Unsere Reise vom Wissen zur Weisheit
Elisabeth Schmidt
Eine Reise bedeutet, sich zu bewegen.
Es gibt Menschen, die, weil sie aus irgendeinem
Grunde nicht zu reisen in der Lage sind, in ihren Ferien sozusagen im
Lehnstuhl um die Welt reisen. Sie lesen alles, was sie über bestimmte Orte
und Länder erfahren können. Sie sehen sich Bilder und vielleicht auch Filme
darüber an und sammeln eine große Menge von Informationen über sie.
Schließlich sind sie so sachkundig, daß sie sogar Vorträge über die
betreffenden Orte und Länder halten können, und wenn sie genügend Vorträge
gehalten und vielleicht sogar ein Buch geschrieben haben, werden sie als
Experten bekannt und gelten als Autoritäten für diese Gebiete, obwohl sie nie
dort gewesen sind.
Nun ist es in einer Welt, in der wir so sehr auf
andere angewiesen sind, nicht nur für die Befriedigung unserer physischen
Bedürfnisse, sondern auch hinsichtlich der meisten Daten über die Beschaffenheit
und das Geschehen in der Welt nicht überraschend, daß wir gewöhnlich mit der
Art von Wissen zufrieden sind, das wir ohne besondere Anstrengung von außen
erhalten können. Vieles von unserem Wissen müssen wir ja von anderen
erhalten, die Spezialisten in den einzelnen Wissensgebieten geworden sind.
Aber wir dürfen diese Art von informativem Wissen über Dinge und Geschehnisse
nicht mit dem verwechseln, was man essentielles Wissen nennen könnte. Wir können
uns z.B. auf andere verlassen hinsichtlich der statistischen Daten, wie viele
Menschen auf der Erde jeden Abend hungrig zu Bett gehen. Aber es ist etwas
ganz anderes, selbst unmittelbar mit dem Wesen menschlichen Leidens in
Berührung zu kommen und, wie Buddha es tat, nach den Ursachen dieses Leidens
und nach dem Weg zu seiner Linderung zu forschen. Der Unterschied, der in der
Stimme der Stille zwischen „Kopfgelehrsamkeit,, und „Seelenweisheit"
gemacht wird, ist eben jener zwischen dem Wissen aus zweiter Hand, das von
äußeren Quellen herrührt, und dem essentiellen Wissen, das erwächst, wenn
wir die innerliche Reise zur Weisheit angetreten haben.
Dieser Weg vom Wissen zur Weisheit hat verschiedene
Phasen. Wenn sich jemand nach einer ersten Begegnung mit der Weisheitstradition
einer Bewegung wie der Theosophischen Gesellschaft anschließt, so geschieht
dies zunächst meist aus einer Art Unzufriedenheit mit der etablierten
Autorität religiöser oder wissenschaftlicher Dogmen. Er beansprucht das Recht,
zu den konventionellen Denkungsarten „nein" zu sagen. Er lehnt den
autoritären Dogmatismus ab, in dem er erzogen wurde. Er greift eifrig die
theosophische Philosophie auf, um sich von den vergangenen Begrenzungen zu
befreien. Seine Studien eröffnen ihm neue Ausblicke und versprechen wahre
Freiheit des Denkens. Aber oft bemerkt er nicht, daß diese neuen Studien auch
eine Falle bergen können. Es kann sein, daß er sich nur von einer
Vorstellungsreihe befreit hat, um sich unter die Herrschaft einer anderen zu
begeben. Dann aber tauscht er nur eine äußere Autorität gegen eine andere
aus, und statt irgendeine der Heiligen Schriften oder eine neueste
wissenschaftliche Entdeckung zu zitieren, zitiert er H.P. Blavatsky, Annie
Besant, C.W. Leadbeater, die Geheimlehre und eine ganze Schar von neuen
Autoritäten. Wenn wir in unseren Studien an einem solchen Punkte
stehenbleiben und glauben, wir seien frei, weil wir eine Autorität gegen
eine andere ausgetauscht haben, dann werden wir bald finden, daß wir auf
unserer Reise steckengeblieben und der Weisheit nicht näher gekommen sind,
als wir es vor unserer Begegnung mit der Theosophie waren.
