Vorträge in der Sommertagung 2000 der „Theosophischen Gesellschaft in Deutschland"
(TGD) in Calw
 
 
Reiner Ullrich
 
Charlotte Wegner:
Theosophische Sommertagung -
spirituelle Perspektiven, Ziele und Möglichkeiten
 
Der Wortlaut des Themas hätte einen „Rundumschlag" ankündigen können, aber gleich der erste Satz spannte den Vortrag ein zwischen die drei idealen Ziele der Theosophischen Gesellschaft und die Situation unserer Zeit, in der wir Menschen immer mehr „können" als wir „tun sollen" und keine Instanz da ist, die einem Mißbrauch unserer technischen Möglichkeiten entgegenzuwirken imstande wäre. Ansätze dazu gibt es selbstverständlich, und sie erinnern nicht zufällig an die Ziele der TG (die inzwischen seit 125 Jahren öffentlich bekannt sind): z. B. in der UN-Charta; sie proklamiert wenigstens Brüderlichkeit und Toleranz - auch wenn die weltweite Verwirklichung noch viel zu wünschen übrig läßt.
 
Ausführlich ging die Rednerin auf Hans Küngs Projekt Weltethos ein und würdigte dessen neuen Ton gegenüber lange gewohntem Ausschließlichkeitsanspruch und mühsam abgelegter Intoleranz, um dann zu herauszuarbeien, daß es im Religiösen nicht eigentlich um ein Zusammenführen von Getrenntem gehe: das Ursprüngliche sei die Einheit, und sie finde ihren Ausdruck in der Brüderlichkeit alles Lebendigen zueinander, in ihr hänge alles mit allem zusammen und wirke alles auf alles ein - so wie ein in einen Teich geworfener Stein die Bewegung aller Wassermoleküle von Ufer zu Ufer beeinflusse (dies sollte bedenken, wer etwas Disharmonisches vorhat!).
 
Immer wieder betonte die Rednerin, wie wichtig die Vorstellungen von Reinkarnation und Karma als Verstehenshilfen für die Verkettungen des Weltgeschehens seien - gerade auch im Zusammenhang
mit Küngs Forderung, der Mensch müsse besser werden, wenn es auf der Welt besser werden solle: nur die Aussicht auf viele Erdenleben eröffnet den genügend weiten Denkrahmen für eine natürliche Entwicklung zum Besseren hin.
 
Als aktuelles und besonders anschauliches Beispiel für den noch immer nur mühsam gelingenden Dialog zwischen führenden Vertretern verschiedener Religionen diente der Rednerin der kürzliche Besuch des iranischen Präsidenten Chatami in Deutschland und die bei diesem Anlaß gehaltenen Reden. Unschwer ließen sich in Chatamis Ausführungen theosophische Grundsätze erkennen, wie etliche Zitate zeigten. Angesichts der Schwierigkeiten seiner christlichen Gesprächspartner, auf seine Argumente einzugehen, erinnerte die Rednerin an die Pflicht theosophisch strebender Menschen, sich -im Sinne des 2. Zieles der TG - zum Dolmetschen zwischen den verschiedenen Religionen zu befähigen und bereitzuhalten.
 
Der 3. Aspekt des Vortrags befaßte sich mit der Leuchtturm-Funktion der Theosophie besonders angesichts des Sammelsuriums, das sich unter der Bezeichnung „Esoterik" breitmacht, und wies auch gleich die Richtung, die aus diesem Chaos herausführt: Wer sich und sein eigenes Wohl über die Liebe zur Menschheit stellt, ist nicht wert, Schüler der Theosophie zu sein. Theosophische Veranstaltungen, wie diese Sommertagung, können nicht mehr als Impulse geben - sie verwirklichen kann jeder nur für sich und aus sich. Einige praktische Ratschläge, wie man die Angebote einer solchen Tagung in der Arbeit an sich selbst nützen könnte, damit sie ein (wenn auch winziger) Baustein am Tempel der Menschheit werden, lenkten auf die Harmonie des Alls, auf seine Schönheit, die es mitzugestalten gelte: mitzugestalten nicht von der Peripherie sondern vom Zentrum im Innern des Menschen her.
 
