Verwicklungen und Entwicklungen

des menschlichen Bewusstseins1

Dr. Bernhard Prediger

Wenn der Mensch sein Leben in dieser Welt beginnt, so wird ihm recht bald bewusst, dass er zu deren lebendigen Bewohnern gehört. Puppen und Stofftiere sind nur kurze Zeit ein einigermaßen brauchbarer Ersatz. Sie gehören zu den so genannten „toten“ Dingen, wenn sie auch für die Phantasie eine Zeit lang als Ersatz und Projektionsfläche für wirklich Lebendiges dienen können.

Lebendig aber ist alles, so stellt er fest, was sich bewegt. Tiere tun dies und Menschen natürlich, aber auch Pflanzen: Sie wachsen und ihre Blüten öffnen und schließen sich. Bäume bewegen sich – aber da ist ja auch noch der Wind, der sie bewegt, und Wolken bewegen sich ebenso, der Wind treibt sie an oder fliegen sie von selbst? Opa kann Wolken machen mit seiner Pfeife, aber sie halten nicht lange! Wasser bewegt sich ebenfalls, es fließt oder tropft – manchmal steht es auch – im Teich. Steine und Berge stehen fest – das sieht man – oder bewegen sie sich doch, aber so langsam, dass man es gar nicht merkt? Sonne und Mond ziehen über den Himmel – Sterne auch – oder scheint das nur so? Jedenfalls fallen sie nicht herunter. Die Welt ist voller Rätsel und Wunder. Fest steht: Leben und Bewegung gehören eng zusammen.

Dem Menschen aber wird bald klar, dass er sich von den anderen lebendigen Wesen dieser Welt – wie auch von dieser Welt überhaupt – unterscheidet. Und Hand in Hand damit geht etwas vor sich, das man als „Ich-Bildung“ bezeichnet.

Gleichzeitig mit der Ich-Bildung des Menschen und dieser gewissermaßen immanent entsteht der Gedanke in seinem Bewusstsein, dass eine Trennung besteht zwischen ihm und der übrigen Welt, die
ihn umgibt, und von den mehr oder weniger lebendigen Bewohnern darin, was im Übrigen beinhaltet, dass er die übrige Welt als Vielheit erlebt, d. h. als auch verschieden voneinander: Das ist ein Haus, das ein Baum, ein Tier, eine Blume … und auch innerhalb dieser Gruppen gibt es Unterschiede. Mag dieser Vorgang, der in jedem Menschen stattfindet2 und der im allgemeinen im Laufe der Kindheit oder frühen Jugend als weitgehend abgeschlossen angesehen werden kann, noch einigermaßen schmerzfrei erfolgen, so beginnt das Leben des Menschen spätestens von dieser Zeit an problematisch zu werden.

Der Mensch stellt nämlich fest, dass er einerseits eben aufgrund dieser Trennung zur Aufrechterhaltung seines Lebens bestimmter äußerer Dinge, vornehmlich natürlich der Nahrung, ziemlich gleichrangig damit aber auch der Zuwendung, Tröstung und des guten Zuspruchs, vor allen Dingen aber der Anerkennung und Bestätigung anderer bedarf, dass ihm diese Dinge aber keineswegs sicher und automatisch zukommen. Eine Mutter kann sterben, ihn vernachlässigen oder gar verstoßen. Und die sonstige Welt um ihn herum ist keineswegs nur nett und freundlich – sie verhält sich manchmal auch ablehnend, macht Angst, verursacht sogar Schmerzen.3

Der Mensch stellt insbesondere fest, dass er sich hinsichtlich der Dinge, deren er bedarf, in einer Konkurrenzsituation mit anderen Wesen seiner Art befindet und dass ihm von irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens an Dinge, die er braucht, nicht mehr nachgetragen und frei Haus geliefert werden, sondern dass er sich selbst um deren Beschaffung bemühen muss.

