Selbstvervollkommnung
H. P. Blavatsky
Ist moralische Vervollkommnung also das, worauf in
Ihrer Gesellschaft der größte Wert gelegt wird?
Zweifellos! Wer ein wahrer
Theosoph sein will, muß sich dazu bringen, auch als ein solcher zu leben.
Wenn das so ist, dann widerspricht aber das
Verhalten einiger Mitglieder dieser Grundregel in bemerkenswerter Weise.
Sicherlich. Aber das ist unter
uns nicht anders als unter jenen, die sich Christen nennen und trotzdem wie
Teufel handeln. Das ist kein Fehler unserer Satzungen und Regeln, der Grund
liegt in der menschlichen Natur. Selbst in einigen exoterischen Zweiggruppen
geloben die Mitglieder ihrem „Höheren Selbst", ein Leben nach den
Vorschriften der Theosophie zu führen. Sie sollten ihr göttliches Selbst dazu
bringen, ihre Gedanken und Taten, jeden Tag und in jedem Augenblick ihres
Lebens zu leiten. Ein wahrer Theosoph sollte „gerecht handeln und bescheiden
wandeln".
Was meinen
Sie damit?
Einfach folgendes: Das einzelne
Selbst muß sich um der vielen Selbste willen vergessen. Lassen Sie mich mit
den Worten eines echten Philaletheiers antworten, eines Mitglieds, der es im
„Theosophist" so wundervoll ausgedrückt hat: „Vor allem anderen muß der
Mensch zuerst sich selbst finden und dann eine ehrliche Bestandsaufnahme
seines subjektiven Zustands machen. Wie schlimm und armselig das Resultat
auch sein mag, es ist nicht hoffnungslos, wenn wir uns ernsthaft um Erlösung
bemühen." Aber wie viele tun dies? Jeder ist bereit, für seine eigene
Entwicklung und für sein eigenes Fortkommen zu arbeiten, aber sehr wenige wollen das für die anderen tun. Derselbe Autor sagt weiter:
„Die Menschen wurden schon zu lange betrogen und getäuscht. Sie müssen ihre
Idole stürzen, ihrem Scheinleben entsagen und beginnen, an sich selbst zu
arbeiten. Aber jeder, der nur für sich selbst arbeitet, sollte besser ganz
aufhören und lieber für andere, für alle arbeiten. Für jede Blume der Liebe
und des Wohlwollens, die er im Garten seines Nachbarn pflanzt, wird in seinem
eigenen ein Unkraut verschwinden. Und so wird dieser Garten der Götter - die
Menschheit - wie ein Rosengarten erblühen. Dies wurde ganz klar in den
heiligen Schriften aller Religionen gelehrt. Aber mutwillige Menschen haben
diese Lehren zuerst falsch ausgelegt und schließlich abgeschwächt,
materialisiert und verächtlich gemacht. Wir brauchen keine neue Offenbarung,
jeder Mensch kann sich selbst eine Offenbarung sein. Sobald des Menschen
unsterblicher Geist vom Tempel seines Körpers Besitz ergriffen und die
Geldwechsler und alles Unreine verjagt hat, wird sein eigenes göttliches
Menschsein ihm Erlösung bringen. Wenn er so eins mit sich selbst geworden
ist, erkennt er den ,Erbauer des Tempels'."
Ich muß
gestehen, das ist reiner Altruismus.