 
Reiner Ullrich:
„. . . geselle dich zur kleinsten Schar"
 
Die Zeile aus Goethes Gedicht „Vermächtnis", die diesem Vortrag als Überschrift diente, gibt mehr her, als man auf den ersten Blick vermutet: man muß sie nur in ihrem Zusammenhang betrachten. Auf ihn eingehend, erläuterte der Redner zuerst den Vers „Was fruchtbar ist, allein ist wahr", indem er das Fruchtbar-Wahre abhob vom Gewiß-Wahren, wie es Mephisto dem Schüler zynisch als Anzustrebendes vorhält. Fruchtbar-Wahres ist mehr als gesichertes Wissen, als beweisbar Richtiges, das zum Besserwissen, zur Kritiksucht verführt. Eisig sprengt Beweissucht das lebendig warme Durchdrungensein von der Ahnung des ewigen großen Ganzen auf in unfruchtbare Teile -Teile, die des geistigen Bandes entbehren. Schwer ist das Fruchtbar-Wahre in Worten mitzuteilen - wer's nicht fühlt, wird es nicht erjagen!
 
Wer Fruchtbar-Wahres erkannt und seine lebenspendende Kraft gespürt hat, findet einen neuen Orientierungspunkt in seinem Leben: er kreist nicht mehr nur um die Gebote und Verbote der „Volksmoral", sondern spannt, wie ein Planet, seine Ellipsen-Bahn um zwei Brennpunkte - der neugefundene zweite Brennpunkt ist sein Gewissen, die „Sonne seines Sittentages". Die Spannung verschärft sich durch die nun schärfere Beobachtung der Umwelt, des „allgemeinen Waltens", wie es Goethe in seinem Gedicht nennt, und diese Umwelt denkt gar nicht daran, ihren Sinn zu ändern; warum solle auf einmal nicht mehr gelten, was sich seit jeher bewährt habe? „Weltverbesserer" gehören verspottet!
 
Der zum Idealen Strebende fühlt sich allein; er möchte den „gemeinen Pöbel" nicht hassend meiden (wovon der bekannte lateinische Spruch „odi profanum vulgus . . ." redet), aber wie soll er sich vor dem Absturz in die Resignation bewahren? Indem er sich Gleichgesinnten anschließt, auch wenn es noch so wenige sind.
 
Eingehend auf die Theosophische Gesellschaft als eine solche „kleinste Schar" vergaß der Redner nicht, auf Gefährdungen hinzuweisen, die auch dieser idealen Vereinigung drohen: Auserwähltheitswahn, Proselytenmacherei, Überheblichkeit, übersteigerter Individualismus, Erstarrung und Verrechtlichung. Letzteres veranschaulichte er an den Nachfolgern Jesu von Nazareth, einer anfangs auch winzigen Schar: Im Matthäus-Evangelium wird aus des Täufers Johannes Bußruf „Kehret um!" oder „Ändert die Richtung eures Sinnens!", enthalten in dem einen griechischen Wort „metanoeite", in den folgenden drei Jahrhunderten die lateinische Aufforderung „Betreibt das Bußwerk!" („poenitentiam agite"); aus einem inneren Vorgang, der vielleicht höchstens einem „Magier reinen Herzens" wahrnehmbar wäre, wird eine endlose Kette von Gebeten, eine Wallfahrt, die Stiftung eines Hospitals, einer Kapelle oder Kirche - jedenfalls etwas, das man mit Augen sehen und auch amtlich nachprüfen kann. In der schlagkräftigen Organisation, zu der die christliche Kirche schon um 400 geworden war (so stark, daß sich die Herrscher eines zerfallenden Reiches auf sie stützten, um ihre Macht zu sichern!), hatte das „allgemeine Walten" (im Sinne Goethes) die Oberhand gewonnen.
 