Daher muss er lernen, wie er dies am besten bewerkstelligt. Ist er körperlich stark, liegt für ihn der Gedanke nahe, sich mit körperlichem Einsatz zu beschaffen, wessen er bedarf. Sehr rasch merkt er aber, dass er damit nicht weit kommt und dass sein Erfolg bei der Beschaffung von Mitteln zum Überleben sehr wesentlich von anderen Fähigkeiten abhängt und von seiner Geschicklichkeit, diese einzusetzen. Auch lernt er, dass ihm die anderen, mit denen er einerseits in der besagten Weise konkurriert, andererseits bei der Entwicklung dieser Fähigkeiten, zum Beispiel als ältere Brüder, Eltern oder Lehrer sehr behilflich sein können. Hier insbesondere zahlen sich für ihn auch Freundlichkeit und Charme aus, soweit er darüber verfügt und diese auch einsetzt! Das so genannte Kindchenschema funktioniert lange!

Wird er dann irgendwann in eine Schule geschickt, so stellt er zu seiner Überraschung fest, dass dort zwar durchaus auch noch körperliche Fähigkeiten wie Kraft und Geschicklichkeit gefordert werden, im
Verhältnis dazu aber die Vermittlung geistiger Fähigkeiten eine weitaus größere Rolle spielt. „Hoppla“ denkt sich dann zum Beispiel der bislang körperlich nicht so Erfolgreiche, dem es aber leichter fällt, als anderen, geistige Fähigkeiten zu entwickeln, dass er gar nicht mehr so schlecht dran ist.

Ich weiß noch sehr genau aus meiner frühen Schulzeit – ich war damals schon ein bisschen dick und hatte wenig Lust, mit anderen um die Wette zu laufen – wie ich mir ernstlich selbst die Frage stellte, was denn nun eigentlich wichtiger sei für das vor mir liegende und offensichtlich schwierige Leben: körperliche Kraft oder geistige Fähigkeit. Der von anderen für mich erfundene Stundenplan wies aus, dass auf die Entwicklung geistiger Fähigkeiten etwa das 10-fache dessen verwendet wurde, was zum Beispiel für Schulsport zur Verfügung stand. Da ich davon ausging, die Erfinder werden sich schon etwas dabei gedacht haben, kam ich rasch zu dem Schluss, dass geistiges Vermögen doch wichtiger sei als körperliches, eine Schlussfolgerung, die sich – mit leichten Rückfällen in der Pubertätszeit – ein Leben lang im Wesentlichen als tragfähig erwiesen hat.

Alles in allem ist das Leben des Menschen in dieser materiellen Welt durch Widerstände gekennzeichnet, die diese Welt den Strebungen des Menschen entgegensetzt, und seinen mehr oder weniger systematischen Bemühungen, diese zu überwinden. Der Mensch merkt: Das Leben in der materiellen Welt ist eine ziemlich zähflüssige Angelegenheit. Aber das Leben – das merkt man auch schon als Kind – hat auch schöne Seiten: sonnige Landschaften, bunte Blumen, edle Steine, die Tiere des Waldes und vor allem spannende Geschichten, z. B. Märchen aus Büchern mit Bildern darin, auch schöne Lieder zu singen – alles das macht Freude. Und da ihm, natürlich mehr oder weniger, ein Sinn für eben die Schönheit dieser Dinge und das Gute darin mitgegeben wurde in dieses Leben, sucht das Kind genau diese Schönheit und freut sich daran. Manches schmeckt auch gut – aber das gibt es selten.

Alles in allem aber wird man sagen müssen: Die Schwierigkeiten und Widerstände überwiegen, weshalb der bekannte Psychologe Alfred Adler den Menschen als ein Mängelwesen bezeichnet hat. Insgesamt gesehen erlebt der Mensch die Welt und sich darin als Vielheit und dies ist von nun an, nachdem er zuvor die Welt und sich darin als Einheit empfunden hat, seine Grundbefindlichkeit.

Wenn der Mensch eine Weile gelebt und sich durchs Leben gemüht hat, macht er irgendwann einen weiteren beachtlichen Bewusstseinsschritt. Dies geschieht dann, wenn er merkt, dass er so etwas wie ein Gesamtbewusstsein hat, das ihm auch eine Art Gesamtbild dieser Welt vermittelt, und mittels dessen er versucht, durch diese Welt hindurch zu kommen, wir können auch sagen, das Leben in dieser Welt zu bestehen.
 
