„Schlagartig stand ich in

wunderbarem, weißem Licht“

Gudrun Römer

Ärzte und Wissenschaftler versuchen, Nahtoderfahrungen mit chemischen Prozessen im Körper des Sterbenden zu erklären. Die zahlreichen Berichte von überwältigenden Visionen und einem großen Glücksgefühl wurden einem Verlust des kritischen Urteils, zum Beispiel der Hypoxie, einer Abnahme des Sauerstoffs im Gehirn, zugeschrieben1.
 
Die Berichte über das Gefühl, dass man sich durch einen Tunnel bewegt und ein wunderbares, weißes Licht erblickt, wurden als direkte Folge von Phosphenen erklärt, die das Sehzentrum stimulieren. Es gibt Ärzte, die meinen, dass Erlebnisse intensivster Liebe und tiefer Erkenntnis möglicherweise von einer Überfl utung mit Endorphinen ausgelöst werden, die von der Evolution zur Ausblendung von
Schmerz vorgesehen ist, wenn die Schmerzen zu grauenhaft sind.2

Andere haben eine Reizung der Schläfenlappen, eine Überlastung mit Kohlendioxid und andere biochemische Erklärungen angeführt, um Nahtoderfahrungen zu erklären. Ronald Siegel meint: „Diese Phänomene stammen aus ganz gewöhnlichen Gehirnstrukturen, ganz gewöhnlichen, biologischen Erfahrungen und ganz gewöhnlichen Reaktionen des Nervensystems auf Reize. Das davon abgeleitete Erlebnis mag als Indiz gedeutet werden, dass die Menschen nach dem Tod weiterleben, aber wesentlich plausibler wäre die Erklärung, dass es sich um eine dissoziative halluzinatorische Gehirntätigkeit handelt.“3 Wie erklären dann dieselben Wissenschaftler meine Erfahrung?

1991 war ich eine junge Ehefrau und Mutter zweier Kinder, berufstätig und stand mit beiden Beinen fest im Leben. Ich war zwar Mitglied einer Kirche, aber dies war keine bewusste Hinwendung zum
Glauben, sondern eher der Strohhalm, nach dem ich griff in meiner Todesangst. Ich sah, dass vielen Menschen ihr Gottvertrauen half, diese Todesangst zu überwinden, und so wollte ich auch glauben. Aber tief in mir half es nicht, war ich doch eine überzeugte Materialistin, glaubte nicht an Gott oder ein Leben nach dem Tod. Im Gegenteil, oft hatte ich nachts regelrechte Panikattacken vor Todesangst. Ich fiel in ein schwarzes Loch, fühlte mich wie lebendig begraben, hilflos eingesperrt
in einem engen Sarg, schrie vor Angst und klammerte mich hilflos an meinen Mann.

An einem schönen Frühlingsmorgen im Mai 1991 machte ich einen Waldspaziergang. Ich war eine kerngesunde Dreiunddreißigjährige, hatte noch nie in meinem Leben Drogen genommen und trank fast gar keinen Alkohol, praktizierte keine Meditation oder Yoga. Mein Weltbild war ein materialistisches. Dieser Morgen war besonders schön. Das kleine Waldstück liegt in einem Tal, durchschnitten von einem Bach und ist ziemlich verwildert, was zu einer üppigen Vegetation und Vogelwelt führt. Das Frühlingskonzert der Vögel ist dort überwältigend. Der Boden war überwuchert von Buschwindröschen und Veilchen, und die Bäume standen im schönsten Maiengrün. Es roch intensiv nach Erde und Zerfall. Als ich an einen großen umgefallenen Baum kam, blieb ich stehen und betrachtete dieses schöne Bild. Betrachtete, wie er sich aufl öste und wieder zu Humus wurde, war ganz hingerissen davon, dass nichts verloren geht, sondern Moose, Käfer und Insekten daraus neues Leben schöpfen. Dieser alte schon halbzerfallene und von Moosen und Flechten überwucherte Stamm war so schön.

Dann dachte ich: „Das ist sinnvoll und schön. Ich könnte mich jetzt neben diesen Stamm legen und „sterben“ und es wäre ganz egal. “Schlagartig stand ich in weißem, wunderbarem Licht. Mein Körper
schien verschwunden und ich empfand überwältigende Liebe. Eine Liebe, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Alle menschlichen Worte versagen, um diese Liebe zu beschreiben. Bis zu diesem Erlebnis hatte ich geglaubt, dass die größte Liebe, die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist. Ich hatte meine Söhne nach der Geburt an die Brust genommen, geweint vor Glück und Liebe und gedacht, dass ich für diese kleinen Winzlinge sofort sterben würde. Aber der unbeschreibliche Zustand, in dem ich mich an diesem Frühlingstag befand, übertraf diese Mutterliebe bei weitem.