Doch auch solche Organisationen leben von den idealen Impulsen einzelner, die das Fruchtbar-Wahre in sich spüren. Zwei erwähnte der Redner: Franz von Assisi, der die hochmittelalterliche Kirche vor völliger Verweltlichung bewahrte (und heiliggesprochen wurde), und Meister Eckehart, den philosophischen Prediger, dessen Anhänger (nachdem er gebannt worden war) „in den Untergrund gingen". In diesem Untergrund leben, nur selten an der Oberfläche geschichtlicher Überlieferung erkennbar, die wenigen, die um ein tieferes Verständnis der Religion ringen; im Abendland sind sie das Rinnsal „esoterischen Christentums". In dieser Tradition weiß sich die Theosophische Gesellschaft, auch wenn sie sich nicht auf abendländischchristliche Überlieferung beschränkt, sondern, vor allem aus indischen Quellen schöpfend, das ausbaute und vertiefte, was im Umkreis der Freimaurer schon im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die „hermetischen" Lehren befruchtete.
 
Nichts liegt näher als die besorgte Frage, ob denn theosophische Vereinigungen immer so kleine Scharen bleiben (müssen) und ob sie, größer werdend, vor dem Schicksal des Erstarrens oder Umkippens bewahrt werden könnten. Zitate von Blavatsky und Hartmann zeigten, daß diese Sorgen nicht neu sind und schon von Berufeneren gestellt wurden. Es liegt mit an uns, daß der innere Impuls, das Fruchtbar-Wahre, sich allen Hemmnissen zum Trotz immer wieder Bahn bricht und einsichtige Menschen weckt und drängt, am großen Werke weiterzuarbeiten, auch wenn scheinbar noch so wenige mithelfen.
 
Dr. Bernhard Prediger:
Karl Jaspers -
Begegnung mit einem theosophischen Geist
 
Jaspers, dessen Werke etliche tausend Seiten füllen, in einem Vortrag zu würdigen, ist so unmöglich nicht: Hat er doch die Grundgedanken seines Philosophierens in einer Reihe von Rundfunkvorlesungen zusammengefaßt, die ein schmales Bändchen ergeben. Ihn zur Theosophie in Beziehung zu setzen mag gewagter erscheinen, denn im Zusammenhang mit Paracelsus und Jakob Böhme äußerte er sich kritisch über sie. Aber indem er sie in einem Atem mit Anthroposophie und anderem nennt, zeigt er, daß er die „Theosophie" als Lehrgebäude versteht. Der Redner jedoch, von Franz Hartmanns dynamischem Theosophie-Verständnis herkommend, läßt sich davon nicht abschrecken. Indem er ausführlich zitiert, zeigt er die Übereinstimmungen in den Schichten jaspersschen Philosophierens unter dessen Oberfläche: im „Kümmern um sich selbst", in der „Wendung nach innen" als Voraussetzung für die Welterkenntnis, vor allem aber im „Umgreifenden" spürte der Redner das Verwandte auf - nachdem er zuvor bereits, mit Jaspers' Worten, die Eigenart der Philosophie gegenüber den exakten Wissenschaften herausgearbeitet hatte und schon in diesem Vorfeld Parallelen zu Hartmanns Theosophie-Verständnis fand.
 
In der klärenden Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung -köstlich illustriert mit dem Ringelnatz-Gedicht über den Fußballspieler, der nicht weiß, wie er Anlauf nehmen soll, wenn er der ganzen Erde seinen Fußtritt verpassen will - wird die theosophische Grundhaltung des Philosophen Jaspers am deutlichsten, ausführlich belegt mit Zitaten aus Werken Hartmanns („Andere Dimensionen des Denkens", „Karma", „Mysterien, Symbole"). Natürlich hat Jaspers nicht von Hartmann „abgeschrieben", aber Gedanken, die „in der Luft liegen", werden von verschiedenen Denkern aufgegriffen und ausgesprochen, unabhängig von literarischer Übernahme. - Nach einer kurzen Zwischenmusik brachte der Redner noch eine Reihe längerer Jaspers-Zitate zur Illustration des vorher Gesagten: über den Gottesgedanken, die „Achsenzeit" (um etwa 800 - 500 vor unserer Zeitrechnung), die Einheit der Menschheit und über philosophische Lebensführung, und er schloß mit dem Aufruf zu Besinnung und Versenkung und dem Gleichnis vom Schmetterling, der sich über das Ufer des Ozeans hinaus ins Grenzenlose wagt.
 