Dass dies nicht so ganz leicht ist, hat er inzwischen bemerkt und dass hierfür von entscheidender Bedeutung ist, wie das gestrickt ist, was er sein Bewusstsein nennt. Das Strickmuster seines Gesamtbewusstseins setzt sich, wie er schon gelernt hat, aus sehr verschiedenen körperlichen und vor allem geistigen Fähigkeiten zusammen, die insgesamt das bilden, was man seine Persönlichkeit, seinen Charakter nennen kann!

Wahrscheinlich hat er irgendwann bis dahin einmal den biblischen Satz gehört: „Des Menschen Leben dauert 70 Jahre und wenn’s hoch kommt 80 Jahre und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“4 Frucht dieses zutreffenden Satzes ist für ihn die Erkenntnis, dass mit Arbeit im Sinn dieses Satzes eher innere als äußere Arbeit gemeint ist. Außerdem fordert auch äußere Arbeit innere Eigenschaften wie z. B. Disziplin, Ausdauer, Pünktlichkeit, die innerlich erarbeitet werden müssen. Mit der äußeren Welt kommt er umso besser zurecht, je besser seine Gesamtpersönlichkeit den Erwartungen entspricht, welche diese Welt an ihn stellt. Und nachdem er das gemerkt hat, hofft er – meist jedenfalls – auch so zu werden.

Hat der Mensch festgestellt, dass er über ein Bewusstsein verfügt, dass dieses Bewusstsein eine Gemengelage von Einzelqualitäten aufweist und dass die sich so ergebende Gesamtqualität wesentlich den Erfolg bestimmt, den er während seines Lebens in dieser Welt erzielt, so hat er wieder einen entscheidenden Bewusstseinsschritt getan und um Bewusstseinsschritte, wir können auch sagen: Bewusstseinserweiterungen, scheint es ja in diesem Leben vornehmlich zu gehen. „Sei nützlich für die Welt, so ist sie auch ganz nett zu dir“ ist oder besser wird seine Devise.

Und etwas kommt jetzt hinzu: Hat seine Form der Bearbeitung von Welt bis dahin hauptsächlich darin bestanden, auf diese Außenwelt und die Verhältnisse darin in seinem Sinne einzuwirken, so ist jetzt der Augenblick erreicht, in dem er merkt, dass er so nicht mehr recht weiterkommt. Er beginnt neu nachzudenken über sich und die Welt, mit der Folge, dass sich seine Aufmerksamkeit und Bemühung um Qualitätsverbesserung von nun an mehr nach innen richtet. Wir hatten dieses Stadium soeben als Beginn vornehmlich innerer Arbeit angedeutet.

Hat er bis dahin zur Lösung auftauchender Probleme im wesentlichen an den äußeren Verhältnissen seines Lebens herummontiert, geht er jetzt zunehmend dazu über, auf die Art und Weise zu achten, mittels derer er innerlich mit den in Betracht stehenden Problemen umgeht.5
 
Aus einem mehr außengeleiteten – oft kann man auch sagen: genasführten Leben – wird eine mehr innengeleitete Lebensführung.

Dies wiederum stellt einen ganz wichtigen Bewusstseinsschritt des Menschen deshalb dar, weil er ihm einen zusätzlichen Freiheitsraum beschert, mit dem er in der Regel gar nicht gerechnet hat! Hat er bei seinem Handeln in der Außenwelt schon oft die Feststellung machen müssen, dass seiner Freiheit, Dinge zu beeinflussen, des öfteren eindeutige und auch harte Grenzen gesetzt sind, wird ihm hier bewusst, dass ihm die Freiheit, wie er selbst innerlich mit diesen Grenzen seiner Möglichkeiten umgeht, kaum jemand nehmen kann.