Was geschah dort mit mir? Ich war doch nur auf einem Waldspaziergang, stand, wie gesagt, nicht unter Drogen, war kerngesund und hatte eine ganz und gar materialistische Weltanschauung, für die besonders die Erziehung in einer DDR-Schule verantwortlich war. Dieser Zustand hielt nur wenige Minuten an, aber er veränderte mein gesamtes Leben. Anfangs wagte ich mit niemanden darüber zu reden, musste mir erst selbst darüber klar werden, was da mit mir passiert war. Offensichtlich hatte ich gedanklich meinen materiellen Körper neben diesem zerfallenden Stamm abgelegt.

Durch dieses Ereignis verlor ich von einem Tag auf den anderen sämtliche Ängste, vor allem diese panische Todesangst in der Nacht. Heute arbeite ich im ehrenamtlichen Hospizdienst und betreue Sterbende. In diesem Zustand hatte ich ein tiefes Wissen von der Einheit allen Seins. Ich wusste, dass es völlig gleichgültig ist, wo und was ich in diesem Universum war und bin. Alles ist Eins! Und das ist ein
großes Glück. Ich hatte den Eindruck, alles Wissen der Menschheit zu besitzen. Davon ist in meinem Bewusstsein ein tiefer Abdruck geblieben. Für mich war dieses Erlebnis so real, wie sonst nichts in meinem Leben, noch nicht einmal die Geburt meiner Söhne.

Wissenschaftlern, die mir einreden wollen, diese Erfahrung wäre eine Halluzination oder Vision gewesen, kann ich nur entgegnen: Nichts in meinem Leben war realer. Dann ist eher das gesamte andere Leben eine Vision.

Heute bin ich fünfzig und dieser Waldspaziergang ist über 17 Jahre her. Trotzdem war er das einschneidendste Erlebnis in meinem bisherigen Leben. Die völlige Angstfreiheit und ein tiefes Gottvertrauen sind geblieben und eine tiefe Sehnsucht nach dem weißen, wunderbaren Licht. Dort ist meine Heimat.Seitdem bin ich auf der spirituellen Suche, praktiziere Yoga, meditiere und übe, konzentriert im Jetzt zu sein. Der tiefe Abdruck, den dieses Ereignis in meiner Seele hinterlassen hat, lässt mich jetzt wissen (wissen, nicht glauben), wo ich hin will. Was mein Ziel ist.

Das ist sehr schön. Ich wünsche allen Menschen eine solche Erfahrung.

Dresden, 29. Januar 2009

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Anmerkung der Redaktion

Obigen Bericht erhielten wir vor kurzem briefl ich von der Verfasserin.

Im Rahmen der Nahtod-Forschung, insbesondere durch die großangelegte Studie des Kardiologen Pim van Lommel (Arnheim 2001), veröffentlicht in The Lancet (Dec. 2001) sowie durch die Untersuchungen von Sam Parnia / Peter Fenwick (University of Southampton), ferner durch die OP-Dokumentation von Prof. Michael Sabohm (Pam Reynolds) am St. Joseph’s Hospital in Atlanta (USA) zeigte es sich, dass Bewusstsein und Gedächtnis unabhängig vom Körper existieren können.

Es konnte belegt werden, dass die Betroffenen ihre Nahtod-Erfahrung genau dann hatten, als keinerlei körperliche Reaktion mehr zu verzeichnen war: „Diese Patienten hatten die übersinnlichen Erfahrungen genau dann, wenn man sie am wenigsten erwarten würde – wenn das Gehirn keine Funktionen mehr ausüben und keine bleibenden Funktionen mehr formen kann.“ (S. Parnia u. a.: „A qualitative and quantitative study of the incidence, features and aetiology of near death experience in cardiac arrest survivors“, in: Resuscitation 48 (2001).

Ch. W.
 
1 E. A. Rodin: „The Reality of Near-Death Experiences: A Personal Perspective”, in: Journal of Nervous and Mental Diseases, No. 168 (1980), S. 259-63.

2 P. Shaver: „Consciousness without the Body”, Besprechung von „Flight of Mind: A Psychological Study of the Out-of-Body Experience“ von H. J. Irwin und „Heading toward Omega: In Search of the Meaning of Near-Death Experience“ von K. Ring, in: Contemporary Psychology 31 (1986), S. 645-647, hier: S. 647.

3 R. Siegel: „The Psychology of Life after Death”, in: American Psychologist, Vol. 35 (10), Oct. 1980, S. 911-931.
 




  


Autor: Gudrun Römer