Hans Beetz:
Karma und Vererbung
 
Sommertagungsteilnehmern, die nur „in der Wesen Tiefe trachten", mochte der einführende Abschnitt über Gregor Mendels Bohnen, über Protoplasma und Zellkerne, Chromosomen und Gene, Desoxyribonukleinsäure (DNS) und Doppelhelix, Basenpaare und Genom vielleicht fehl am Platze erscheinen - aber Theosophie ist nun einmal, wie wir schon oft erinnert wurden, nichts für intellektuelle Faulpelze; wir müssen gemäß dem 2. Ziel der Theosophischen Gesellschaft auch ein anderes Brevier lesen können als unser eigenes! Das, was der Redner dem Blick auf die moderne Genetik folgen ließ, klang dann vertrauter: eine kurze Rekapitulation theosophischer Grundbegriffe, eingehängt in den Rahmen von Sterben und Wieder-geboren-Werden, das sich auf einigen der sieben Etagen des Bewußt-seins-Stufenreiches abspielt.
 
Diese breite, doppelte Basis war für die folgende Erörterung des scheinbaren Widerspruchs zwischen den Kräften der Vererbung und der über die Grenzen der Verkörperungen hinaus wirkenden Vergeltungskausalität des Karmas eine sichere Verständigungsgrundlage: Vererbung und Karma ist kein „Entweder — Oder", sondern ein „Sowohl — Als auch". Das, was vererbt wird (nämlich nicht nur körperliche Merkmale, sondern auch solche des Charakters), fügt sich in das karmisch Notwendige nahtlos ein, ja ist sozusagen dessen unausweichliche Wirkung.
 
Damit spitzt sich das eigentliche Problem auf die Frage zu: Wie findet ein sich verkörperndes Ego die zu ihm passenden Eltern? Das ist anscheinend wirklich nicht leicht, denn zueinander passen muß alles: nicht nur die künftige Gestalt samt Augenfarbe und Konstitution, sondern auch die Belastung mit erblichen Defekten oder Krankheiten, die Erziehungsfähigkeit der Eltern mit der Belastbarkeit des Kindes (oder umgekehrt!), das familiäre Umfeld usw. usw., nicht zuletzt auch die Vermögensverhältnisse - aus der Froschperspektive nicht nur durchschnittlicher Erdenbewohner (und hätten sie auch noch so leistungsfähige Computer!) eine unlösbare Aufgabe! Verwandtes zieht sich an, aber auch Haß verkettet, und so kann manches Kind „aus der Art schlagen" - es ist ja nicht nur das Karma eines Kindes, welche Eltern es „bekommt", sondern auch das Karma der Eltern, welches Kind sie aufzuziehen haben. Trost und Mahnung zugleich: jeder Mensch hat, lange bevor sein physischer Körper ins Leben gerufen wurde, seinem künftigen Schicksal zugestimmt, das sich vor seiner geistigen Schau als Plan ausbreitete; er hat sich vorgenommen, das für ihn als not-wendig Eingesehene zu erfüllen als seine Pflicht.
 
Und wenn nun, mit dem Fortschreiten der Gentechnik, an den Bausteinen der Vererbung herummanipuliert wird, damit (wie uns interessierte Wissenschaftler versichern) Krankheiten besser bekämpft, Erbschäden von vornherein ausgeschaltet werden können? Die Hüter des Guten Geschickes werden auch dies in ihre Planungen einbeziehen - aber die Folgen unserer Taten und Unterlassungen können sie nicht aus dem Weltall verschwinden lassen: Manch einer, der sich heute als Wohltäter der Menschheit betrachtet, wird sich einst erschrocken die Augen reiben über das, was er verursacht hat!
 
