Fragen und Antworten - noch heute aktuell.

Brauchen wir nicht mehr Zeit, um an der Bildung des Volkes zu arbeiten?

Betrachten wir doch diese Frage der Bildung von einem umfassenden Standpunkt.Sie haben ein Thema angeschnitten, das uns Theosophen tief berührt, und ich muss darüber sagen können, was ich zu sagen habe. Ich gebe durchaus zu, dass es für ein kleines Kind, welches in den Slums aufwächst und die Gosse als Spielplatz hat, das inmitten ständiger Gemeinheit von Worten und Handlungen lebt, von großem Vorteil ist, wenn es jeden Tag in einem hellen, reinen Schulzimmer sitzt, in dem Bilder hängen und das oft mit Blumen geschmückt ist. Dort wird es gelehrt , rein, freundlich und ordentlich zu sein; dort lernt es zu singen und zu spielen, es hat Spielzeug, mit dem seine Intelligenz geweckt wird, es lernt seine Finger geschickt zu gebrauchen, man spricht mit einem Lächeln mit ihm anstatt mit einem Stirnrunzeln, es wird sanft und mit Güte zurechtgewiesen anstatt mit Flüchen. Alles dies macht die Kinder menschlicher, es weckt ihr Denken und macht sie empfänglicher für intellektuelle und moralische Einflüsse. Die Schulen sind nicht das, was sie sein könnten und sein sollten, aber verglichen mit dem Zuhause der Kinder sind sie ein Paradies, und allmählich wirken sie auf dieses Zuhause zurück. Obwohl dies bei vielen öffentlichen Schulen zutrifft, verdient Ihr System an sich dennoch ein vernichtendes Urteil.

Was ist das wirkliche Ziel der modernen Erziehung? Ist es, den Verstand in die richtige Richtung zu entwickeln und zu kultivieren; die Enterbten und die Unglücklichen zu lehren, die Bürde des Lebens (die ihnen von Karma zugemessen ist) standhaft zu tragen, ihren Willen zu stärken, ihnen Nächstenliebe und das Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit und Brüderlichkeit einzuprägen und so ihren Charakter für das praktische Leben zu schulen und zu bilden? Nicht im Mindesten. Und dennoch sind dies die Ziele jeder wahren Erziehung. Niemand leugnet dies; alle Ihre Pädagogen geben es zu und sprechen über diese Dinge große Worte; aber was ist das praktische Ergebnis ihrer Tätigkeit? Jeder Knabe, jeder junge Mann, ja sogar jeder Lehrer der jüngeren Generation wird antworten: „Das Ziel der modernen Erziehung ist es, Prüfungen zu bestehen.“ Es ist ein System, das nicht den rechten Wetteifer entwickelt, sondern in den jungen Menschen Eifersucht, Neid, ja nahezu Hass gegeneinander erzeugt und sie so für ein Leben wilder Selbstsucht schult, für den Kampf um Ehren und Gehälter anstatt für freundliche Gefühle.

Und was sind diese Prüfungen, der Schrecken der modernen Jugend? Sie sind lediglich eine Methode der Klassifizierung, durch die die Ergebnisse des Schulunterrichts in Tabellen eingetragen werden. Mit anderen Worten, sie sind die praktische Anwendung der modernen naturwissenschaftlichen Methode auf die Gattung Mensch, gemäß der Verstandestätigkeit. Nun lehrt die „Naturwissenschaft“, dass der Intellekt das Ergebnis der mechanischen Wechselwirkung der Gehirnzellen ist; darum ist es nur logisch, wenn die moderne Erziehung nahezu gänzlich mechanisch ist, eine Art automatischer Maschine zur tonnenweisen Herstellung von Intellekt. Schon eine geringe Erfahrung mit Prüfungen genügt, um zu zeigen, dass die erreichte Bildung nur eine Schulung des physischen Gedächtnisses ist; früher oder später werden alle Ihre Schulen auf dieses Niveau herabsinken. Eine wirkliche gesunde Kultivierung der Kraft des Denkens und Urteilens ist unmöglich, da alles nur nach Resultaten der Prüfungskonkurrenz bewertet wird. Die Erziehung in der Schule ist jedoch von größter Wichtigkeit für die Charakterbildung, besonders für die moralische Orientierung. Aber da ist Ihr modernes System von Anfang bis Ende auf die sogenannte naturwissenschaftliche Offenbarung gegründet: „Den Kampf ums Dasein“ und das „Überleben des Tauglichsten“. Bereits während seines frühen Lebens wird dies dem Menschen durch praktische Beispiele und Erfahrungen sowie durch unmittelbare Belehrungen eingetrichtert, bis es unmöglich ist, aus seinem Verstand die Vorstellung zu tilgen, dass das „Ich“, das niedrige, persönliche, tierhafte Selbst, Sinn und Zweck des ganzen Lebens ist. Hier haben sie die große Quelle allen nachfolgenden Leidens, Verbrechens und herzloser Selbstsucht, deren Existenz Sie ja ebenso zugeben wie ich. Der Egoismus ist, wie ich schon wiederholt sagte, der Fluch der Menschheit und der fruchtbare Boden aller Übel und Verbrechen in diesem Leben. Und Ihre Schulen sind die Treibhäuser solcher Selbstsucht.

Wie kann dem abgeholfen werden?

