Fortschritt und Rückschritt

Solange der Mensch als ein Einzelwesen existiert, ist er beständigen Wandlungen unterworfen; der Tod in jeder seiner Daseinssphären, in der sinnlichen Welt, auf der Astralebene und im Himmel ist nur ein Abstreifen dessen, was nach vollzogener Wandlung als fernerhin unbrauchbar abgestreift und zurückgelassen wird. Alle großen Denker haben dies erkannt. Die letzten Worte Goethes waren, wie uns von Augenzeugen berichtet wird, nicht die berühmten Worte: „Licht, mehr Licht!" Diese mag er wohl gesprochen haben, aber seine letzten Worte waren: „Jetzt beginnt die Wandlung der Wandlungen."

Beständig sucht der Geist, sich in der Materie zu offenbaren, und die Materie strebt danach, zu empfangen und aufzunehmen. Von der Qualität dessen, was die materielle Form empfängt und aufnimmt, hängt ihr Fortschritt oder Rückschritt in ihrer Entwicklung ab. Die Seele ist das substantielle Mittel, wodurch der Geist die Materie durchdringen und sich mit ihr in Verbindung setzen kann. Das Durchdringende kann rein oder unrein, erhebend oder erniedrigend sein. Es gibt somit eine progressive und eine retrogressive Wandlung oder Transformation, und die Aufgabe ist, danach zu streben, dasjenige in sich aufzunehmen, was den Fortschritt fördert, und alles zu vermeiden, was einen Rückschritt oder eine Erniedrigung bedeutet.

Dasjenige, was den Menschen erniedrigt und ihn mehr und mehr verdichtet, beschränkt und „materiell" macht, ist der Wahn der Eigenheit, der Egoismus mit seinem Gefolge von Habsucht, Herrschsucht u. s. w. Je mehr der Mensch diesen Wahn überwindet und sich selbst im großen Ganzen erkennt, um so mehr tritt er in die Freiheit. Ein Meister der Weisheit schrieb vor Jahren dem Verfasser dieser Zeilen folgende trefflichen Worte:

„Eins der ersten Zeichen des Fortschritts und der Selbstbeherrschung ist es, wenn ein Mensch durch seine Tat beweist, dass er freundlich, liebevoll, nachsichtig und gefällig mit seinen Gefährten sein kann, selbst wenn dieselben die verschiedensten Temperamente haben. Eins der stärksten Zeichen das Rückschritts ist es, wenn er erwartet, dass die anderen seine Neigungen teilen und handeln müssen wie er."

Die positive Wandlung bestellt in der Aufnahme edler, reiner und erhabener Gedanken und Empfindungen, wodurch die tieferen Schwingungen des Gedankenkörpers in höhere umgesetzt und dieser verklärt und erleuchtet wird.

Niedere Empfindungen und Gedanken, besonders solche [bloß] sexueller und leidenschaftlicher Art haben das Entgegengesetzte zur Folge. Durch sie wird das Herz verhärtet, die Seele verdunkelt und die Entfaltung der Kräfte des Geistes unmöglich gemacht.

Jeder Gedanke ist ein Magnet, der Einflüsse anzieht, die ihm ähnlich sind. Gute Gedanken ziehen gute, unreine Gedanken unreine Einflüsse an, und jeder durch den Willen belebte Gedanke bildet sich zu einem selbständigen Wesen von kürzerer oder längerer Lebensdauer aus, je nach der Intensität der Kraft, die es von seinem Schöpfer empfängt. Diese Wesen sind die Geschöpfe, welche unsere geistige Sphäre bewohnen und aus dieser für uns einen Himmel oder eine Hölle schaffen können, und sie sind zugleich ein Teil unseres eigenen Selbstes.

Das ewige, wahre Selbst, Gott in uns, bleibt ewig dasselbe und verwandelt sich nicht, aber dies nützt uns nichts, so lange wir es nicht erkennen und durch seine Kraft die Bewohner unseres Reiches beherrschen, anstatt uns mit ihnen zu identifizieren und ihnen zu dienen.

Die Verwandlungen bestehen darin, dass der Mensch selber dasjenige Wesen wird, womit er sich durch sein Denken und Wollen identifiziert. Wer Tugend und Gerechtigkeit liebt und sie durch sein Handeln zum Ausdruck bringt, dessen Seele wird selbst ein leuchtendes Wesen, ein göttergleicher Repräsentant dieser Eigenschaften sein. Der vertierte Mensch dagegen wird selbst zum Tier, und wenn auch die Dichtigkeit und Widerstandsfähigkeit des materiellen Körpers ihn hindert, in Tiergestalt überzugehen, so nimmt doch sein Astralkörper nach dem Tode entsprechende Formen an, weshalb auch die Bewohner der Hölle, welche ehedem Menschen waren, in Gestalten erscheinen, die halb tierisch, halb menschlich sind.

Somit liegt die Verwandlung des Menschen in seiner eigenen Hand; sie kann eine fortschrittliche sein und nach oben oder nach unten führen. Die Wandlung, welche er jetzt unternimmt, bestimmt den Zustand seiner nächsten Wiederverkörperung.

 


Autor: Franz Hartmann