Helga Winkler-Rex:
Spirituelle Entwicklung - die Voraussetzung für eine
funktionierende Familie und Partnerschaft
 
Vielleicht haben sich etliche Sommertagungs-Teilnehmer beim Lesen dieses Themas etwas anderes vorgestellt als das, was die Rednerin vortrug; Langeweile wegen zu großer Bekanntheit der Gedanken und Formulierungen konnte also nicht aufkommen. Dergleichen wirkt erfrischend, auch wenn die Geduld der Hörer einmal strapaziert wird. Wertvoll war der Blick auf die Betrachtungs- und Beurteilungsweise heutiger Psychologie und Psychiatrie vor allem durch das Gewahrwerden der Unterschiede, durch die sich theosophische Überlegungen von ihnen abheben - gerechterweise muß man wohl eher sagen: abhöben, wenn vergleichende Überlegungen hierzu im Umkreis der theosophischen Bewegung angestellt würden.
 
Wenn ein Mensch in seinem hohen Streben nach den Sternen schaut, kann es nur allzu leicht geschehen, daß er Wilhelm Raabes Mahnung vergißt, auch die Gasse zu beachten: Wenn wir Menschen, die in den heute so weitverbreiteten Beziehungskrisen stecken, in noch so erhabenen Worten von Atma, Buddhi usw. berichten, reden wir wahrscheinlich an ihnen vorbei. „Theosophie" in einem Verständnis, das das Vermitteln ihrer „Lehren" für das A und O hält, ist kein Allheilmittel für die Nöte der Menschen - in unserer Zeit so wenig wie in irgendeiner Vergangenheit. Und wer die für Höheres angeblich tauben Ohren unserer Zeitgenossen für Verstocktheit hält und daraus den Schluß zieht, sie seien eben noch nicht reif dafür, der bestätigt leider nur ein verbreitetes Vorurteil: „»Theosophen« sind halt überheblich!"
 
Wer - eine alte Schulmeisterweisheit - den Menschen etwas beibringen will, muß sie dort abholen, wo sie sind, und das kann nur der, der sich dort auskennt. Wer beim Abholen die ersten Schritte für die Abzuholenden zu groß macht, läßt sie bald zurück - und ist vergebens ausgezogen. Wer die Schritte zu klein macht, handelt auch unökonomisch, denn in diesem Falle könnten sich die Abzuholenden in ihren bisherigen Denkweisen und Vorurteilen bestätigt fühlen. Das Kunststück ist der goldene Mittelweg - und nichts ist schwerer zu finden als der! Man wird es der modernen Psychologie, die ja eigentlich eine Seelenkunde ohne Seele ist (und sein will, nach ihren materialistischen Denkvoraussetzungen), nicht verargen können, daß sie sich an einem hedonistischen Glücksverständnis orientiert, also das Lustgewinnen unter den anzustrebenden Lebenszielen weit oben ansiedelt, und in den Mitteln, die sie ihren Patienten oder Klienten zum Erreichen dieses Ziels anrät, nicht zimperlich ist: Durchsetzungskraft soll der vermeintlich Schwächere entwickeln und zeigen, auch auf die Gefahr von Konflikten hin; tue er das nicht, sei er selbst schuld. Lerne er aber, sich durchzusetzen, gewinne er die Kraft, sich selbst zu bejahen - und damit die Basis für spirituelle Entwicklung, die ihrerseits Voraussetzung sei für eine harmonische Partnerschaft und Familie („harmonisch" möchten wir lieber sagen als „funktionierend").
 