Wir müssen von der nein-sagenden Stufe der Rebellion
gegen die Autorität der Vergangenheit über die ja-sagende Stufe der Annahme
der neuen Ideen weiterschreiten zu der Erkenntnis, daß die einzige wirkliche
Autorität unser eigenes inneres Wissen ist. Diese Autorität befiehlt
niemandem, etwas Bestimmtes zu tun, sie schirmt sich auch nicht durch eine
Hülle von Worten aus vermeintlichen Weisheitsquellen ab. Am besten kann sie
vielleicht als die Fähigkeit beschrieben werden, immer dort, wo man ist, ganz
gegenwärtig zu sein. Ich möchte dies erläutern. Wenn jemand uns eine Frage
stellt oder ein Problem aufwirft, befassen wir uns gewöhnlich nicht mit der
Person, die vor uns steht, sondern mit ganz anderen Dingen. Wir sind nicht da
gegenwärtig, wo wir sind, denn unsere Gedanken eilen voraus: Entweder überlegen
wir, wie wir den Fragesteller am besten loswerden können, um wieder unseren
eigenen Beschäftigungen nachgehen zu können, oder wir suchen nach einem
passenden Zitat, so daß wir antworten können „Blavatsky sagt" oder „die
Upanischaden sagen", oder was immer für sonstige Informationsquellen wir
in unseren mentalen Kammern finden. Wir glauben, wenn wir nur die richtige
Autorität finden, haben wir dem Menschen vor uns etwas gegeben, aber in
Wirklichkeit haben wir ihm nichts gegeben. Nur wenn wir ganz bei dem
Menschen, der vor uns steht, gegenwärtig sind, können wir etwas von uns
selbst, von unserem eigenen Wissen geben, und nur solche Gabe gewährt eine
wirkliche Antwort auf die Frage, die uns gestellt wurde.
Wirkliche Autorität ist nur in einem Menschen, der
selbst die Reise von den Studien, die Wissen erzeugen, zu den umfassenderen
Einsichten gemacht hat, die Weisheit symbolisieren. In der ersten Ausgabe des
THEOSOPHIST schreibt H.P.B „Die Theosophie entwickelt im Menschen ein
unmittelbares Schauen ..." und sie zitiert in diesem Artikel die Lehren
Plotins, der erklärte, daß „die geheime Gnosis, das Wissen der Theosophie,
drei Stufen habe — Meinung, Wissen, Erleuchtung". Diese Erleuchtung ist
die Folge der Entwicklung eines mentalen Zustandes, in dem Bewußtsein frei
von jeglichem Anhaften ist, selbst von den Vorstellungen, die den Prozeß der
Befreiung eingeleitet haben. Erst wenn jene Einsicht erlangt ist, die als
innere Erleuchtung beschrieben werden kann, hat sich das Wissen in Weisheit
verwandelt.
Wie können wir dieses „unmittelbare Schauen"
erlangen, das uns befähigt, die Dinge so zu sehen wie sie wirklich sind? Der
Schlüssel dazu muß in unserem eigenen Denken liegen. Unser Denken hat, wie
wir wissen, die bemerkenswerte Fähigkeit, sich an das zu heften, was es
beobachtet, und sich folglich in ein Abbild des Gegenstandes zu verwandeln,
den es wahrnimmt. Dadurch entsteht in unserem Verstand eine Vielzahl von
Bildern, Vorlieben und Abneigungen, und durch diese wird die Wahrnehmung
getrübt, verzerrt und verdunkelt. Unsere erste Aufgabe ist es daher, unser
Denken von der Tendenz, sich an Dinge zu heften, zu befreien. Wir müssen
seine Klebrigkeit beseitigen,
so daß das Denken sich frei bewegen kann, ohne Vorurteile und Vorlieben.
Dann nimmt es die Dinge wahr, wie sie sind. Dann erwächst Wahrheit als
natürlicher Zustand innerhalb des Bewußtseins. Wir blicken nicht länger nach
außen und sagen „das ist wahr", als ob die Wahrheit in irgendeinem
Gegenstand, einer Vorstellung oder Erfahrung läge. Wahrheit ist nichts
Äußeres, sondern ein Zustand der Achtsamkeit, der eintritt, wenn unser Denken
frei ist. Und in diesem Zustand ist „unmittelbares Schauen" möglich.
