Theosophie, theosophische Lehren,

Theosophische Gesellschaft - ein Dreigestirn

Nach Ernst Voss

Im 6. Jahrgang der Zeitschrift „Theosophische Kultur" (1914) wurde ein Artikel unter obiger Überschrift veröffentlicht. Da die darin enthaltenen Gedanken auch heute noch von Bedeutung sind, wollen wir sie unseren Lesern nicht vorenthalten.
Die beiden ersten Teile („Was ist Theosophie?" und „Theosophische Lehren") sind wörtlich wiedergegeben. Der dritte Teil („Theosophische Gesellschaft") musste von der Redaktion gering­fügig verändert werden, weil der Verfasser sich in seinem Text auf eine Gesellschaft bezog, die unter diesem Namen nicht mehr existiert. Auch die im Original angegebene Anschrift der Ge­schäftsstelle und vieles andere mehr gelten heute selbstverständ­lich nicht mehr. Trotzdem wurde versucht, den ursprünglichen Stil auch dieses Teiles unverfälscht wiederzugeben.
 
Wenn man zum ersten Male mit der theosophischen Bewegung in Berührung kommt, entsteht meist die Frage:
 

Was ist Theosophie?

Bei der Beantwortung dieser Frage sind wir schon an der Grenze unseres Könnens angelangt. Es lässt sich dem reinen Intellekte mit Worten schwer klarmachen, was Theosophie ist; zu diesem Verständ­nis ist ein gewisses inneres Erkennen erforderlich, das man wohl als Intuition bezeichnen kann. Wörtlich übersetzt heißt Theosophie: göttliche Weisheit.
 
Was ist nun aber Weisheit, was ist göttlich? Weisheit ist die Summe der inneren Erfahrungen und das Handeln nach diesem Wissen. Weis­heit ist also nicht allein Wissen, sondern auch Tun. Um aber zu wis­sen, was göttlich ist, dazu bedarf es nicht so sehr des Intellekts, als vielmehr der Unterscheidungskraft zwischen dem, was vergänglich, und dem, was unvergänglich ist. Im Unvergänglichen, Ewigen, wur­zelt des Menschen eigentliches Wesen. Sobald das Ewige sich im Bewußtsein einer Persönlichkeit offenbart, ist die Theosophie da. So­mit ist Theosophie als ein höherer Bewußtseinszustand zu bezeichnen. Das Niedere kann das Höhere nicht umfassen. Nur das Göttliche im Menschen kann das Göttliche im Weltall erkennen. Daher kann Theo­sophie auch mit Selbsterkenntnis (Gottes im Menschen) übersetzt werden. Eigentlich hat jeder Mensch seine eigene Theosophie; denn Gott ist das Wesen in allen Erscheinungen und Menschen und offen­bart sich in ihnen, wenn ihr Entwicklungszustand es zulässt. Man spricht von Theosophie erst dann, wenn die göttliche Weisheit der Persönlichkeit zum Bewusstsein kommt. — Da Theosophie ein höherer Bewusstseinszustand ist, so lässt sich Theosophie auch nicht mitteilen, sondern sie wird nur durch das Werden, durch die innere Entwicklung erlangt und erlebt. Alle, die „Theosophie" als eine Wis­senschaft auffassen, die lehrbar ist, verstehen sie nicht im höchsten Sinne, sondern verwechseln gewissermaßen Mittel und Zweck, Weg und Ziel miteinander.
 
Vielfach wird Theosophie mit Spiritismus, Hypnotismus und der­gleichen verwechselt. Aber diese Dinge sind nicht Theosophie, obwohl sich die theosophischen Lehren, wie mit allen Erscheinungs­dingen, so auch mit diesen Sachen beschäftigen und Licht in diese noch wenig erforschten Gebiete zu bringen suchen. Da die theosophi­schen Lehren universelle Gesetze darlegen, so wird im Lichte der­selben vieles klar, was vorher dunkel war.
 
