URSPRUNG UND ZIEL

Ursprung und Ziel des Kosmos zu begreifen übersteigt das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes - darauf wurde schon im ersten Kapitel des Buches hingewiesen. Selbst ein so weiser Lehrer wie Buddha lehnte es ab, darüber etwas zu sagen. Die legende legt ihm die Worte in den Mund: „Es irrt, wer fragt und wer erwidert - schweig!“

Trotzdem besitzen fast alle Religionen Kosmogonien, die jedoch symbolischen Charakter haben. Die indisch-tibetische Tradition, wie sie Helena Petrovna Blavatsky von ihren Lehrern vermittelt wurde, sagt:

1. Es gibt ein allgegenwärtiges, ewiges, grenzenloses Prinzip, über das alles nachdenken unmöglich ist, da es die Kraft menschlichen Begreifens übersteigt. Diese unendliche, ewige Ursache ist die Wurzel von allem, was war, ist und jemals sein wird, sie ist mehr ‚Sein-heit‘ als Sein. (Anmerkung des Autors: „Wir haben in diesem Buch den Namen „Gott“ selten gebraucht, da dieser Name aufgrund der christlichen Tradition zu sehr mit der Vorstellung eines persönlich bewussten höchsten Wesens verbunden ist. Persönliches Bewusstsein ist aber Kennzeichen bereits differenzierter begrenzter Wesenheiten.“)

2. Diese ‚Sein-heit‘ offenbart sich in zwei Aspekten, im absoluten abstrakten Raum und in der absoluten abstrakten Bewegung, symbolisch „der große Atem“ genannt.

3. Das Universum in seiner Gesamtheit als grenzenlose Daseinsebene ist ewig; diese ist periodisch der Schauplatz zahlloser Universen, die gleich Ebbe und Flut unaufhörlich erscheinen und wieder verschwinden.

Noch weniger als über den Ursprung vermag sich das menschliche Denken über das Ziel des Universums eine Vorstellung zu machen.

Lediglich hinsichtlich der Entwicklung auf unserer Erde, dem kleinen Planeten eines kleinen Sonnensystems, einem Staubkorn im großen Weltall, kann unser Blick ein wenig weiter gehen.

Hier können wir die Entwicklung von Leben und Bewusstsein aus seinen Anfängen, den chemischen Reaktionen in den Atomen, bis zu dem wunderbaren komplizierten Bau des menschlichen Körpers und seinem Bewusstsein verfolgen. Eine folgerichtige Weiterführung dieser Entwicklung rechtfertigt die von vielen Religionen gelehrte Existenz von Übermenschen oder, richtiger, vollendeten Menschen, d.h. solchen, die alle Möglichkeiten des menschlichen Daseins ausgeschöpft und entfaltet haben. Dieser Gedanke liegt den „Heiligen“ des Christentums zugrunde, systematischer ist er in der indischen Tradition ausgearbeitet, sowohl in Gestalt der Rishis und Jivanmuktas der Hindus als auch der Arhats und Asekhas der Buddhisten.

Durch eine Reihe von Bewusstseinsentfaltungen und -erweiterungen, bei gleichzeitiger Verfeinerung und Schulung des Körpers unter Anleitung eines wissenden Lehrers (des Guru), durchschreitet der Schüler (Chela) bestimmte Stufen, die manchmal auch Einweihungen genannt werden, und gelangt so schließlich zur Vollendung seines menschlichen Wesens. Der Tradition nach sind solche vollendete Menschen grundsätzlich von der Wiederverkörperung auf Erden befreit. Von ihrem Bewusstseinszustand und ihren Aufgaben in anderen Bereichen vermögen wir uns begreiflicherweise keine wirkliche Vorstellung zu machen. Eine buddhistische Tradition besagt, dass es eine ihrer Aufgaben ist, die von den Menschen ausgehenden negativen Gedanken- und Gefühlskräfte zu neutralisieren und zu harmonisieren.

Nach dieser Tradition hat es jedoch immer wieder einzelne solche vollendete Menschen gegeben, die freiwillig eine Wiederverkörperung in menschlicher Gestalt auf der Erde auf sich nahmen, um die Menschen führen und ihnen helfen zu können. Sie wurden auch Adepten oder Meister genannt.

Eine besondere Gruppe solcher Lehrer, die Kandidaten als Schüler annehmen, gab es durch Jahrhunderte hindurch in Tibet. Europäern war es jedoch nur ausnahmsweise möglich, mit solchen Lehrern in Verbindung zu treten.

