Über der Weg zur wahren Erkenntnis
 
 
Franz Hartmann
 
Dasjenige, was uns an der wahren Erkenntnis hindert, ist nicht die Nichterkenntnis oder die Unwissenheit; denn das Nichterkennen ist immer da, bevor die Erkenntnis kommt. Das, was uns hindert, sind die selbstgemachten falschen Begriffe, welche wir für Erkenntnis halten, und welche erst vernichtet werden müssen, ehe die Erkenntnis zustande kommen kann. Würden wir uns von gar nichts selbst eine Vorstellung machen, so könnte sich die Wahrheit uns selbst so vorstellen, wie sie ist; wie man ja auch viel deutlicher auf eine leere Tafel schreiben kann, als auf eine, die bereits vollgeschrieben ist. Wer gar keine Weltanschauung besitzt, der kann viel leichter zu einer richtigen Weltanschauung kommen, als wer eine falsche besitzt... Da nun bei uns heutzutage beinahe jedermann von den Worten, die sich auf geistige Dinge beziehen, anerzogene falsche Begriffe hat, so ist es zweckdienlich, uns nach dem Osten zu wenden, wo alle geistige Lehre ihren Anfang nahm, und wo wir denselben Wahrheiten, welche uns die christlichen Mystiker verkünden, in anderen Worten, aber in solchen, mit denen wir noch keine falschen Begriffe verbunden haben, wiederfinden. Dadurch werden uns dann auch leichter die dunkeln und sich oft scheinbar widersprechenden Redensarten der deutschen Mystiker klar.
 
Es gibt nur eine einzige ewige Wahrheit und nur eine einzige Erkenntnis derselben, die Weisheit. Aber die Lehre, welche sie mit sich bringt, kann in verschiedenartiger Form dargestellt werden, sie spricht sowohl zum Gefühl, als auch zum Verstand. Die deutsche Mystik, der es an klaren Worten für ihre Begriffe fehlt, könnte mit der Musik verglichen werden, welche nur zum Herzen spricht, die Wissbegierde aber unbefriedigt lässt. Die indische Mystik ist reich an den nötigen Worten; sie liefert nicht bloß die Musik, sondern auch noch den erläuternden Text dazu. Dieser Text ist seiner Natur nach wohl zu unterscheiden von demjenigen, welchen die Gelehrten und Theologen liefern, welche keine Mystiker sind und keine Selbsterkenntnis besitzen. Die Behauptungen der letzteren beruhen auf Theorien und Spekulationen, und wenn auch mitunter in ihnen zerstreute Körner von Wahrheit enthalten sind, so gleichen sie doch den Beschreibungen von Träumen, die sich für den Betreffenden noch nicht verwirklicht haben. Der erleuchtete Mystiker dagegen erzählt uns seine eigenen Erlebnisse, und weil er sie selber erlebt hat, braucht er auch nach keinem weiteren Beweise zu suchen, um sich von ihrer Wahrheit zu überzeugen. Dass er sein wahres Dasein erkannt hat, ist ihm Beweis genug, dass es da ist. Und wie ein und dieselbe Lehre von denjenigen ausgeht, die sich selber gefunden haben, so liegt auch der Wahrheitsbeweis für denjenigen, der sie liest oder hört, in nichts anderem, als dass er sich selber findet. Findet er sich in Wirklichkeit selbst, so hat sich die Wahrheit in ihm verwirklicht, alle anderen Beweise sind wertlos.
 
Am Dinge zweifeln kannst du, was und ob es sei, An deinem Ich fällt dir gewiss kein Zweifel bei. Dies ist der Ausgangspunkt. Sei deiner nur gewiss, Zu allem Wissen kommst du so ohn' Hindernis."
(Rückert)
 
Nimmt man ein modernes Buch in die Hand, das von einem Mystiker oder Philosophen handelt, so ist in der Regel das erste, was man erblickt, eine Diskussion, ob derselbe dieser oder jener „Schule" angehört habe, ob er ein Pythagoräer, Hegelianer, Schopenhauerianer usw. gewesen sei. Da sollte man wirklich glauben, das es bei einem Philosophen die Hauptsache sei, dass er keinen eigenen Verstand hätte, und dass alle Philosophie in dem gläubigen Nachbeten von dem, was einem vorgebetet wurde, besteht. Die wahre Philosophie (von philo = lieben und sophia = Weisheit) besteht aber nicht darin, dass man in die Meinungen eines anderen Menschen verliebt werden soll, sondern dass man sich selbst in der Wahrheit findet, selber die Wahrheitserkenntnis erlangt. Deshalb gehört auch der wahre Mystiker keiner anderen „Schule" an, als der „Schule des heiligen Geistes", d. h. des Geistes der göttlichen Selbsterkenntnis, „wo der Himmel (das wahre Selbstbewusst-sein) das Schulhaus, das Buch ein lauteres Herz, die Ewigkeit die Lektion, das ungeschaffene Licht der Lehrmeister ist; wo man nicht außer sich zu suchen hat, was einen zur ewigen Seligkeit fördert, sondern alle Wahrheit in einem sich erlebt." (Eckhart 616, 2). Deshalb sagt auch der gewiss nicht der Ketzerei beschuldigte Thomas von Kempen:
 
„Wohl dem, den die Wahrheit durch sich selbst belehrt, nicht durch vergängliche Bilder und Worte, sondern so, wie sie ihrem Wesen nach ist." (Nachfolge Christi III, 1.)
 
Drei Abhandlungen über Yoga, Schatzkammer-Verlag, Calw
 


Autor: Franz Hartmann