Auch ist die Theosophie keine Religion oder ein Religionssystem. Sie wird häufig für Buddhismus gehalten. Aber ein Entwicklungs- und Bewußtseinszustand ist ebensowenig Buddhismus, Christentum oder Philosophie, als das Licht der Sonne deutsch oder französisch oder indisch ist. Und doch scheint die Sonne in allen diesen Ländern in der ihnen eigenen Weise und ist die Quelle des Lichtes in allen Erd­teilen. So ist auch die Theosophie, die göttliche Selbsterkenntnis, die Grundlage aller Religionsformen und die Wurzel des Lichts in ihnen. Wenn in theosophischen Lehren und Schriften manche Sanskritbe­zeichnungen vorkommen, so ist dieser Umstand der praktischen Notwendigkeit entsprungen, einmal, weil passende und bestimmte Ausdrücke im Deutschen fehlen, dann auch, weil die entsprechenden deutschen Worte leicht Missverständnisse verursachen, da sie oft mit verschiedenen Begriffen verbunden sind.
 

Die theosophischen Lehren

sind diejenigen Lehren, die dem theosophischen Bewusstsein entsprungen sind und noch täglich entspringen. Sie sind nichts Neues, sondern zu allen Zeiten den Menschen von den wirklichen Theosophen, d. i. von den Menschen, in denen das göttliche Bewusstsein zum Durchbruch gekommen ist, gegeben worden. Wir nennen diese Lehrer der Menschheit mit dem Namen „Meister". In der Regel leben sie aus bestimmten Gründen in der Zurückgezogenheit; doch treten auch einige von Zeit zu Zeit mehr in die Öffentlichkeit. Zu solchen gehörten in der Vergangenheit Konfuzius, Zoroaster, Pythagoras, Buddha, Hermes, Jesus von Nazareth, Apollonius von Tyana und andere.
 
Die theosophischen Lehren sind nun ebensowenig Theosophie, wie die Schilderung eines Reisehandbuches über Italien schon ein Leben in diesem Lande bedeutet. Wohl kann mir ein Reisehandbuch behilflich sein, den Weg in ein Land zu finden und mir auch sonst al­lerhand nützliche Ratschläge erteilen; aber in das Land selbst gelange ich nur dadurch, daß ich die studierte Theorie in die Praxis umsetze und den gewiesenen Weg gehe. Durch die Aneignung der theosophi­schen Lehren erlange ich nicht die Theosophie, noch werde ich ein Theosoph, ein Erleuchteter und Weiser. Die Lehren und die theoso­phische Weltanschauung kann sich jeder verworfene Mensch und verruchte Teufel aneignen und auch gelehrt darüber reden und Bücher schreiben. Dabei bleiben sie doch, was sie sind: Schufte und Teufel. Aber eines können sie nicht: ihr Leben und Treiben nach den theo­sophischen Lehren einrichten, denn dadurch würden sie die gött­lichen Kräfte der Liebe, Selbstbeherrschung und des Mitleids in sich erwecken und somit sich selbst vernichten. Also die Tat bringt den Menschen vorwärts. Nur das, was ich mir innerlich selbst erworben habe, ist mein geistiges und bewusstes Eigentum.
 
Den Inhalt der theosophischen Lehren findet man in allen Reli­gionssystemen, in den Philosophien der Denker und Mystiker und in den Lehren der alten Mysterien vor, allerdings vielfach in Gleichnisse gekleidet oder unter Masken verborgen. Am offensten liegt er in den Veden der Inder vor Augen. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts wur­den die Lehren von den jetzt wirkenden Meistern durch Frau H. P. Blavatsky in klarer Form und wesentlich erweitert der Menschheit aufs neue mitgeteilt. Sie enthalten nicht die ganze Wahrheit, sondern nur so viel, wie die jetzige Menschheit in ihrer geistigen Entwicklung zu fassen imstande ist. Die Geheimlehre von H. P. Blavatsky enthält die ausführlichen Lehren in wissenschaftlicher Umkleidung und gibt der modernen Menschheit für Jahrhunderte Arbeit und Studiumsstoff genug. Der Inhalt der Lehren läßt sich im wesentlichen in folgende Punkte zusammenfassen:
 
  1. Die Lehre von der Einheit des Wesens der ganzen Erschei­nungswelt.
  2. Die Lehre von der siebenfältigen Zusammensetzung der Offen­barungswelt und des Menschen.
  3. Die Lehre von der wiederholten Einkleidung des menschlichen Ichs auf dieser Erde.
  4. Die Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit, von Wirkung und Ursache (Karma).
  5. Die Lehre von dem Wege der geistigen Entwicklung zur Voll­kommenheit und zur geistigen Verbrüderung der Menschen.
 
