Theosophische Gesellschaft - eine Sekte?

Diese Anfrage eines Pfarrers beantwortete Dr. F. Hartmann seinerzeit im „Theosophischen Wegweiser", Bd. 1 mit folgenden Worten:
Die „Theosophische Gesellschaft" ist keine Sekte und verfolgt keine sektiererischen Bestrebungen. Das Wort „Sekte" bezeichnet eine Vereinigung von Personen auf Grundlage irgendeines Glaubens­bekenntnisses, durch welches sich ein Verein von anderen Gemein­schaften ähnlicher Art unterscheidet und auf Grund dessen eine solche Verbindung Andersgläubigen gegenüber von sich behauptet, den „besseren", ja einzig wahren Glauben zu besitzen, woraus sodann die Verachtung, Verketzerung, Verleumdung und Verfolgung Anders­denkender entspringen. Von diesem Standpunkte aus betrachtet ist jede ein Glaubensbekenntnis von ihren Mitgliedern fordernde reli­giöse Gemeinde, sei dieselbe nun eine Landeskirche oder nicht, eine Sekte, weil sie sich von anderen abtrennt. So wird die evangelisch-lutherisch Konfession noch heute von gewissen Vertretern der katholischen Kirche, die sich ihrerseits als die einzig wahre christ­liche Kirche zu nennen beliebt, als ketzerisch und als Sekte bezeichnet.
 
Die „Theosophische Gesellschaft" dagegen ist, obwohl selbst nicht konfessionell, doch nicht konfessionslos in dem Sinne von antikonfes­sionell, sondern vielmehr interkonfessionell, weil sie alle Konfessio­nen, Vereine usw. umfasst und nicht das Beschränkte, Trennende und Unwesentliche der Religionen, nämlich weder Kultus noch Dogma vertritt, sondern das allen großen Religions- und ethischen Systemen der Vergangenheit und Gegenwart, sowie aller wahren Philosophie und Wissenschaft zugrunde liegende Gemeinsame und Wesentliche zur Grundlage und zum Hauptzweck hat. Dieses Wesentliche ist die Theosophie, die Gottes- oder Selbsterkenntnis, d. h. das göttliche Leben im Menschen selbst; denn Gott, das Höchste, ist doch nicht ein beschränktes Wesen außerhalb der Welt oder jenseits der Wolken, sondern das unvergängliche Wesen, die einzige Wirklichkeit und Wahrheit, die jedem Menschen, wie jedem Dinge überhaupt, zu Grun­de liegt und im Menschen nach Offenbarung und Verwirklichung der alles umfassenden Liebe und Erkenntnis trachtet. Die Verwirklichung dieser höchsten Liebe durch die selbstlose Tat ist der Endzweck des menschlichen Daseins und das höchste Ziel aller Entwicklung. Dies ist von allen großen Religionslehrern und Weisen des Menschen­geschlechtes, wie Laotse, Konfuzius, Buddha, Hermes, Zoroaster, Pythagoras u. a., wie auch von Jesus von Nazareth als das Höchste gelehrt worden.
 
Die Wahrheit dieser Lehre wird jeder bestätigen, der sich selbst in seinem wahren Wesen, d. h. in Gott erkennt. Aus der Nichterkenntnis der wahren Menschennatur entspringen alle Übel und Leiden des Menschengeschlechtes. Die göttliche Selbsterkenntnis und Liebe zu allen Wesen (Theosophie) ist diejenige Kraft, welche den Menschen von seiner Unwissenheit, seiner Machtlosigkeit und seinen Leiden befreit. Diese erlösende Kraft ist allgegenwärtig, aber in den meisten Menschen auf ihrer heutigen Entwicklungsstufe durch Selbstsucht und Leidenschaftlichkeit noch gebunden und unoffenbar (latent), ähnlich wie die Kraft des Feuers, der Wärme und des Lichtes im Holz latent liegt.
 
Die „Theosophische Gesellschaft" hat niemals Andersgläubige bekämpft oder ihrer Konfession abtrünnig zu machen versucht, son­dern im Gegenteil stets darauf hingewiesen, dass es zur Erlangung der göttlichen Liebe und Weisheit (Theosophie) nicht nötig sei, aus seiner Kirche auszutreten, weil die Wahrheit allen Religionen zugrunde liegt und es nur darauf ankommt, dieselbe in seiner Religion zu erkennen, nicht aber die äußere Form, sondern die Liebe und Wahrheit im eige­nen Herzen anzubeten und dieselbe sowohl in Gedanken wie durch die Tat zu verwirklichen. Die „Theosophische Gesellschaft" hat noch niemanden zum Beitritt aufgefordert; denn sie macht für keinen äußeren Verein Propaganda. Das Band, welches die Mitglieder der großen theosophischen Verbrüderung in allen Ländern miteinander verbindet, ist geistiger Natur. Kein Mitglied hat das Recht, irgendeine Lehre im Namen der „Theosophischen Gesellschaft" zu verbreiten; jeder hat das, was er sagt oder schreibt, selbst zu vertreten und zu verantworten. Auch ist die „Theosophische Gesellschaft" ebenso we­nig „indisch", wie etwa die christliche Kirche „chinesisch" ist. Die Mitglieder einer „Theosophischen Gesellschaft" brauchen nicht Theosophen zu sein und nennen sich auch im allgemeinen nicht so. Durch den Beitritt zu einer „Theosophischen Gesellschaft" wird man ebenso wenig ein Theosoph, wie jemand durch die Taufe mit Wasser oder durch das Fürwahrhalten unverstandener Dogmen ein wirklicher Christ, d. h. ein von Christus, dem Lichte der Gotteserkenntnis, Er­leuchteter wird.


Autor: Dr. F. Hartmann