„Moderne" Lebensdeutung - ein agnostischer Materialismus samt seinen psychologischen Folgerungen - wird verständlich in Anbetracht einer durch Jahrhunderte geübten „Menschenführung", die nicht nur Heranwachsende in Abhängigkeit von Obrigkeiten hielt, sondern überhaupt jede Selbständigkeit im Denken und Handeln mit der Angst vor Folter- und Höllenqualen zu ersticken suchte - vielleicht im guten Glauben, damit das Seelenheil der Betroffenen zu sichern und die „höhere Ehre Gottes" zu befördern. Ob ein theosophisch strebender Mensch solche psychologischen Ratschläge auch gutheißen sollte? Er wird, was sich an „Niederem" chaotisch gebärdet, nicht unterdrücken, er wird ihm aber auch nicht schmeicheln, sondern er wird es (zuvörderst in sich selbst!) in wahrscheinlich sehr langwieriger, mühevoller und von vielen Rückschlägen getrübter Arbeit zu beruhigen und zu klären versuchen, damit es sich dem Ganzen seines Wesens harmonisch einfüge, wohl wissend, daß ein Chaos kein „Glück" bringen kann über den Augenblicksgenuß eines Rausches hinaus. Und wahrscheinlich hat er längst schmerzlich erfahren, daß Glück nur dem zuteil werden kann, der es nicht erstrebt. Wenn er (oder sie), in einer stillen Stunde die Rollen bedenkt, die im Leben zu spielen sind, wird er (oder sie) sie nicht nach dem beurteilen, was sie ihm (oder ihr) „bringen", sondern jede wird ihre Anerkennung finden im Lichte jenes idealen Seins, in dem Rollen keine Rolle mehr spielen.
 
Charlotte Wegner:
Meister und Schüler - Was bedeutet Schülerschaft?
 
Ausgehend von Platons Höhlengleichnis wandte sich die Rednerin zuerst denen zu, die nichtin jener Höhle angeschmiedet sind, sondern sie verlassen konnten und das wahre Sein kennen - denn Schülerschaft läßt sich nicht ohne den Blick auf die Vollendeten, die Meister, betrachten, auf die, welche in Liebe zur Weisheit entbrannt sind: Sie zeugen geistige Söhne, indem sie den Samen in die Seelen derer senken, mit denen sie in ewiger Freundschaft verbunden sind und bleiben.
 
Über solche vollendeten Menschen und ihre Gemeinschaft gibt es nur wenige Nachrichten, und diese wenigen sind meist verschlüsselt. Karl von Eckartshausen (1752 - 1803) äußerte sich über diese „innere Kirche", „Lichtgemeinde Gottes" oder „Weisheitsschule" verhältnismäßig deutlich: Ihre Mitarbeiter seien in der ganzen Welt zerstreut und dennoch miteinander verbunden (auch mit den gerade nicht verkörperten), und ihre Sendboten seien die Überbringer aller Wahrheiten, die diese Welt erleuchten, aber von den äußeren Schulen oft entstellt weitergegeben würden - denn wer nicht reif für solche Wahrheiten ist, dem bleiben sie Hieroglyphen, Rätsel. Der Zugang zu dieser inneren Gemeinschaft stehe jedem offen, aber das Suchen nach ihr bleibt erfolglos, wenn die Reife fehlt.
 
Ein knappes Jahrhundert später erschienen die grundlegenden Schriften der 1875 gegründeten Theosophischen Gesellschaft, die als erneuerter „Vorposten" der nun „Weiße Bruderschaft" genannten „Lichtgemeinde" gedacht war. Helena Petrowna Blavatsky betrachtete sich als Schülerin insbesondere zweier ihrer Mitglieder, der „Meister" (oder „Mahatmas") Morya und Kut Humi. - Das strahlende Bild, das die Rednerin von den „Meistern" entwarf, stützte sich auf schriftliche (meist auch gedruckte) und mündliche Mitteilungen theosophischer Schriftsteller aus allen Richtungen und bis in neuere Zeit; es versammelt in sich alle Ideale reiner Menschlichkeit: machtvoller Wille, universelle, uneingeschränkte Liebe, alles umfassende Erkenntnis - aber nicht als „persönliches Eigentum", sondern erwachsend aus dem bewußten Eins-Sein des menschlichen Wesenskerns mit dem Urgrund des Seins der Welt. Solche Vollendeten, die man zu Recht „Theosophen" nennen darf, hätten die Möglichkeit, „der Welt Ade zu sagen", denn sie sind der Notwendigkeit der Wiederverkörperungen entwachsen. Aus der Einsicht jedoch, daß es keine Seligkeit geben kann, solange die geringsten der Mitbrüder noch leiden, harren sie auf der Schwelle des Nirwanas aus - so wie Jesus von Nazareth seinen Jüngern versprochen hatte, bei ihnen zu bleiben bis ans Ende der Tage.
 