Alle diese Lehren sind so alt wie das Menschengeschlecht und können von einem normal Begabten intellektuell angeeignet und ver­standen werden. Voraussetzung dabei ist allerdings, daß man außer mit Arbeitslust auch mit Freiheit von Vorurteilen und vorgefassten Meinungen an die Lehren herantritt, alle anerzogenen Begriffe muß man unbeachtet lassen. Es wird nicht erwartet, und von denen, die uns die Lehren jetzt wieder gegeben haben, am allerwenigsten, daß man die Lehren blind glaube, sondern man soll versuchen, sie zu verstehen; dazu sind sie veröffentlicht worden. „Prüfet alles, und das (für euch) Beste behaltet."
 

Eine Theosophische Gesellschaft

ist keine Vereinigung von Theosophen, d. h. von Vollkommenen oder solchen Leuten, die sich einbilden, vollkommen zu sein, sondern von Menschen, die mit Ernst nach ihrer inneren Entwicklung streben und gemeinsam für das Wohl der Menschen in uneigennütziger Weise zu arbeiten trachten.
 
Die ursprüngliche Theosophische Gesellschaft wurde im Jahre 1875 von H. P. Blavatsky, Judge, Olcott und anderen in Amerika ge­gründet, von wo der Sitz bald nach Adyar bei Madras in Indien verlegt wurde. Hier wurde auch Dr. Franz Hartmann mit den damali­gen leitenden Persönlichkeiten der theosophischen Bewegung be­kannt. Als sich nach dem Tode von H. P. Blavatsky unter deren Nachfolgern Entwicklungen abzuzeichnen begannen, die mit der toleranten und unsektiererischen Ansicht, wie sie von Frau Blavatsky vertreten wurde, nicht in Einklang zu bringen waren, gründete er auf der Grundlage der ursprünglichen Verfassung im Jahre 1897 in München eine eigene Gesellschaft.
 
Wenn man eine Vereinigung und den in ihr wirkenden Geist kennenlernen will, muß man ihre Verfassung (Satzung) betrachten und sehen, ob sie in der Alltagspraxis realisiert wird. Man sollte aber nicht auf die Fehler und Mängel blicken, die den einzelnen Mitgliedern etwa anhaften sollten. Wer sich diese Mühe macht, wird finden, daß in einer echten Theosophischen Gesellschaft nicht von Bekehrenwollen und von Bevormundung die Rede ist. Es bleibt jedem überlassen, zu bestimmen, welchen Weg er zu seiner Entwicklung einschlagen will. Es wird lediglich auf die Gesetze hingewiesen, die im Weltall herrschen. Jedem ist freigestellt, sich mit ihnen abzu­finden, so gut und so schlecht er kann und will: denn jeder ist sich selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben.
 
Eine Theosophische Gesellschaft vertritt nur eines, nämlich die allgemeine Menschenliebe oder, anders ausgedrückt, die geistige Verbrüderung der Menschheit auf der Grundlage der Erkenntnis, dass allen Menschen ein geistiges Wesen zugrunde liegt. Sie verlangt von niemandem, bestimmte Lehren blind zu „glauben", auch nicht die theosophischen Lehren. Allerdings verbreiten ihre Mitglieder diese, weil ihnen kein anderes Mittel bekannt ist, das so geeignet wäre, das Erwachen der Verbrüderungserkenntnis zu fördern. Jedes Mitglied kann glauben oder nicht glauben, was es will, und dem Vorbild folgen, das es für sich wählt und geeignet hält. Die Gesellschaft erwartet von den Personen, die sich als Mitarbeiter oder Mitglieder melden, nur, daß jeder bezüglich der Schwächen, Ansichten und Handlungen der Mitmenschen diejenige Toleranz übt, die er für sich selbst in Anspruch nimmt. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt!
 
Eine Theosophische Gesellschaft ist also der freieste Verein, der sich denken lässt, und es wäre zu wünschen, dass sich viele Menschen in ihr zusammenfinden möchten, um gemeinsam in uneigennütziger Weise für die Entwicklung der Menschheit zu arbei­ten.


Autor: Nach Ernst Karl Johann Heinrich Voss (1860 - 1937)