Nach viel Leid durch Ärger, Aufregung und Frustration, die er erlitten hat, ohne sich recht dagegen wehren zu können, stellt er zutreffend fest, dass es sich hierbei um Vorgänge handelt, die sich wesentlich in seinem Inneren abspielen: Er ärgert sich, er regt sich auf, er ist frustriert. Vorgänge also, die zwar von ihm erlitten werden, die aber auch gerade deshalb von ihm in ihren Wirkungen auf ihn selbst beeinflusst werden können. Er stellt fest, dass es weitgehend seine Sache ist, inwieweit er den zunächst spontan in ihm entstehenden Befindlichkeiten wie Ärger, Furcht, Angst u. a. in sich Raum gibt und dann sein Verhalten danach ausrichtet oder nicht. Jedenfalls steht es ihm frei, sich selbst durch innere Arbeit um eine Vergrößerung dieses Freiraumes zu bemühen. Die Weisen dieser Welt, so hat er sagen hören, ärgern sich nicht und regen sich auch nicht auf.

Dabei hilft ihm auch der Gedanke, dass es seiner Würde so gar nicht entspricht, sich durch automatische Reaktionen der genannten Art für andere manipulierbar zu machen. Bereits an dieser Stelle unserer Überlegungen ist klar geworden, dass die bewusstseinsmäßige Innenausstattung des Menschen nichts Fertiges ist, sondern ein mühsamer und oft sogar schmerzhafter Entwicklungsprozess, dessen Verlauf und Ergebnis für die Befindlichkeit des Menschen und möglicherweise auch für sein Gesamtschicksal von ganz außerordentlicher Bedeutung ist.

„Die Jugend ist die Zeit der Saat, das Alter erntet Früchte, wer jung nicht was er sollte tat, des Hoffnung wird zunichte.“ Diesen Satz, der über dem Eingang meiner ersten Schule prangte, habe ich, da ich kaum jemanden hatte, den ich hätte fragen können – meine Mutter war kurz nach meiner Geburt gestorben und mein Vater sorgte zwar für die Erfüllung meiner leiblichen Bedürfnisse, kümmerte sich aber im Übrigen kaum um mich – stark verinnerlicht. So wurde ich das, was man einen braven Jungen nennt, arbeitsam und pflegeleicht. Ich war eben zu der Überzeugung gekommen, dass meine Berechtigung, auf dieser Welt zu sein, in der Hauptsache davon abhing, mich für diese Welt und besonders für die Personen darin als nützlich zu erweisen und vor allem Pflichten zu erfüllen, die mir von anderen auferlegt wurden. (Eine durchaus „märchenhafte“ Situation wie ich heute weiß.) Dabei war ich andererseits aber durchaus interessiert daran, was allgemein so los ist mit dem menschlichen Leben.

Damit aber komme ich in meinem Gedankengang durch das Bewusstsein des Menschen und seine Ver- und Entwicklung, der sich natürlich vornehmlich an meinen eigenen Erfahrungen und was mir daran typisch erscheint orientiert, an eine Stelle, in der eine weitere Eigenart des menschlichen Bewusstseins eine ganz besondere Bedeutung gewinnt: Irgendwann, nur halb bewusst in der Kindheit, später bewusster, spürt man zum ersten Mal so etwas wie Liebe in sich, z. B. zu Dingen, die, wie oben dargelegt, das eigene Schönheitsempfinden in Gang gesetzt haben.

Zugleich entsteht die dringliche Sehnsucht, mit diesen Objekten seiner Liebe in nähere Beziehung zu kommen, was am – wie man denkt – einfachsten ginge, wenn man ihrer habhaft werden und über sie verfügen könnte. Aber man ist immer noch ein Kind und Bemühungen dieser Art erweisen sich rasch als vielfach ziemlich hoffnungslos, womit die Liebenssehnsucht vornehmlich das schmerzliche Getrenntheitsempfinden bestätigt, wovon bereits die Rede war.

Das vom Kinde bereits erkannte und erlebte allgemeine Trennungsbewusstsein bekommt eine neue, spezifische Qualität. „Liebeskummer“ gibt es schon vor und außerhalb der „Pubertät“. Und dann wird es noch schlimmer: Es geschieht wieder durch einen Bewusstseinsschritt: Es stellt sich nämlich dem Menschen immer deutlicher vor Augen, dass sein Leben in dieser Welt einmal ein Ende haben wird, dass er sterben muss.

