Was ist Theosophie?(1)*

Das Wort „Theosophie“ ist griechischen Ursprungs und setzt sich zusammen aus „theos“ = Gott und „sophia“ = Weisheit, mithin „Göttliche Weisheit“. In ihr ist das Wissen über die Stellung und Aufgabe der Menschheit im Kosmos formuliert. Die ältesten mündlich überlieferten und niedergeschriebenen Einsichten zeugen einheitlich von dieser „Göttlichen Weisheit“, wie sie seit Menschengedenken vorhanden ist.

Die ältesten menschlichen schriftlichen Zeugnisse reichen weit zurück in das 4./3. Jahrtausend vor Christus. Sie gelten als die Philosophien und Anschauungen des alten Indien und Ägypten. Als älteste Literatur bekannt geworden in den späteren westlichen Kulturkreisen sind u.a. die indischen Upanischaden und das Ägyptische Totenbuch. Vielleicht als zeitlicher Markstein: Die Entstehung des bekannten sumerischen Gilgamesch-Epos, dessen Sintflut-Beschreibung Eingang in das AT fand,  wird auf ca. 2500 vor Chr. datiert.

Mit der Verbreitung der Fähigkeit zu schreiben und mündliche Überlieferungen aufgezeichnet wurden ist über die Jahrtausende hindurch bis in unsere heutige Zeit hinein eine Vielzahl von Literaturen entstanden, in denen dieses alte Gedankengut aufgegriffen worden ist. So frühzeitig im Buddhismus (ca. 600 v.Chr.), bei den Vorsokratikern (z.B. Pythagoras, Anaxagoras), dem nachfolgenden Platonismus (Akademie-Gründung 385 vor Chr.) und esoterisch verborgen in parallel entstandenen Religionen, u.a. dem Christentum (s.a. Blavatsky, Der esoterische Charakter der Evangelien). Es wäre noch eine lange Reihe von wissenden Denkern aus den letzten zwei Jahrtausenden zu nennen.

Helena P. Blavatsky kommt das Verdienst zu, in ihrem Hauptwerk Die Geheimlehre dieses alte Wissen mit jeweiliger Quellenangabe „zu einem Strauß“, wie sie sich selbst ausdrückt, gebündelt zu haben. Die Geheimlehre mit der Kosmogenesis und Anthropogenesis  ist eine ungeheure Materialsammlung und quasi ein „Riesenreferat“ mit einer Bibliografie, die mehr als 80 Buchseiten umfasst. Zitiert wird darin in den alten Sprachen des Sanskrit, des Ägyptischen, des Hebräischen, Griechischen, Lateinischen und Tibetischen - teilweise in transliterierter Form. Im Prinzip kann jeder alle Aussagen überprüfen, sofern er entsprechend ausgebildet ist und eine Zugangsmöglichkeit zu den Quellen hat. Einige Aussagen u.a. wie die zur Teilbarkeit des Atoms und die kritische Auseinandersetzung mit dem Darwinismus sind mittlerweile wissenschaftlich bestätigt worden. Anderes harrt noch der wissenschaftlichen Verifizierung.

Die in der Geheimlehre so zusammengestellte alte Weisheit schließt Erkenntnisse aus allen Wissens-Disziplinen der Menschheit ein, wie Philosophie, Theologie und Wissenschaft - und wird „Theosophie“ genannt.

„Theosophie“ ist somit nicht nur „Philosophie“, nicht nur „Theologie“, nicht nur „Wissenschaft“. "Theosophie" ist auch kein Unterfach der „Philosophischen Theologie“ oder gar eine „Glaubenswissenschaft“. „Theosophie“ ist umfassend und steht für sich selber. Aus ihr erst sind die Disziplinen der „Philosophie“ und „Theologie“ mit all ihren variierenden und auch exoterischen Anschauungssystemen hervorgegangen.

Franz Hartmann, der Gründer unserer Gesellschaft und zeitweise Mitarbeiter von Blavatsky, formuliert zur Theosophie, hier eher mit Blick auf den sich geistig zu entwickelnden Menschen:
Zitat: “„Theosophie“ ist kein deutsches Wort. Der Apostel Paulus (1.Kor.2,7) sprach von der „heimlichen, verborgenen theosophia (Weisheit Gottes)“, die „keiner von den Obersten dieser Welt erkannt“ hat. Wenn ich ein anderes Wort für „Theosophie“ anführen sollte, wäre es: klare Einsicht oder das Wissen, weshalb und wozu wir auf der Welt sind. Theosophie hat nichts mit Theologie zu tun. ... Um ein Theologe zu werden, braucht man nur Verstand und ein gutes Gedächtnis; hingegen kann niemand Theosoph werden ohne den Geist der Wahrheit und das Licht der Erkenntnis.