Hierzu ist es nötig, daß wir die Schleier
durchdringen, die das Antlitz der Natur verhüllen, um die tieferen Strukturen
zu erfassen, die in mehr Einfachheit in der Einheit der Wirklichkeit zu
finden sind.
Wenn die Bindungskraft des physikalischen Atoms in
einem Beschleuniger freigesetzt wird, dann wird die resultierende Energie in
unerwarteter Höhe verfügbar. Analog dazu benötigt ein Mensch große Mengen an
Bindungsenergie, um das Ego, hier auch im Sinne von Persönlichkeit
verstanden, zu erhalten und sein Trugbild aufrechtzuerhalten, das ihm
einredet, es sei eine unabhängige, letzte Einheit. Durch das Binden dieser
Energie ist sie daher nicht verfügbar für die „Zustände höherer
Energie", welche notwendig ist, um innere Wahrheiten zu erreichen. Die
so mit Beschlag belegte Energie kann nicht in andere Richtungen fließen. Der
Weise, der dieses Prinzip durchschaut und verstanden hat, zerteilt und
erschöpft sich nicht dadurch, daß er versucht, sein gebundenes Selbst
zusammenzuhalten, sondern er läßt sein Ego los, setzt so seine Energie frei
und öffnet dadurch einen Kanal zur grenzenlosen und universellen Energie. Je
klarer und je weniger verschlossen der Kanal ist, desto zugänglicher ist auch
die frei fließende Energie. Das spirituelle Aufbrechen des Egos ist eine Praxis,
die durch den Willen des Übenden kontrolliert wird. Sie erfordert dazu ein
seelisches Gleichgewicht und Stärke, weshalb viele Übende einen Lehrer oder
Meister wählen, um diesen steilen Weg durchzustehen.
Einen Weg weist Lama Govinda in seinem wichtigen
Buch „Grundlagen tibetischer Mystik":
Für ihn
ist Meditation eine natürlichere Sache als wir glauben. Die meisten
Menschen halten die Meditation für einen speziellen Zustand außerhalb ihres
Lebens und ihrer normalen Aktivitäten, aber sie nehmen sich nicht die Zeit
herauszufinden, wer sie sind, und was mit ihnen geschieht. Die Meditation ist
einfach ein natürlicher Zustand der Ruhe, in dem alle Dinge, die
normalerweise in uns unterdrückt werden, aus uns herauszukommen vermögen. Man
sollte nicht versuchen etwas zu erzwingen. Man sollte sich sammeln und eine
Weile in sich zentriert bleiben. Je weniger man erwartet, desto mehr wird man
erhalten.
Die Meditation sollte uns für alle Möglichkeiten
öffnen. So wie sich eine Blume öffnet, um die Sonne hereinzulassen, so sollte
alles, was uns in der Meditation begegnet, akzeptiert werden. Wir sollten zu
einem Gefäß werden, das wieder gefüllt wird. Die Intensität der Freude ist
der beste Beweis für die Echtheit einer Meditation.
Es klingt verblüffend einfach, wenn ein Weiser, wie
Lama Govinda, über diese für uns schwierige Übung spricht.
Er hat erkannt, daß das grundlegende Element dieses
Kosmos der Raum ist. Der Raum ist nicht nur eine Dimension aller Existenz,
sondern eine grundlegende Eigenschaft unseres Bewußtseins. Der Raum ist das
Allumfassende, das Prinzip der Einheit. Unser Bewußtsein bestimmt die Art
des Raumes in dem wir leben. Die Unendlichkeit des Raumes und die
Unendlichkeit des Bewußtseins sind identisch. In dem Augenblick, in dem ein
Wesen sich der Unendlichkeit des Raumes bewußt wird, wird es der
Unendlichkeit des Bewußtseins inne. Wenn also der Raum eine Eigenschaft
unseres Bewußtseins ist, dann kann mit gleichem Recht gesagt werden, daß das
Erlebnis des Raumes das Kriterium geistiger Aktivität und höherer Bewußtheit
ist.
Die Art des Raumerlebens oder der Raumwahrnehmung
ist charakteristisch für die Dimension unseres Bewußtseins. Der dreidimensionale
Raum, den wir mit unserem Körper und seinen Sinnen wahrnehmen, ist nur eine
unter den vielen möglichen Dimensionen!