Das hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass unerfüllte Liebe so sehr schmerzt, dass man irgendwann darüber nachdenkt, wie dieser Zustand denn zu beenden wäre, z. B. durch Tod! Solange der Mensch noch sehr damit beschäftigt ist, seine Stellung in dieser Welt zu erobern und zu festigen, solange lässt sich das Problem des Todes wegschieben, verdrängen. Spätestens beim Tod einer geliebten Person, z. B. der Großmutter, geht das nicht mehr so einfach.

Nimmt der Mensch in seiner Entwicklung die Herausforderung an, die für ihn mit diesem Wissen um den Tod anderer und dem sicheren eigenen Tod verbunden ist, so stellt sich ihm die Existenzfrage und damit zugleich die Sinnfrage.

Geht er davon aus und muss er möglicherweise davon ausgehen, dass von der Art und Qualität des Bewusstseins, das er sich im Laufe seines Lebens gebildet, ja erarbeitet hat, nach seinem körperlichen
Ende sowenig wie von seinem Körper bleibt, nämlich von einer gebildeten Gesamtheit nichts, weil diese wiederum in ihre Einzelteile zerfällt, so ist die Sinnfrage für ihn kaum und wenn dann nur mit mühsam zusammengeklaubten Winkelgedanken positiv zu beantworten.

Wenn von der so mühsamen äußeren und vor allem aber inneren Arbeit eines Menschenlebens nach dessen Ende nichts bleibt, wie sollen dann all die Mühen, all die inneren Schmerzen, die damit verbunden waren und vor allem künftig noch sein werden, einen sie rechtfertigenden Grund finden können?

Alles stellt der Tod in Frage! Genau dies hat ein ganz offenbar vom Glauben abgefallener polnischer Padre anlässlich einer Leichenpredigt zum Ausdruck gebracht, indem er sagte: „ No, was ist sich menschlicher Leben? Menschlicher Leben ist wie Rose am Stock, springt an, frisst ab Ziegenbock!“

Spätestens jetzt also ist der Mensch in seiner Bewusstseinsentwicklung – vielleicht dürfen wir an dieser Stelle auch schon Seelenentwicklung sagen – an einem Punkt angelangt, an dem er für sich nicht nur die Frage eines etwaigen Fortlebens nach dem Tode des physischen Körpers beantworten muss.6

Damit aber ist die Frage nach seinem Weltbild in unerbittlicher Weise gestellt. Woher kommen wir? – Was sollen wir hier? – Wo gehen wir hin? Oder anders gefragt: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?“7 Mit dieser Frage, die in Goethes Menschheitsdrama Gretchen an Faust stellt, muss sich der Mensch an dieser Stelle auseinandersetzen. Davon aber, ob und in welcher Art und Weise der Mensch sich hiermit auseinandersetzt, hängt sein weiteres Schicksal weitgehend ab. Ob er sich an dieser Stelle so herausreden kann, wie es Faust Gretchen gegenüber am angegebenen Ort im ersten Teil des Dramas tut8, will ich hier einmal dahingestellt sein lassen.

Festzustehen scheint, dass es sehr viele nicht sind, die sich dieser Frage eigenständig wirklich stellen, sie selbst für sich zu beantworten versuchen und sich nicht so rasch mit Antworten zufrieden geben, die andere, die sich Kompetenz anmaßen, ihnen anbieten.

Ich will einmal unterstellen, ein Mensch ist so gestrickt, dass er der Herausforderung dieser Fragestellung nicht ausweicht, sondern nach bestem Wissen und Gewissen versucht, sich ihr zu stellen. Sehr rasch wird er dabei ein Zwischenergebnis erzielen können, nämlich dieses, dass er mit einer weiteren Erforschung der äußeren Welt in diesem seinem Anliegen nicht recht weiterkommen wird.9

Es geht schlicht um die Frage, ob Leben, richtiges Leben, das diesen Begriff verdient, einen Anfang und ein Ende überhaupt haben kann. Fasst man diese Frage eigenständig philosophisch auf, so entsteht daraus die weitere Frage, ob etwas, das wirklich lebendig ist, diese Eigenschaft denkbarer Weise überhaupt verlieren kann und durch was und/oder wen? Man kann zu Tode erschrecken und erstarren, so dass man als tot erscheint, man kann auch todmüde werden, aber jede Erstarrung muss sich einmal lösen und kraftlos in sich zusammensinken, z. B. durch eine Erschütterung wie bei Schneewittchen, und der Schlaf regeneriert innere Kräfte.

