Schmähung
W. Q. Judge
Ein Weiser beobachtete die Welt und nahm wahr, wie viel Elend durch Bosheit und törichte Beleidigungen verursacht wird, nur um Eitelkeit und selbstsüchtigen Stolz zu befriedigen. „Wenn ein Mann mir törichterweise ein Unrecht zufügt", sagte er, „so will ich ihn da­für mit neidloser Liebe beschirmen; je mehr Böses von ihm kommt, desto mehr Gutes soll von mir ausgehen; der Wohlgeruch des Guten wird immer zu mir zurückkommen, und der schädliche Hauch des Bösen geht zu ihm zurück." Ein törichter Mensch, der vernommen hatte, daß der Weise den Grundsatz beachte, Böses mit Gutem zu ver­gelten, kam zu ihm und schmähte ihn. Der Weise aber schwieg still und bemitleidete die Torheit des Lästerers. Nachdem der Mann seine Schmähung beendet hatte, fragte er: „Mein Sohn, wenn ein Mann sich weigerte, ein ihm dargebotenes Geschenk anzunehmen, wem würde es gehören?"
 
Der Lästerer antwortete: „In diesem Falle würde es dem gehören, der es darbietet."
 
„Mein Sohn", sagte der Weise, „du hast mich geschmäht, aber ich weigere mich, deine Schmähung anzunehmen und bitte dich, sie zu behalten. Wird sie dir nicht eine Quelle von Leid sein? Wie der Wi­derhall zum Laut gehört und der Schatten zu dem Gegenstand, der ihn wirft, so wird Leid den Übeltäter sicher ereilen."
 
Der Lästerer gab keine Antwort, und der Weise fuhr darauf fort: „Ein böser Mensch, der einen tugendhaften schmäht, ist wie einer, der em­porblickt und den Himmel anspeit; der Speichel verunreinigt nicht den Himmel, sondern fällt zurück und beschmutzt ihn selbst. — Der Ver­leumder ist einem Menschen gleich, welcher bei widrigem Winde einen anderen mit Staub bewirft; der Staub fällt auf den zurück, der ihn wirft. Der Tugendhafte kann nicht verletzt werden, und die Schmach, welche sein Widersacher ihm zufügen wollte, fällt auf die­sen selbst zurück." Beschämt ging der Schmähsüchtige von dannen. Urteile nie im Zorn, denn der Zorn vergeht, aber das Urteil bleibt.
 
Aus: „Theosophischer Wegweiser" I, S. 57
 


Autor: W. Q. Judge