Wesentlich für die Meditation, die geistige
Befreiung oder die Reise nach innen ist daher die Schulung des Verstandes.
Rechte Meditation beginnt mit der Achtsamkeit auf die eigenen Reaktionen im
Alltagsleben und in den Beziehungen zu anderen. Sie beginnt mit der Beobachtung.
Wenn wir dem Gefängnis entfliehen wollen, das uns an die Vergangenheit oder
Zukunft fesselt, müssen wir zuerst seine Ausmaße herausfinden. Eine solche
aufmerksame Beobachtung erfordert die Kunst, auf den ganzen Inhalt unseres
Bewußtseins zu horchen, nicht nur auf das, was außerhalb vor sich geht,
sondern vor allem auf das, was im Inneren vor sich geht.
Das bedeutet, gespannt auf sich selbst zu horchen:
das Wirken unserer Anschauungen, Vorurteile und Schlußfolgerungen zu beobachten,
auf Reaktionen wie Befürchtungen oder Erwartungen, Enttäuschungen oder
Vergnügen zu achten usw. Nur dadurch, daß wir all dies beobachten, die
Elemente, die unser Wahrnehmen und Denken verzerren, können wir schließlich
zu jenem ruhigen Denken gelangen, bei dem die Tür leicht und ohne Widerstand
schwingt, so daß wir uns geräuschlos nach innen und nach außen bewegen
können. Durch die Kunst, auf den ganzen Inhalt unseres Bewußtseins zu horchen,
ihn zu sehen und verstehen zu lernen, wird der Verstand ruhig und geordnet.
Wenn unser Verstand ruhig ist, sind wir frei, und
die Fesseln, die uns gefangen hielten, sind zerbrochen. Das ist wohl der
Grund, weshalb Krishnamurti meint, Meditation erfordere ein Verstehen des
Todes, denn der Tod ist eine Auflösung von Bindungen und von allem Anhaften.
Solches Anhaften, auch aus Zuneigung oder Achtung,
ist nicht vereinbar mit wirklichem Horchen. Das Leben in einem sehr einfachen
Stil bietet eine der besten Möglichkeiten, um diese Losgelöstheit zu erlernen
und dies kann ein wunderbarer Weg zur inneren Freude und Freiheit sein.
Es scheint da einen Trend in Richtung Einfachheit zu
geben, wie der Gesellschaftswissenschaftler Duane Elgin vom Stanford Forschungsinstitut
in seinem Buch „Freiwillige Einfachheit" darlegt. „Mit Einfachheit zu
leben bedeutet, unser Leben zu entlasten, eine direktere, schlichtere und
unbelastetere Beziehung zu allen Aspekten unseres Lebens zu leben. Das heißt,
das Leben klar zu konfrontieren, ohne unnötige Ablenkungen, ohne die tiefere
Ebene unserer Existenz mit
Vortäuschungen, Ablenkungen und unnötigen Anhäufungen zu maskieren."
Denn dieses Anhaften verführt den Verstand dazu,
sich zu weigern, dem was er hört, die rechte Aufmerksamkeit zu schenken.
Wahre Meditation bedeutet daher die Notwendigkeit, solchem Anhaften zu
sterben; und in der Tat nur aus einem solchen Zustand kann rechtes Handeln
erwachsen.
Zwei der stärksten Fesseln, die uns in einem Zustand
der Gefangenschaft halten, betreffen das Problem der Sicherheit und das Problem
individueller oder persönlicher Tüchtigkeit.
Von Zeit zu Zeit überwältigt uns das Gefühl der
Unsicherheit, die allem Menschlichen anhaftet. Wir fürchten uns davor,
liebgewonnene Haltungen, Denk- und Lebensgewohnheiten aufgeben zu müssen.