Eine Antwort auf diese Frage versuchen alle Religionen zu geben, wobei sie sich aller möglichen Denk- und Vorstellungsarten bedienen, die überhaupt denk- und vorstellbar sind, vor allem aber eines Phänomens, das in allen Religionen vorkommt, der göttlichen Offenbarung. Denn eines wird rasch klar an dieser Stelle: Mit reinen Denkmodellen spekulativer Art kommt man hier nicht recht weiter. Nur eines kann hier weiterhelfen: die eigene unmittelbar erlebte Erfahrung.10

Damit aber kommt ein ganz neuer Begriff ins Spiel – der Begriff der Göttlichkeit und eines etwa göttlichen Lebens, an dem der Mensch und nach und mit ihm auch andere lebendige Kreaturen teil haben können oder nicht. Ein neues Denkfeld ist eröffnet. Wie verhalten sich göttliches und menschliches Bewusstsein zueinander? Eines kann man hier schon sagen: Wenn der Mensch ernstlich nach Gott fragt, so kann das nur daran liegen, dass er Göttliches in sich trägt – das wissen wir spätestens seit Goethe: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft/ Die Sonne könnt es nicht erblicken;/ läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft/ Wie könnt uns Göttliches entzücken?“

Es ist gut, dass es im nächsten Jahr im August wieder eine Sommertagung der TGD in Calw geben wird. Vielleicht kann bis dahin die eine oder andere Antwort auf diese Fragen gegeben werden. Sie müssen in den theosophischen Lehren gefunden werden können, sofern diese ihrem Anspruch an sich selbst genügen. Manche Ansätze, welche diese Lehren hier bieten, sind ja den meisten von Ihnen – mehr oder weniger – bekannt.

Als bedeutsam in diesem Zusammenhang möchte ich auf die weiteren Goethe-Verse „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“11 verweisen. Vielfältig sind die Erfahrungen des Menschen mit dieser
Zweiheit in der Einheit, in sich also, vor allem wenn sie aneinander geraten, zum Beispiel in Hermann Hesses Steppenwolf. Durchaus auch humorvoll kann dieser Gegensatz erlebt werden, wie es Eugen Roth in einem kleinen Gedicht beschreibt:

Ein Experiment
Ein Mensch, der es noch nicht gewusst hat,
Daß er zwei Seelen in der Brust hat,
Der schalte ohne Zwischenpause
Die kalte auf die warme Brause,
Wobei der schnatternd schnell entdeckt:
Die sündige Seele wird erschreckt.
Doch wächst im kalten Strahl die Kraft
Der Seele, welche heldenhaft.
Kurz, er stellt fest, wie sich die beiden
Sonst eng verbundnen Seelen scheiden.
Hat er nun überzeugt sich klar
Von dem, was zu beweisen war,
So mache er die minder grobe,
Ja, höchst erwünschte Gegenprobe:
Die Wärme bringt ihm den Genuß,
Er fühlt sich wie aus einem Guß.12

Für heute müssen wir es bei diesen Andeutungen des Problems bewenden lassen.

Auf einen Aspekt der Entwicklung menschlichen Bewusstsein möchte ich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten noch eingehen, weil er mir für die heutige Zeit besonders exemplarisch zu sein scheint und außerdem durchaus geeignet erscheint, unsere bisherigen Überlegungen abzurunden: Wer ein so braves, angepasstes Leben geführt hat, wie ich das von mir habe schildern können und müssen, der wird im Allgemeinen die gestellte Frage, oft bildhaft „Gretchenfrage“ genannt, positiv für sich und andere zu beantworten suchen.

