ist das der der Entwicklung. Jeder Mensch muss vollkommen werden, muss die in ihm schlummernden göttlichen Kräfte voll und ganz zur Entfaltung bringen; denn diese Entfaltung ist, soweit der Mensch dabei in Frage kommt, der Zweck des ganzen Planes. Dieses Entwicklungsgesetz treibt ihn stetig vorwärts, immer höheren Möglichkeiten zu. Der Weise versucht, den Forderungen des Gesetze zuvorzukommen – dem notwendigen Drängen desselben vorauszueilen, denn dadurch vermeidet er nicht nur Zusammenstöße mit ihm, sondern er erhält auch das Höchstmaß der Hilfe durch die Wirksamkeit des Gesetzes. Der im Wettlauf des Lebens zurückbleibende Mensch findet, dass das Treiben der Lebenswogen ihn gewaltsam vorwärts zwingt, und, falls er widerstrebt, er sich durch den Druck Schmerzen verursacht. Daher kommt es, dass der Nachzügler auf dem Entwicklungswege stets das Gefühl hat, von seinem Schicksal gejagt und getrieben zu werden, während derjenige, der in vernünftiger Weise mitwirkt, die freie Wahl hat, irgendeine Richtung einzuschlagen, solange diese nur vorwärts und aufwärts führt.

Das zweite große Gesetz, unter dem die Evolution vor sich geht, ist das Kausalgesetz, oder das Gesetz von Ursache und Wirkung. Es kann keine Wirkung geben ohne Ursache, und jede Ursache muss ihre Wirkung hervorbringen. Eigentlich sind beide nicht einen Zwei-, sondern eine Einheit, denn die Wirkung ist in Wahrheit ein Bestandteil der Ursache, und wer das eine in Bewegung setzt, bewegt gleichzeitig auch das andere. In der Natur gibt es weder Belohnung noch Strafe, sondern nur Ursache und Wirkung. Jedermann kann dies in der Mechanik oder der Chemie beobachten; der Hellseher sieht dies ebenso deutlich bei den Problemen der Entwicklung. Dasselbe Gesetz herrscht in den höheren wie den niederen Welten, und dort wie hier ist der Reflexionswinkel gleich dem Einfallswinkel. Es ist ein Gesetz der Mechanik, dass Wirkung und Rückwirkung gleich und entgegengesetzt sind. In der fast unendlich feineren Materie der höheren Welten tritt die Reaktion durchaus nicht immer augenblicklich ein; sie kann sich bisweilen auf lange Zeiträume erstrecken, aber sie wirkt unvermeidlich und exakt.

Genauso so sicher, wie das mechanische Gesetz in der physischen Welt, arbeitet auch das höhere Gesetz. Der Mensch, der einen guten Gedanken aussendet oder eine gute Tat verrichtet, erhält auch wieder Gutes zurück, während derjenige, der böse Gedanken ausschickt oder etwas Böses tut, mit der gleichen Genauigkeit Böses zurückerhält. Das ist, wie bereits gesagt wurde, durchaus keine durch irgendeinen höheren Willen vollzogene Belohnung oder Strafe, sondern einfach das bestimmte und mechanische Resultat eigenen Tuns. Der Mensch weiß ein mechanisches Resultat in der Welt zu schätzen, weil die Rückwirkung gewöhnlich unmittelbar eintritt und von ihm gesehen werden kann. Er versteht aber nicht immer die Rückwirkungen in den höheren Welten, weil diese einen weiten Umweg machen und weil die Rückwirkung oftmals nicht mehr im physischen Leben, sondern erst in einem Leben der höheren Welten hervortritt.