Alle Einzelheiten des umfangreichen Vortrages zu referieren, würde das ideale Bild eher verwirren, deshalb nur noch einiges über das Verhältnis von Schüler und Meister: Auch wenn es anscheinend so wenige Meister gibt und sie sich in der Öffentlichkeit nicht zeigen -keiner, der ihr Schüler werden möchte und die nötigen Voraussetzungen mitbringt, wird übersehen! Die Voraussetzungen bestehen aber nicht in demütigen Anrufungen oder im Verrichten von Gebeten oder gar Opfern, auch nicht in der Entwicklung psychischer Fähigkeiten oder in mehr oder weniger heroischen Entschlüssen, sondern in geduldiger Arbeit an sich selbst, die dann fruchtbar ist, wenn keine Rücksicht auf das eigene kleine Ich und sein Wohlergehen den Beweggrund trübt.
 
Diese Reinheit des Wollens wird den zur Schülerschaft Strebenden auch vor „Meistern" bewahren, die den guten Glauben von Aspiranten ausnützen. Ein „Meister", der sich als solcher vorstellt, ist ebensowenig einer, wie jemand, der auf sein Türschild „Philosoph" schreibt, ein wirklicher Freund der Weisheit ist. Wer es nötig hat, andere Menschen einzuschüchtern, ihnen zu befehlen oder sich schmeicheln zu lassen, mag ein Taktiker der Macht sein, aber nicht ein vollkommener Ausdruck von Liebe und Weisheit, in dessen Gegenwart ein jeder sich erhoben und frei fühlt, geschickt zu großen und erhabenen Gedanken.
 
Wenn zwei Menschen in ihrem idealen Streben so übereinstimmen wie ein Meister und sein Schüler, dann knüpft sich ein Band, das die Zeiten überdauert; im gemeinsamen Wirken erwächst es zu dem Schönsten und Innigsten, was sich von menschlichem Miteinander denken läßt. - Mit einem Aufruf, in dieser Richtung zu streben, schloß die Rednerin.
 
Hans Beetz:
Wahres Wissen und Verantwortung -
Rückblick und Ausblick
 
Anders als in vergangenen Jahren beschränkte sich die Schlußansprache nicht auf die Rekapitulation der in der Sommertagung gehaltenen Vorträge, sondern widmete sich einem eigenen Thema - wer Ohren hatte zu hören, der konnte dennoch in dem, was der Redner bescheiden „ein paar Gedanken zum Abschluß" nannte, einen oder den anderen Hinweis auf das in den eben vergangenen Tagen Besprochene bemerken.
 
Hauptbereiche wahren Wissens waren bald benannt: der große Segen des Schicksal-Verstehens und -Bejahens stand (als das am theosophischen Weltbild Auffälligste) am Anfang, dann weitete sich der Blick auf das große Ganze, dessen wir uns zunächst nur in seinen Teilen bewußt werden - in der Spanne der Jahre, derer wir uns erinnern und deren nur relative Realität uns allmählich aufgeht; dabei dürfen wir nie vergessen, daß „wahres Wissen" nicht bloßer Gedächtnisbesitz ist, sondern innere Aneignung oder vielmehr: ein Wiedererinnern im Sinne Platons. Wichtiger jedoch war dem Redner die Verantwortung, die aus Wissen erwächst, und ihr widmete er den größten Teil seiner Ausführungen.
 