Und dabei befindet er sich in bester Gesellschaft: Die Theosophischen Lehren sagen: Nichts geht verloren, keine Anstrengung ist vergebens. Und sie gehen noch weiter und sagen: Woran der Mensch
ein Leben lang innerlich gebaut hat, seine Seele, das wird auch ohne sichtbaren materiellen Körper weiterleben. Und er wird sich vielleicht auch einer der genannten Religionen anschließen, die dies insoweit übereinstimmend ebenfalls behaupten. Welche er dazu wählt, ist nach dem bisher Gesagten gar nicht mehr so wichtig. Damit wäre er nun also am Ziel seiner Bemühungen.

Aber ist er das wirklich? Die Erfahrung sagt: Nein. Erneut erfährt der Mensch eine ganz schwere Erschütterung – eine Existenzkrise grundsätzlicher Art. Wann dies geschieht, mag sehr verschieden sein – oft schon in Form der so genannten Midlife-Crisis erwischt es ihn. Er fragt sich: Wer bin ich eigentlich? Ist das, was ich bisher gelebt habe, überhaupt mein Leben? Ist da überhaupt etwas eigenständiges, um das zu mühen sich lohnt – für ihn selbst und – vielleicht – auch für Gott, wenn es den denn gibt, denn der Sinn des Ganges von der Einheit in die Vielheit kann ja nicht darin bestehen, diesen Vorgang einfach wieder rückgängig zu machen, als wenn er nicht gewesen wäre.

Was kann der Mensch tun, um dies herauszufinden. Kann er dies im Außen finden – in der Welt etwa, z. B. in Vorbildern? Wohl kaum, das merkt er rasch. Der Weg nach innen bleibt richtig, aber unzureichend, denn dieser Weg bis dahin hat ihm ja gerade die Schwierigkeit der Selbstfindung beschert, mit der er jetzt zu kämpfen hat. Erich Kästner reimt hierzu: „Ein Mensch, der Ideale hat,/ der hüte sich, sie zu erreichen!/ Sonst wird er eines Tags anstatt/ sich selber andren Menschen gleichen.“

Die Lösung kann wiederum im Außen nicht liegen. Wenn aber die Richtung nach Innen weiter stimmt, so kann sie nur lauten: Wir müssen tiefer graben, tiefer forschen, tiefer in uns hineinhören, ob wir dort etwas vorfinden, was unsere Frage beantwortet. Oder bleibt uns hier nichts als der horror vacui?

Beim Nachsinnen hierüber kommen mir Märchen in den Sinn. Viele Märchen erzählen in der Tat von der Begegnung des Menschen mit dieser seiner tiefsten, seiner göttlichen Dimension. Der Froschkönig, Der Eisenhans, Die Gänsemagd, Schneeweißchen und Rosenrot, Schneewittchen, Dornröschen – Märchen dieser Art erzählen von einem innersten göttlichen Teil des Menschen und seinem Schicksal in dieser Welt, das durchaus nicht immer leicht, sondern gefährdet ist und bei dessen Befreiung das, was der Mensch ist, und das, was der Mensch im Laufe seines Lebens in sich mit viel Mühe gebildet hat, sein „Ich“ nämlich, offenbar doch eine große Rolle spielt. „Du hast mich erlöst“ – diese Wendung finden wir immer wieder.

An dieser Stelle fallen mir ein paar erstaunliche Sätze ein, die Hermann Hesse über Maurice Maeterlinck und dessen Bemühen geschrieben hat, seinen Mitmenschen zur Selbstfindung zu verhelfen: Er, Hermann Hesse, schreibt über Maurice Maeterlinck:

„Ihm spielen sich alle wichtigen Ereignisse im Innern ab, er entdeckte die „Tragik des Alltags“. Er sieht in jedem Menschen verborgen und verschüchtert die Seele wohnen, und er lockt sie mit zarten, schonenden Worten hervor, spricht ihr Mut ein und versucht, ihr die verlorene Herrschaft zurückzugeben.“13

Was ist mit Seele hier gemeint? Ist es das Kunstgebilde, welches der Mensch im Laufe seines Lebens durch viel Arbeit und Mühe, durch Jahrzehnte oder länger tugendhafter Anstrengung gebildet hat? Die Märchen sagen uns eher, dass dieses der Erlöser ist, der dem Göttlichen Selbst im Menschen wieder zu Macht und Freiheit verhilft und das dann als Braut oder Bräutigam an dieser göttlichen Freiheit teilhaben darf?