In der Wirksamkeit dieses Gesetzes liegt die Erklärung vieler Probleme des gewöhnlichen Lebens. Es erklärt die verschiedenen Schicksale der Menschen und auch, warum die einzelnen Menschen so voneinander verschieden sind. Wenn der eine in einer gewissen Richtung intelligent und ein anderer dumm ist, so hat das seinen Grund darin, dass der gescheite Mensch in einem früheren Leben eifrig bemüht war, in jener besonderen Richtung sich zu üben, während der Dumme dieses zum erstenmal versucht. Das Genie und das Wunderkind sind Beispiele für die durch eifrigste Tätigkeit in früheren Leben hervorgebrachten Resultate und haben nicht das mindeste zu tun mit einer Begünstigung durch irgendeine Gottheit. Alle die uns umgebenden mannigfaltigen Umstände sind die Wirkung unserer eigenen Taten in der Vergangenheit, ebenso wie die Eigenschaften, die uns anhaften. Wir selbst haben uns zu dem gemacht, was wir sind, und unsere Verhältnisse sind genau diejenigen, die wir verdient haben.

Es gibt jedoch eine bestimmte Regulierung oder Verteilung dieser Wirkungen. Obgleich dieses Gesetz ein Naturgesetz ist und sich mechanisch auswirkt, so existieren doch gewisse große Engel, die es zur Ausführung bringen. Zwar können sie die auf einem Gedanken oder eine Tat folgenden Resultate nicht um das Gewicht einer Feder verändern, aber sie vermögen innerhalb gewisser Grenzen das Eintreten der Rückwirkung zu beschleunigen oder zu verzögern und entscheiden, unter welcher Form sie eintreten soll.

Würde dies nicht geschehen, dann stände zum mindesten die Möglichkeit offen, dass ein Mensch auf einer früheren Entwicklungsstufe einen so schweren Irrtum begeht, dass dessen Wirkungen stärker sein würden, als er sie ertragen könnte. Es liegt in der Idee des göttlichen Planes, dem Menschen einen freien Willen zu geben, der bis zu einem gewissen Grade doch beschränkt ist; benützt er die ihm gewährte Freiheit gut, dann verdient er sich für das nächste Mal das Recht auf eine etwas größere Freiheit; benützt er sie hingegen schlecht, dann hat er infolge der daraus entstehenden Wirkungen zu leiden, auch ist er durch das Resultat seiner früheren Handlungen in seinen Fähigkeiten oder Verhältnissen beschränkt. In dem Maße, wie der Mensch lernt, seinen freien Willen zu gebrauchen, wird ihm eine immer größere Freiheit gewährt, so dass er tatsächlich in der Richtung des Guten zu unbeschränkter Freiheit gelangen kann; hingegen seine Freiheit, Böses zu tun, ist sehr beschränkt. Er kann auch, solange er noch unwissend ist, sein Leben nicht zugrunde richten, aber er kann so schnell wie er will vorwärts schreiten. Auf den frühen Entwicklungsstufen des Wilden herrscht im großen und ganzen natürlich mehr Böses als Gutes, und wenn solch einen unentwickelten Menschen auf einmal die ganze Summe der Wirkungen seiner Taten bestürmte, so würden dadurch die noch schwachen, neu erworbenen Kräfte wohl erstickt werden.