Aber ich glaube, in der geistigen Befreiung lernen wir, daß ein aufrichtig
gelebtes Leben einfach keine Sicherheit bietet, und wenn das Leben so gelebt
wird, schwindet jede Frage nach Sicherheit. Besitztümer, Status und auch der
Beifall anderer sind keine Lebensnotwendigkeiten mehr für einen, der im
Lichte wandelt, der sich aus dem Dunkel seiner Ängste befreit hat. Die Reise
nach innen transformiert das Problem der Sicherheit dadurch, daß sie unser
Verhältnis zur Zukunft ändert. Nur ein Denken, das um das Morgen besorgt ist,
sucht nach Sicherheit. Aber unser Verhältnis zur Zukunft, dieser
unerforschten Unendlichkeit von Raum und Zeit, deren Leere wir mit
Hirngespinsten anfüllen, wird sofort verwandelt, wenn unser Denken frei von
jedem Anhaften ist. Auf der Reise nach innen fällt die Zukunft mit der
Gegenwart zusammen. Wir lernen, das Leben so zu leben, wie es gegeben ist,
und nicht, wie es sein könnte oder sollte.
H. P. Blavatsky gab ihren Schülern einmal ein
Diagramm zur Meditation, in dem man zuerst angewiesen wurde, sich eine
Vorstellung von der Einheit zu machen. Wenn Einheit voll verwirklicht ist,
wird der normale Zustand des Bewußtseins von drei Errungenschaften gebildet,
deren erste es ist, in der eigenen Vorstellung beständig im ganzen Raum und
in der ganzen Zeit gegenwärtig zu sein. Daraus entsteht ein Substrat von
Erinnerung, das im Träumen und Wachen niemals aufhört und dessen
Manifestation Mut ist. Denn mit der Erinnerung
an das Allumfassende vergeht alle Furcht vor den Gefahren und Prüflingen des
Lebens. Die Frage nach Sicherheit oder Unsicherheit ist einfach nicht mehr
da.
Auf dem Weg nach innen können wir im bloßen Sein
einen Sinn entdecken, der tiefer und bleibender ist als der Lohn
arbeitswütigen Tuns. Wir können die Kraft des Schweigens, der Stille, des
Nichttuns erfahren, das paradoxerweise auch ein Tun ist (hier ist nicht Un-Tätigkeit,
sondern über Nicht-Tätigkeit gemeint), und wenn wir in dieser Kraft leben,
sind wir nicht mehr so abhängig vom Zwang zur Tätigkeit.
In einem so gelebten Leben besteht dann aber eine
Qualität des „Anwesendseins", des Hierseins, die einen tieferen Einfluß
auf Menschen und Situationen ausübt, als irgendeine Geschäftigkeit ihn sich
aussinnen könnte. Ein solches Anwesendsein erwächst aus tiefer
Verinnerlichung. Diese Verinnerlichung befähigt uns, Arbeit zu tun, die
wirklich schöpferisch ist — jede Art von Aufgabe und Arbeit wird dadurch
schöpferisch. Darin liegt aber noch ein tieferes Paradoxon. Die echte
Befreiung gibt dem früher Gefangenen die Kraft, freiwillig in das Gefängnis
zurückzukehren und in der Formenwelt zu arbeiten, ohne seine Freiheit
aufzugeben. Vielleicht könnte man sagen, daß wir, wenn wir uns wieder in das
Gefängnis begeben, wieder eine Verpflichtung eingehen. Aber diese
Verpflichtung betrifft eine neue Ordnung der Dinge. Unsere Verpflichtung zu
Aufgaben in der Welt des Tuns hat nun ihren Ausgangspunkt in einem Selbst,
das frei ist, weil es allumfassend ist. Es ist nicht das persönliche Selbst,
sondern jenes Selbst, das universell in allem gegenwärtig ist.
[...]
Flucht in die innere Freiheit und Engagement sind
nun als zwei komplementäre Rhythmen zu erkennen und nicht als zwei Dinge, die
einander ausschließen. Sie sind wie Ebbe und Flut, wie das Zu- und Abnehmen
des Mondes, die eine Bewegung ist die Reaktion auf die Zugkraft der anderen,
und beide stärken sich wechselseitig. Der Befreite, der wiederkehrt, wird
weniger leicht angesichts von Enttäuschungen schwach und müde werden; der
Weg nach innen deckt die Beschränkungen alles menschlichen Handelns auf, aber
er gibt auch die
Freiheit zu tun, was man tun kann und muß. Wer so aus der Welt des Inneren
zurückkehrt, wird besser fähig zu sein, die Dinge aus dem Blickwinkel der
Ewigkeit zu sehen, er wird wissen, daß ein heute gepflanztes Saatkorn erst in
einer Zeitspanne keinem und blühen mag, die weit über ein Leben hinausreicht,
und er wird Taten nach ihrer inneren Beschaffenheit und Aufrichtigkeit
beurteilen und nicht nach ihren unmittelbaren Ergebnissen.