Diese vollendeten Menschen oder Meister zeichnen sich dadurch aus, dass sie über die Kenntnis verschiedener dem allgemeinen Wissen der Zeit noch unbekannte Naturkräfte verfügen und auch verschiedene in der Masse der Menschen noch schlummernde innere psychische Kräfte entfaltet haben, wodurch sie zur Hervorbringung von Erscheinungen befähigt sind, die ihren Zeitgenossen als „Wunder“ erscheinen. Sie sind jedoch ebenso wenig Wunder wie unsere Lichtschalter und Fernsehschirme, die Menschen des 17. Jahrhunderts sicherlich auch als Wunder (und wahrscheinlich als „Teufelswerk“) erschienen wären.

Auch haben diese vollendeten Menschen ihren Charakter in einer Weise entwickelt, dass sie ganz im Einklang mit dem universellen Gesetz denken, leben und handeln. Dies ist die höchste ethische Vollendung, die nicht immer den begrenzten Regeln menschlicher Moral entsprechen muss.

Bewusstseinsmäßig haben sie jene Stufe erreicht, die in den Religionen als Erlösung, Befreiung, Mokscha oderNirvana bezeichnet wird, d.h., sie stehen, wenn auch in verschiedenem Grade, über den gegensätzlichen Polen von Liebe und Hass, Freude und Schmerz, in einem Zustand innerer Verbundenheit mit dem Sein, einem Glückszustand höchster Art, der von allen äußeren Einwirkungen unabhängig ist.

Nach der anfangs erwähnten Tradition ist es die Bestimmung der gesamten Menschheit, einmal diese bewusstseinsstufe zu erreichen, aber erst am Ende der insgesamt sieben Zyklen umfassenden Lebensperiode unseres Erdplaneten, in dessen viertem Zyklus wir uns gegenwärtig befinden.

Die Erde ist nach dieser Auffassung eine Ganzheit, gewissermaßen ein beseelter Organismus, alles Leben auf ihr und in ihr ist miteinander verbunden und soll sich im Laufe der gesamten Milliarden Jahre währenden Lebensperiode dieses Planeten um eine Stufe in der Bewusstseinsentfaltung erheben - das Leben, das die Minerale beseelt, soll zu Leben werden, das sich in pflanzlichen Organismen manifestieren kann, das pflanzliche Leben zu tierischem, das Leben, welches das Tierreich beseelt, soll an die Stufe des menschlichen Bewusstseins herangeführt werden, und die gesamte Menschheit soll sich zu einem vollendeten kosmischen Menschen entwickeln, zu einer kollektiven Gottheit, die nach einer kosmischen Ruheperiode zur beseelenden Gottheit eines neuen Systems werden kann.

Doch das sind Ausblicke, die die menschliche Erkenntniskraft eigentlich übersteigen. Wir können sie nicht überprüfen und sie nur aufgrund der Traditionen als Arbeitshypothesen annehmen oder auch nicht. Wesentlich ist auch nicht, dass wir ihre Einzelheiten annehmen, denn wirklich wichtig sind für jeden einzelnen Menschen und auch für die Menschheit als Ganzes nur die Schritte, die unmittelbar vor ihnen liegen. Wesentlich ist der Geist, der in diesen Traditionen lebt - das Bewusstsein der Einheit und Verbundenheit alles Leben auf dieser Erde und das Bewusstsein der grenzenlosen Entfaltungsmöglichkeit, die allem Leben innewohnt. Aus dem Wissen um die Verbundenheit und Einheit alles Lebens folgt notwendig das Wissen um die Verantwortlichkeit, die uns Menschen als einzige selbstbewusste Wesen unserer sichtbaren Welt nicht nur füreinander, sondern auch für alle anderen Naturreiche, Tiere, Pflanzen und anorganisches Leben in Erde, Wasser und Luft trifft, und aus dem Wissen um die grenzenlose Entfaltungsmöglichkeit kommt uns jene Zuversicht, jene positive optimistische Lebensbetrachtung, die wir brauchen, um das Schicksal als Freund zu erkennen und Schwierigkeiten, die das verkörperte Leben individuell und kollektiv mit sich bringt,
z u  m e i s t e r n.
*) Auswahl ergänzender Literatur:
Sir Edwin Arnold, Die Leuchte Asiens, 8.Buch
Mahatma Letters, Brief Nr. 10
Briefe tibetischer Weiser, S. 105
Blavatsky, H.P. Geheimlehre, Bd. I, Zusammenfassung und Proem
Groves, C. R./Trew, Corona, Vom Sinn des Lebens
Besant, AnnieUralte Weisheit, S. 217-231
Collins, MabelLicht auf den Pfad
Bhagavad Gita, XII, 13-15; XIV, 24-27
Teilhard de Chardin, Pierre Die Zukunft des Menschen
 
Quelle: Nobert Lauppert, Pilgerfahrt des Geistes, Graz 1972; Kap.14.
Das Büchlein ist - wenn überhaupt - nur noch antiquarisch zu erhalten

 



Autor: Norbert Lauppert