Gut, ich werde versuchen, Sie zufrieden zu stellen. Es gibt (verschiedene) Gruppen von Schuleinrichtungen. (Die Skala reicht von den äußerst kommerziellen hin zu den idealistisch-klassischen Richtungen mit all ihren Abstufungen und Kombinationen.) Wir können deutlich sehen, wie die wissenschaftlichen, materiell-kommerziellen die verbrauchten orthodoxen und klassischen verdrängen. … Die Ziele dieses Zweiges der Erziehung sind: Pfunde, Schillinge und Pennies, summum bonum des 19. Jahrhunderts (Heute sind es private Elite-Schulen und private Universitäten im 21. Jahrhundert; die Red.). So ist alle Energie, die innerhalb der Gehirnmoleküle der Anhänger dieses Systems erzeugt wird, lediglich auf einen Punkt gerichtet und bildet in gewisser Weise ein organisiertes Heer gelehrter spekulativer Intellektueller, eine Minderheit von Menschen, die erzogen ist, die Masse von … Menschen zu beherrschen und auszubeuten. Das ist aber nicht nur eine untheosophische, sondern durchaus auch eine unchristliche Erziehung. Das unmittelbare Ergebnis dieser Erziehung ist eine Überflutung des Marktes mit geldmachenden Maschinen (s.a. den überproportionalen Anteil von Harvard-Absolventen an der Börse in der ‚Wall Street‘, die Red.), mit herzlosen egoistischen Menschen, die sehr sorgfältig dazu erzogen wurden, ihre Mitmenschen zu übervorteilen und aus der Unwissenheit ihrer schwächeren Brüder Nutzen zu ziehen. Es … ist ein System, das keine Rücksicht nimmt auf die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten der Jugend. Z.B.: Im Geschichtsunterricht wird er nur jene Kenntnisse über seine eigene Nation erwerben, die geeignet sind, ihn mit einem Panzer von Vorurteilen gegen alle anderen Völker auszustatten und nationalhass und Blutsfeindschaft zu nähren. Das würden Sie doch sicher nicht Theosophie nennen? Dazu kommt noch eine oberflächliche Kenntnis sogenannter biblischer Tatsachen, durch deren Studium jeder Intellekt vernichtet wird. Es sind nur Gedächtnisübungen, das „Warum“ der Lehrer ist das „Warum“ der Umstände und nicht der Vernunft.

Die Zahl der Agnostiker und Atheisten ist doch gewachsen?

Ja, aber das ist eher die Folge einer gesunden Reaktion auf dieses System, als ein Ergebnis des Systems selbst. Wir ziehen in unserer Gesellschaft Agnostiker, ja selbst entschiedene Atheisten frömmelnden fanatischen Anhängern jedweder Religion bei weitem vor. Der Geist eines Agnostikers ist immer der Wahrheit geöffnet; einen Frömmler aber blendet die Wahrheit wie die Sonne eine Eule. Unsere besten, das heißt die wahrheitsliebendsten, philanthropischsten und ernsthaftesten Mitglieder waren und sind Agnostiker und Atheisten (das heißt, sie glauben nicht an einen persönlichen Gott). Aber es gibt keine freidenkenden Jungen und Mädchen, und im Allgemeinen wird die Schulung, die sie in ihren jungen Jahren erhalten haben, ihren Stempel in Form eines verkrampften und verdrehten Denkens hinterlassen. Ein richtiges und gesundes Erziehungssystem sollte ein kraftvolles, liberales Denken hervorbringen, einen Verstand, der streng in logischem und genauem Denken und nicht in blindem Glauben geschult ist. Wie können Sie jemals , gute Ergebnisse zu erzielen, wenn Sie die Urteilsfähigkeit unserer Kinder dadurch verderben, dass Sie ihnen am Sonntag gebieten, an die Wunder der Bibel zu glauben, während Sie sie die übrigen sechs Tage der Woche lehren, dass solche Dinge wissenschaftlich unmöglich sind?

Was würden Sie also tun?

Wenn wir das Geld dazu hätten, würden wir Schulen gründen, die etwas anderes hervorbringen als lesende und schreibende Kandidaten für das Verhungern. Den Kindern sollte in erster Linie Selbstvertrauen, Liebe zu allen Menschen, Altruismus und gegenseitige Nächstenliebe anerzogen werden, vor allem aber, selbst zu denken und zu urteilen. Wir würden die rein mechanische Gedächtnisarbeit auf ein Minimum reduzieren und die Zeit der Entwicklung und Schulung der inneren Sinnesorgane und Fähigkeiten und schlummernden Eigenschaften widmen. Wir würden uns bemühen, jedes Kind individuell zu behandeln und es so zu erziehen, dass seine Kräfte möglichst gleich und harmonisch entfaltet werden, damit sich seine besonderen Neigungen voll und natürlich entwickeln können. Wir würden bestrebt sein, freie Männer und Frauen zu schaffen, die intellektuell und moralisch frei und vorurteilslos in jeder Richtung, vor allem aber selbstlos sind. Und wir glauben, dass vieles, wenn nicht alles davon, durch eine richtige, wahrhaft theosophische Erziehung erreicht werden könnte.



Autor: Helena P. Blavatsky (1831-1891); Auszug: Schlüssel zur Theosophie, Satteldorf 1995