Theosophie ist auch kein System von Glaubensartikeln. Sie ist das Licht der Weisheit, das den zu ihr Erwachenden befähigt, die Wahrheit, die in ihm selber liegt, zu erkennen.

Recht gesehen, ist Theosophie das Endziel aller Erziehung, allen geistigen Wachstums, aller Evolution und aller Religion. Dabei bleibt es sich gleich, ob einer, der sich selbst erkennt, welcher Nation oder Konfession er sich zurechnet, Mann oder Frau, oder welcher Weltanschauung er zuneigt. Alle diese Dinge sind äußerlicher Natur und haben nichts mit dem inneren Menschen zu tun.

Darum ist es auch unsinnig, von einer deutschen oder indischen, christlichen oder islamischen Theosophie zu sprechen. Denn Theosophie ist ja das, was allen Philosophien und Religionen und aller Mystik als Gipfelerfahrung gemeinsam ist: die Erkenntnis der Gottunmittelbarkeit des Menschen durch das innere Selbst.

Weiter verwechsle man die Theosophie nicht mit den theosophischen Lehren. Lehre und leben sind zweierlei. Bloßes Wissen ist noch kein Besitz der Weisheit. Der Zweck theosophischer Lehren ist nicht, das eigene Denken zu ersetzen, sondern lediglich Material zum Selbst-Denken zu liefern und den Weg zur Erkenntnis zu zeigen, den jeder selbst und allein gehen muss, wenn er Erkenntnis und Weisheit erlangen will. In Büchern findet man göttliche Weisheit nur soweit, als man sie in sich selbst gefunden hat. Und dazu gelangt man nur durch Selbst-Erkenntnis und Hingabe an Göttliches. Wer dazu Gedrucktes wünscht, lese die Bücher der Mystiker. … Wer den göttlichen Kern in sich findet und dadurch zur Einheit mit dem Göttlichen gelangt, hat alles.“ (F. Hartmann - zitiert in: K.O.Schmidt, Was ist Theosophie?)

Blavatsky gilt als eine maßgebliche Vertreterin der Theosophie. Im Jahr 1875 gründete sie in New York die Theosophische Gesellschaft. Deren Ziele sind - sinngemäß aus dem Englischen übersetzt:

1. den Kern einer allgemeinen, die ganze Menschheit geistig umfassenden Bruderschaft zu bilden ohne Rücksicht auf Rasse, Nationalität, Glaubensbekenntnis, Stand und Geschlecht.

2. zum vergleichenden Studium der Religionen, der Philosophie und der Wissenschaften anzuregen.

3. die Erforschung noch ungeklärter Naturgesetze und die Erweckung, naturgemäße Entwicklung und Pflege der im Menschen noch schlummernden Geisteskräfte zum Wohle aller Wesen.

Um die obigen eher allgemeinen Ausführungen zu konkretisieren, sind folgende Einzelerkenntnisse angeführt, wie sie u.a. in Der Geheimlehre zu finden sind:

Theosophie

… erklärt umfassend den kosmischen Ursprung des Menschen und sein Beziehung zum Weltall. Das Universum in all seinen Dimensionen ist eine unzerstörbare EINHEIT: Alles, jede Handlung und jeder Gedanke ist mit allem verbunden, es gibt darin nichts Getrenntes.

… zeigt daher die unauflösbare, essentielle und substantielle Wesenseinheit des Menschen mit dem Kosmos, dessen integraler Bestandteil der Mensch ist.

… lehrt die Unzerstörbarkeit des Lebens an sich, die Unsterblichkeit der höheren Seele im Menschen, die Wiedergeburt (Reinkarnation) und das selbsterworbene Schicksal (Karma).

.. ist eine Wissenschaft vom Leben und die Kunst zu leben.

… ist undogmatisch. Keine Glaubenssätze und Geringschätzung Andersdenkender. Keine Meinung ist höher als das Gewissen. Studierende können jeder ihnen genehmen Religion angehören - oder auch keiner. Einzige Voraussetzung ist die Anerkennung der universalen Bruderschaft allen Lebens.

… zeigt, dass wir unter dem Schleier der äußeren Symbolik bis in graue Vorzeit zurück deutliche Spuren derselben ursprünglichen Lehre weltweit in allen Kulturen der vergangenen Zyklen finden.

… lehrt deshalb das vergleichende Studium von Religion, Wissenschaft und Philosophie und verbindet sie in einzigartiger und logischer Weise zu einer Synthese.

… ist keine Religion, aber als Urquell allen Wissens wird sie - zu Recht - als Mutter der Religionen bezeichnet.

… heißt: Göttliche Weisheit: Sie wird seit Zeitaltern von Eingeweihten gelehrt, wie im archaischen Indien (Brahma-Vidya) oder im Westen z. B. in den (wohl vergangenen) griechischen Mysterienschulen.

*)Stichworte der Theosophie; weitere sollen folgen.



Autor: Dr. Ruth C. Fischer