Selbstverständlich umfaßt Verantwortung die Pflicht, Wissen weiterzugeben - weise, wohldosiert; schon ein gutgemeinter Rat kann zuweilen den mit ihm Bedachten behindern! Dringlicher aber ist, zu helfen, wo es gebraucht wird: Wenn Barmherzigkeit not tut, wird Untätigkeit zu einer Todsünde, wie Blavatsky bemerkte (in auffälligem Gegensatz zu dem oft kolportierten Mißverständnis, Karma-„Glaube" mache lieblos!). Universale Bruderschaft („Schwestern" sind selbstverständlich immer mitgemeint, denn eigentlich ist es zweitrangig, ob man oder „frau" gerade als Mann oder Frau verkörpert ist) ist nicht ein spät erkanntes Ideal, sondern gerade umgekehrt die grundlegende Tatsache alles Lebendigen, nicht nur im Menschenreich, sondern auch in den Tieren und Pflanzen und darüber hinaus in allem, was uns unbelebt scheint, auf unserem Planeten und im ganzen Weltall. „Kritik an den Brüdern hemmt" - dies verliert in dem großen Zusammenhang jeden gruppenegoistischen Anstrich; es mahnt zu liebevollem Verständnis.
 
Es kann einem schwindlig werden ob der Fülle von Verantwortlichkeiten, und auch der Rat, mit der gewissenhaften Erfüllung der Alltagspflichten zu beginnen, mag manchen Gutwilligen scheinbar überfordern: Soll er sich zuerst um den kranken Nachbarn kümmern oder die eigene Familie versorgen? Aus Unschlüssigkeit jedoch gar nichts zu tun, wäre die schlechteste Auskunft. Beim gerade Nächstliegenden zupacken, und wäre es auch einmal nicht das Allerdringlichste, ist immer besser - das übrige wird sich finden. Sich einem Idealverein anzuschließen, ist wertvoll, aber kein Alibi bei Unterlassungen, auch nicht, wenn dieser Idealverein eine Theosophische Gesellschaft ist. Wer durch solchen Beitritt ein „Theosoph" geworden zu sein glaubt, sollte sich die vom Redner in diesem Zusammenhang zitierten Sätze G. v. Puruckers zu Gemüte führen!
 
Über all den vielen Verpflichtungen im sozialen Gefüge wird aber leicht das versäumt, was im Buddhismus das „rechte Versenken" heißt. Auch hierbei gibt es nicht nur eine Methode (wie schon die Ansätze zur morgendlichen Einstimmung während der Sommertagung zeigten!), wesentlich aber ist, daß solche Meditation frei von jedem Bezug auf „Eigenes" wird und bleibt: das höchste Ideal, ganz rein leuchtend, wirkt wie ein Kristallisationskern aller guten Kräfte. Aus den Momenten der Stille strahlt dieses Licht über den Alltag aus - zuerst vielleicht zaghaft flackernd, allmählich aber stetiger, so daß wir auch während der täglichen Arbeit im Bewußtsein des Höchsten ankern können.
 
So weitete sich der Blick noch einmal: zu einer Gesamtschau unseres Gemüts, dessen „niedere" Bereiche keinesfalls negativ zu bewerten sind, sondern, von der höheren Einsicht geleitet, dem Ganzen sich harmonisch einfügend, dem Leben Antrieb und Energie verleihen. Den Bereich des Denkens aber gilt es so zu klären, daß sich auf seiner ruhig gewordenen Oberfläche die „Sterne" spiegeln: die wahren Ideen anschaulich und anschaubar werden - das, was wir uns bisher „theoretisch", mühsam schlußfolgernd, bruchstückweise zusammenbasteln. Klärung des Denkens gelingt nicht durch Zwang, durch krampfhaftes Bemühen, und auch nicht durch die Illusion, daß die Gedanken „frei" seien, sondern durch gelassenes und geduldiges Weiterschreiten im Vertrauen auf das allmähliche Einströmen der Kraft „von oben" - illustriert im Vortrag des „Märchens von den dreien auf der Suche nach dem Pfad", das W. Q. Judge erzählt hat.
Der Redner schloß mit der Mahnung, mit daran zu arbeiten, daß theosophische Bestrebungen reiche Früchte tragen.
 
 


Autor: Reiner Ullrich