Außerdem sind die Folgen seiner Handlungen auch dem Charakter nach verschieden. Während die einen ein sofortiges Resultat nach sich ziehen, benötigen die anderen viel mehr Zeit zu ihrem Auswirken, und daher kommt es, dass um den entwickelten Menschen eine Wolke teils guter, teils schlimmer Wirkungen schwebt, die sich früher oder später auf ihn entladen werden. Aus dieser Wolkenmasse (die wir des Vergleiches willen als eine den Naturmächten zahlbare Schuld ansehen wollen), wird bei jeder seiner sukzessiven Geburten ein gewisser Teil fällig, und diesen Teil kann man in jedem besonderen Leben als das Schicksal des Menschen betrachten. Das bedeutet indessen weiter nichts, als dass des Menschen ein gewisses Maß Freude und ein gewisses Maß Leid harrt, und zwar absolut unvermeidlich. Wie er aber nun seinem Schicksal entgegentreten und welchen Vorteil er für sich daraus ziehen wird, das bleibt ihm durchaus selbst überlassen. Eine gewisse Menge Kraft muss sich in seinem Leben auswirken. Nicht kann das Wirken dieser Kraft verhindern, aber sie kann dadurch modifiziert werden, dass eine neue Kraft in einer anderen Richtung angewendet wird, in derselben Weise, wie bei der Mechanik. Mit den durch üble Taten in der Vergangenheit angehäuften Schulden verhält es sich so, wie mit anderen Schulden. Sie können auf der Bank des Lebens durch einen großen Scheck - in diesem Fall durch irgendeine furchtbare Katastrophe - oder auch durch kleinere Noten - kleinere Sorgen, Kummer und Verdruss - getilgt werden, in manchen Fällen sogar durch Kleingeld, d.h. durch eine große Menge kleiner Ärgernisse. Eines aber ist gewiss: auf irgendeine Art und Weise muss die Schuld bezahlt werden. Die Verhältnisse, in denen wir uns in unserem jetzigen Leben befinden, sind also durchaus die Resultate unserer Taten in vergangenen Leben, und auf der anderen Seite wieder schaffen unsere Taten in diesem Leben die Verhältnisse unseres nächsten Lebens. Ein Mensch, der sich in seinen Fähigkeiten oder in seinen äußeren Umständen begrenzt findet, wird nicht immer in der Lage sein, aus sich oder seinen Verhältnissen das zu machen, was er wünscht, aber er kann sich indes ganz bestimmt für sein nächstes Leben alles verschaffen, was er will.

Jede Tat eines Menschen ist nicht nur auf ihn selbst wirkend, sondern sie wirkt stets auch auf andere. In manchen Fällen kann diese Wirkung verhältnismäßig unbedeutend, in anderen Fällen dagegen sehr ernst und schwerwiegend sein. Die unbedeutenden Resultate, gute oder schlechte, sind einfach kleine Guthaben oder Schulden in unserer Abrechnung mit der Natur; aber die größeren, guten oder bösen Wirkungen, stellen eine persönliche Rechnung dar, die mit dem dabei in Betracht kommenden Menschen selbst ausgeglichen werden muss.

Ein Mensch, der einem hungrigen Bettler ein Mahl reicht oder ihn durch ein gütiges Wort aufrichtet, wird aus dem allweisen Schatze der Natur das Resultat seiner guten Handlungen erhalten; aber jemand, der durch seine Handlungsweise den ganzen Lebenslauf eines Menschen in bessere Bahnen lenkt, wird diesem in einem späteren Leben ganz gewiss wieder begegnen, damit diesem Gelegenheit gegeben werde, die erwiesene Freundlichkeit seinem Wohltäter zurückzuzahlen. Ein Mensch, der einem anderen Verdruss bereitet, wird genau im Verhältnis dazu irgendwie und irgendwo leiden, wenn er auch den Menschen, der durch ihn gelitten hat, niemals wieder trifft; derjenige aber, der eines anderen Leben zugrunde richtet, ihm ernstes Leid zufügt oder seine Entwicklung aufhält, wird seinem Opfer später einmal ganz gewiss wieder begegnen, damit er so Gelegenheit habe, durch Güte und aufopfernde Dienste das getane Unrecht wieder gutzumachen. Kurz gesagt: große Schulden müssen persönlich beglichen werden, während kleine in den allgemeinen Fond übergehen.

Dies also sind die Hauptfaktoren, die eines Menschen zukünftiges Leben bestimmen. Zuerst wirkt das große Entwicklungsgesetz und zwar in der Richtung, dass es den Menschen in jene Position zu bringen versucht, in der er die am meisten benötigten Eigenschaften am leichtesten entwickeln kann ...

  

aus: Ernst Pieper „Ein Textbuch der Theosophie von C. W. Leadbeater“, 
Ring Verlag, 2. Aufl. 1932, S. 80-86

 



Autor: C. W. Leadbeater