Die Reise zum inneren Licht führt uns auch durch
innere Dunkelheit, denn ohne das eine könnten wir das andere nicht erkennen.
Daher wird, wenn gute Taten böse Ergebnisse zeitigen oder wenn gute Menschen
dahinwelken, während lasterhafte gedeihen, der in die innere Freiheit
Entflohene nicht verzweifeln. Er wird auch weniger Gefahr laufen, an den
Klippen des Egos zu scheitern, wenn er entdeckt, daß so vieles, was wir tun
nicht um anderer Willen geschieht. Wir handeln so, als ob unser Ego nicht
genügend Anziehungskraft besäße, um alles andere in eine Kreisbahn um unsere
Wünsche zu ziehen. Ich will damit nicht sagen, daß wir auf der Reise nach
innen alles Selbstgefühl verlieren; im Gegenteil, mit der Freiheit kommt ein
erhöhtes Selbstgefühl. Aber die Verinnerlichung untergräbt die Macht des nach
einem persönlichen Image suchenden Egos, indem sie uns einen festen Grund in
der Wirklichkeit verleiht und weniger abhängig von äußeren Erscheinungen
macht.
Diese Verankerung in der Wirklichkeit bedeutet,
tätig zu sein, aber immer aus der Ganzheit unseres Wesens. Wenn wir einem
Freund die Hand schütteln, ohne irgendwelche ablenkenden Gedanken dabei zu
haben, dann ist dies das wahre, tiefe Erlebnis der Freundschaft. Wir können
sagen, daß ein solcher Augenblick das Erleben des absoluten Selbstes
bedeutet: Meditation und Handlung sind das gleiche. Anders als in unseren
normalen Alltagstätigkeiten gibt es im absoluten Sein keine Funktion. Wenn
wir uns nicht praktisch engagieren, um uns in die Lage zu versetzen, das
absolute Sein zu erfahren, sind wir nicht besser als Intellektuelle, die um
einen Tisch sitzen und darüber diskutieren.
In keiner dieser Richtungen erreicht die Befreiung
natürlich Vollkommenheit. Das Engagement in der Welt verlangt seinen Zoll an Energie und auch an Perspektive. Aber wenn wir von
der Reise nach innen zurückgekehrt, am Wirken im Bereich des Tätigseins
teilnehmen, erkennen wir auch die periodische Notwendigkeit einer neuerlichen
befreienden Flucht nach innen.
Rabindranath
Tagore hat dies so ausgedrückt:
Unvollkommenes ist nicht eine Verneinung der
Vollkommenheit, sondern Vollkommenheit, die stückweise in Erscheinung tritt.
Endlichkeit in kein Gegensatz zur Unendlichkeit, sondern Unendlichkeit, die
sich innerhalb von Grenzen offenbart.
Jeder Gedanke eines Menschen geht, sobald er
entwickelt ist, in die inneren Welten über und wird zu einer tätigen
Wesenheit, indem er sich mit einem Elemental verbindet — verschmilzt, könnte
man sagen — , das heißt mit einer der halbintelligenten Kräfte der Naturreiche.
Er lebt als eine aktive Intelligenz weiter — ein vom Verstand gezeugtes
Geschöpf — für eine längere oder kürzere Periode, entsprechend der
ursprünglichen Intensität der Gehirntätigkeit, die es erzeugte. So wird ein
guter Gedanke als aktive wohltätige Kraft verewigt, ein böser Gedanke aber
als ein übelwollender Dämon. So bevölkert der Mensch seinen Weg im Raum
ständig mit einer selbstgeschaffenen Welt, erfüllt mit den Sprößlingen seiner
Phantasien, Begierden, Impulse und Leidenschaften. Er schafft so eine
Strömung, die auf jeden empfängnisfähigen nervlichen Körper einwirkt, der in
Berührung mit ihr kommt, und zwar nach dem Maß seiner dynamischen Intensität.
Der Buddhist nennt dies seine „Skandhas", der Hindu gibt ihm den Namen
„Karma".
Mahatma Letters I, S. 75/76, Adyar-Verlag
Autor: Elisabeth Schmidt