Theosophie heute - aktuell
In diesem Jahr gab es über ein Thema viele Schlagzeilen und Leserbriefe in den Zeitungen, in Rundfunk und Fernsehen ungezählte Meldungen und Kommentare:
Flüchtlinge.
Warum auch wir, von einem theosophischen Standpunkte aus, dazu einige Überlegungen beisteuern, wird aus den folgenden Absätzen mit hervorgehen.
Vertreibungen waren im abgelaufenen Jahrhundert schmerzliches Schicksal vieler Menschen, nicht nur in (Mittel-) Europa. Auch wenn sie schon Jahrzehnte zurückliegen - bei den Betroffenen haben sie seelische Wunden hinterlassen, die, kaum vernarbt, schon bei leiser Berührung immer wieder aufbrechen. Wer nichts dergleichen durchgemacht hat, der kann sich nur schwer vorstellen, was es heißt, Haus, Hof und Heimat verlassen zu müssen, die eigenen Wurzeln abzuschneiden oder herauszureißen aus dem Boden, der einen bis dahin ernährt hatte, auch im übertragenen Sinne. Totschweigen, von interessierter Seite als Staatsdoktrin oder „politisch korrekt" durchgedrückt, hilft nicht - selbst dann nur scheinbar, wenn die „Erlebnisgeneration" darüber ins Grab sinkt: Schlecht versorgte Wunden schwären, und nichts ist leichter zu „instrumentalisieren" - auch nach Jahrhunderten! - als erlittenes Unrecht.
Was Betroffene brauchen (und was heutzutage z. B. Verletzten und Zeugen von Unfällen selbstverständlich zuteil wird), ist Zuwendung,
Verständnis. Zuwendung und Verständnis können sich nicht darin erschöpfen, daß man Betroffene auf ein blindes Schicksal oder Gottes „unerforschlichen Ratschluß" hinweist oder - als „Reinkarnationist" - auf „Karma" und glaubt, damit sei „der Fall erledigt"; das theosophische Weltbild fürwahrzuhalten ist ebensowenig ein Freibrief für Lieblosigkeit wie andere religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen. Zuwendung und Verständnis können aber wachsen - ganz allmählich - in der Begegnung mit leidenden Menschen. Wer sich verlassen und unverstanden fühlt, ist immer in Gefahr, daß seine seelische Verletzung unter dünnem Schorf sich aufs neue entzündet, gleichsam nur darauf wartend, daß sich irgendwann Gelegenheit bietet, „Gerechtigkeit zu üben". War nicht „Gerechtigkeit" (wenn nicht „Rache") der Hauptbeweggrand für die Vertreibungen nach Deutschland 1945 und ein knappes halbes Jahrhundert später in Südosteuropa? Vergeltende Gerechtigkeit kann nicht ungeschehen machen, was Menschen einander angetan haben - schlimmer noch: Jede Vergeltung schafft neuen Schmerz!
In einer durch die moderne Verkehrs- und Nachrichtentechnik „geschrumpften" Welt sind es nicht mehr nur die Grenzregionen, wo Menschen verschiedener Nationalität als Nachbarn miteinander auskommen müssen, nämlich Brücken bauen müssen über Trennendes hinweg. Gerade weil dies nicht leicht ist, bedarf es großer Anstrengung - kaum der Muskeln, dafür umso mehr des guten Willens. Wohlwollen, Verzeihung, Versöhnung kann niemand verordnen oder fordern, auch kein Staat und keine Kirche. Verzeihung läßt sich nur erbitten, und zwar von dem, der sich bewußt wird des Unrechts seiner Tat (oder der Taten der Gemeinschaft, der er angehört). Der um Verzeihung Gebetene kann sie gewähren - oder verweigern. Daß Letzteres die Ausnahme werden möge, ja vielleicht ganz verschwinde, erfordert große Geduld nicht nur, sondern vor allem ein Befolgen sittlicher Grundsätze, Ideale, die „theoretisch" zwar allgemein anerkannt sind (bis in die Satzung der UNO hinein!), aber die „Praxis" des Aufeinanderzugehens kostet doch große Überwindung, vor allem, wenn sich die jeweils „anderen" dabei Zeit lassen.
Das Bruderschaftsideal, in den Zielen der Theosophischen Gesellschaft verankert, dem sich alle verpflichtet fühlen (sollten), die sich für Theosophie interessieren, weist in die Richtung, in der sich friedlicher Ausgleich von Gegensätzen nicht nur als modus vivendi, sondern als fruchtbares Miteinander verwirklichen wird - je eher, desto besser. Wenn wir schon annehmen, dass das gütige Gesetz harmonischen Ausgleichs Schuld und Sühne über die Grenzen der Verkörperungen hinweg genau dosiert ins Gleichgewicht bringt, so haben wir ein gedankliches Rüstzeug, das uns den Verzicht auf „Gerechtigkeit" oder gar „Rache" erleichtert: Nicht nur, dass wir fast sicher vermuten dürfen, in abgelebten Zeiten Anlaß gegeben, Ursachen gelegt zu haben für Leid, das uns in diesem Leben widerfährt, sondern auch - und vor allem! -, dass wir die Chance ergreifen können, den Schuld - Sühne -Mechanismus aus freier Entscheidung, aus Einsicht in höhere Verpflichtung, außer Kraft zu setzen. Nicht nur im Tun, wozu wir seltener in grösserem Maßstab Gelegenheit haben, sondern vor allem im Reden und Denken können wir uns so einstellen, dass wir Trennendes zu überwinden trachten - auch und gerade dann, wenn (Anfangs-) Erfolge scheinbar ausbleiben.
Autor: Reiner Ullrich