Über Beten und Gott

(Quelle: Schlüssel zur Theosophie - Exzerpt)

 

Ein Theosoph wird gefragt:

Haben Sie Vertrauen zum Gebet und beten Sie überhaupt? Wenigstens zu dem Absoluten Prinzip?

Der Theosoph antwortet:

Nein, wir handeln statt zu reden. Als vollbeschäftigte Leute können wir es uns nicht leisten, unsere Zeit damit zu verlieren, dass wir Gebete in Worten an eine unbekannte Gottheit außerhalb von uns oder an eine bloße Abstraktion - wie das Absolute Prinzip - richten. Das Unerkennbare wird nicht von endlichen Dingen beeinflusst. Das sichtbare Universum mit all seinen Erscheinungen hängt von den in ihm wirkenden Gesetzen ab, nicht von Gebeten. Schon gar nicht von einem Gebet, das in so vielen Worten gelehrt und äußerlich wiederholt wird, besonders wenn im Gebet eine äußerliche Bitte an einen unbekannten Gott als Empfänger gerichtet ist.

 

Aber es gibt eine andere Art von Gebet. Wir nennen es Willens-Gebet und es ist eher eine innerliche Forderung als eine Bitte. Es ist das Gebet zu „unserem Vater im Himmel“ - in seiner esoterischen Bedeutung. Das Gebet richtet sich an den „Vater“ im Verborgenen wie in Matth.6,6 beschrieben: „Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich.“ Dies ist kein außerweltlicher und daher begrenzter Gott; dieser „Vater“ ist im Menschen selbst, in seinem innersten „Kämmerlein“. Gestehen wir ein, dass Gott ein allumfassend verbreitetes unendliches Prinzip ist, so ist auch der Mensch von ihm durchdrungen. Wir nennen unseren „Vater im Himmel“ jene göttliche innerste Wesenheit, die wir in uns, in unserem Herzen und geistigen Bewusstsein erkennen, und die nichts zu tun hat mit der vermenschlichten Vorstellung, die wir uns davon in unserem physischen Gehirn bilden mögen. 1Ko.3,16: „Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ 1Ko.3,17 und 6,19: „ der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr. ... Oder wisset ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist.“

 

Ein (Willens-)Gebet, nicht als Bitte, ist eher ein Geheimnis; ein geheimer Vorgang, wodurch endliche und bedingte Gedanken und Wünsche umgesetzt werden in geistige Willensakte und den Willen; ein solcher Vorgang heißt „geistige Umwandlung“. Die Stärke unserer heißen Sehnsüchte verwandelt das Gebet in den „Stein der Weisen“, oder das, was Blei in reines Gold verwandelt. Die einzige Essenz, unser Willens-Gebet, wird zur aktiven oder schöpferischen Kraft, die Wirkungen hervorbringt, welche unserem Wunsche entsprechen. Hier handeln wir. Über den in Taten transformierten (göttlichen) Willen können physische Ereignisse bewirkt werden, nachdem die Willens-Kraft zu einer lebendigen Kraft geworden ist.

 

Aber wehe jenen Okkultisten und Theosophen, welche Wellen von Willenskraft emporsenden zu eigennützigen oder unheiligen Zwecken, statt sich an ihr höheres, geistiges ICH oder Selbst zu wenden.

 

 

 


Autor: Helena P. Blavatsky