Wäre es so, so hätten all die Mühen des Menschen sich letztlich doch gelohnt – wenn sie auch nicht selbst das Endziel der Bemühung waren, denn dieses vollkommene individuelle Göttliche Wesen war in ihm, dem Menschen, schon vorhanden und musste „nur“ gefunden, befreit und in seine Rechte wieder eingesetzt werden.

1 Überarbeitete Fassung des Vortrages gehalten auf der Sommertagung der TGD in Calw 2009.

2 Da er den Menschen – und zwar schicksalhaft jeden – von der übrigen Welt absondert, wird er von manchen – für mich überzeugend z. B. von Karlfried Graf Dürckheim – als Erbsünde bezeichnet, eine Absonderung eben, die jeden Menschen als Folge seiner Bewusstwerdung trifft. Mit „Erben“ im Sinne eines Übergangs von Menschen auf Menschen im üblichen Sinne hat dieser Begriff dagegen nichts zu tun. Zu dem Vorgang der „Ich-Bildung“ im Einzelnen sehr ausführlich und differenziert vgl. Annie Besant: Eine Studie über das Bewusstsein, Aquamarin Verlag 2004, S. 137ff.

3 Alan Watts schreibt in Das Tao der Philosophie (Insel TB Nr. 3053, S. 20): „[…] unser gesamtes Denken ist von der Vorstellung geprägt, dass wir eigentlich eine Seele, eine Art spirituelle Essenz sind, die in einen Körper eingesperrt ist. Wir schauen in eine Welt hinaus, die uns fremd ist […], deshalb sind wir mit dem Gefühl aufgewachsen, wir seien eine in Haut eingeschlossene Insel des Bewusstseins. Wir sehen uns mit einer Außenwelt konfrontiert, die uns zutiefst fremd ist, weil das, was außerhalb von uns selbst ist, nicht ‚ich‘ ist, was bei uns ein grundlegendes Gefühl der Feindseligkeit und der Entfremdung unserer selbst von der so genannten Außenwelt erzeugt.“

4 Vgl. Psalm 90, Vers 10: „Unser Leben währt siebzig Jahre,/ und, wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer,/ rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.“

5 Wenn er Karl Marx gelesen und eine Weile gedacht hat, es seien überwiegend jedenfalls die äußeren Verhältnisse, die das Bewusstsein bestimmen, so hat er als Frucht seiner Lebenserfahrung eingesehen: Umgekehrt wird ein Schuh draus!

6 Und logischerweise damit verbunden auch die Frage nach einer Präexistenz seiner Seele vor dem Beginn seines körperlichen Lebens, aber das merkt er erst später.

7 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, Vers 3415.

8 Ebd., Vers 3415ff., insbes. Vers 3430: „Wer darf ihn nennen!/ Und wer bekennen:/ Ich
glaub ihn./ Wer empfinden/ Und sich unterwinden/ Zu sagen: ich glaub‘ ihn nicht?“

9 Der Astronaut Neil Armstrong hat Gott im Weltraum nicht gefunden und der Chirurg Virchow keine Seele in den vielen Bäuchen, die er aufgeschnitten hat, womit beide ihren atheistischen und materialistischen Standpunkt jeweils begründet haben.

10 Vgl. besonders William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur, Insel TB Nr. 1784, Frankfurt 1997. Vergl. ferner Theosophie heute, Heft 1/2005, S. 30f.

11 Vgl. Goethe: Faust, Vers 1112.

12 Eugen Roth: Ein Experiment.

13 Vgl. Theosophie heute, Heft 1/2009, S. 38.Vgl. zum Vorstehenden auch Das ‚Ich‘ und die Persönlichkeit von Franz Hartmann, in: Theosophie heute, Heft 2/2004, S. 65ff.
 


Autor: Dr. Bernhard Prediger