So ist es. Und wenn nur jedes
zehnte Mitglied der Gesellschaft ihn wirklich praktizieren würde, dann wäre
sie in der Tat eine auserwählte Körperschaft. Aber unter den Außenstehenden
wird es immer Menschen geben, die sich weigern, den wesentlichen Unterschied
zwischen der Theosophie und der Theosophischen Gesellschaft, zwischen Idee
und ihrer unvollkommenen Verkörperung, zu sehen. Diese würden jedes Vergehen
und jede Unvollkommenheit des menschlichen Körpers dem reinen Geist
zuschreiben, der ihn mit seinem göttlichen Licht erleuchtet. Widerfährt den
beiden dadurch Gerechtigkeit? Sie werfen Steine auf eine Vereinigung, die
versucht, ihr Ideal zu verwirklichen und zu verbreiten trotz aller
Widerstände. Einige setzen die Theosophische Gesellschaft herab, nur weil
sie sich bemüht, das zu erreichen, womit andere Systeme - vorzugsweise das
kirchliche und staatliche Christentum - vollkommen gescheitert sind, und andere, weil
es ihnen nur um die Erhaltung des bestehenden Zustandes geht. So machen es
die Pharisäer und Sadduzäer in Moses Stuhl, die Zöllner und die Sünder, die
sich in ihren hohen Stellungen breit machen, wie das Römische Reich in seiner
Periode der Dekadenz. Edel denkende Menschen sollten aber wissen, daß der
Mensch, der tut, was in seinen Kräften steht, ebenso viel tut, wie
derjenige, der das meiste vollbracht hat in dieser Welt der relativen
Möglichkeiten. Das ist eine einfache Wahrheit, axiomatisch illustriert für
alle, die an das Evangelium glauben, durch die Parabel von den Talenten, die
der Meister seinen Dienern gibt: Der Diener, der seine zwei Talente
verdoppelt, wird ebenso hoch belohnt wie der andere Diener, der fünf Talente
erhalten hatte. Jedem Menschen wird seinen Fähigkeiten gemäß gegeben.
Trotzdem ist es hier ziemlich schwierig, das
Abstrakte vom Konkreten abzugrenzen, da wir nur nach dem letzteren urteilen
können.
Warum wollen Sie dann gerade bei
der Theosophischen Gesellschaft eine Ausnahme machen? Gerechtigkeit muß
ebenso wie die Nächstenliebe im eigenen Heim beginnen. Wollen Sie die
Bergpredigt schmähen und verspotten, weil Ihre sozialen, politischen und
sogar religiösen Gesetze bisher nicht in der Lage waren, die Vorschriften
dieser Bergpredigt dem Geiste nach auszuführen, sondern nicht einmal dem
toten Buchstaben nach? Schaffen Sie den Eid ab in den Gerichten, im
Parlament, in der Armee und überall, und handeln Sie wie die Quäker, wenn Sie
sich Christen nennen wollen! Schaffen Sie überhaupt die Gerichte ab, denn
wenn Sie den Geboten Christi folgen wollen, dann müssen Sie dem, der Ihnen
den Mantel nimmt, auch noch den Rock geben und dem Raufbold, der Sie auf die
rechte Backe schlägt, auch die linke hinreichen. „Widersteht nicht dem Übel,
liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen und tut Gutes denen, die euch
hassen"; denn, „wer immer eines der kleinsten Gebote brechen mag und
lehrt die Leute so, der soll der Geringste heißen im Himmelreich", und „wer immer sagen mag ,du Narr', der ist
des höllischen Feuers schuldig". Warum wollen Sie urteilen, wenn Sie
nicht wollen, daß auch über Sie ein Urteil gesprochen wird? Wenn Sie darauf
bestehen, daß zwischen der Theosophie und der Theosophischen Gesellschaft
kein Unterschied ist, dann setzen Sie damit das System und das ganze Wesen
des Christentums den gleichen Angriffen aus, nur in einer noch ernsteren
Weise.
Warum
ernster?
Während sich die Leitenden der
theosophischen Bewegung ihre Unzulänglichkeiten eingestehen und alles
versuchen, um Verbesserungen zu schaffen und die vorhandenen Übel in ihrer
Gesellschaft auszumerzen, und während ihre Regeln und Vorschriften im
Geiste der Theosophie ausgearbeitet sind, tun die Gesetzgeber und die
Kirchen der Nationen und Länder, die sich christlich nennen, das Gegenteil.
Unsere Mitglieder, auch die schlechtesten unter ihnen, sind nicht schlechter
als die Durchschnitts-Christen. Wenn die westlichen Theosophen soviel
Schwierigkeiten erfahren haben, ein wahres theosophisches Leben zu führen,
so deshalb, weil sie alle Kinder ihrer Entwicklungsstufe sind. Jeder von
ihnen war Christ, geboren und erzogen in der Sophistik seiner Kirche, in den
sozialen Gewohnheiten und den paradoxen Gesetzen seiner Umgebung. Dies war
er, bevor er Theosoph geworden ist oder vielmehr, bevor er Mitglied der
Theosophischen Gesellschaft wurde: Man kann es nicht oft genug wiederholen,
daß zwischen dem reinen Ideal und seinem Träger ein gewaltiger Unterschied
ist.
Aus: „Der Schlüssel zur Theosophie"
Autor: H. P. Blavatsky