Wechselseitige Verbundenheit –

Harmonie der Teile

Shirley Nicholson1

„Der Mensch ... (und) das Universum und alles in ihm sind eins mit der absoluten Einheit, der die menschliche Erkenntnis übersteigenden göttlichen Essenz.“2

Es gibt, abgesehen von der einheitlichen Substanz in den Tiefen der materiellen Dinge, noch einen anderen Aspekt der Einheit. Es besteht eine harmonische Struktur im Universum selbst, die sich in seinen Teilen zeigt, eine Ganzheit, die sich in verwandten Beziehungen offenbart. Wechselwirkungen, gegenseitige Abhängigkeit und Verbundenheit charakterisieren die Welt der Natur, in der gesonderte Wesen und Teile sich zu sinnvollen Mustern und Ganzheiten zusammenfügen, so wie bei den Funktionen und Organen des Körpers.

So zeigt sich uns eine Einheitlichkeit, auch wenn wir uns mehr auf die materielle Manifestation konzentrieren, als auf das ihr zugrundeliegende Wesen. H. P. Blavatsky verweist auf die „Ungetrenntheit von allem, was lebt.“3 Sie zeigt ein großartiges Bild der Schöpfung als einer ungeheuren, sich wechselseitig beeinfl ussenden Kette: „Von den Göttern bis zu den Menschen, von den Welten bis zu den Atomen, von einem Stern bis zu einem schwachen Schimmer, von der Sonnne
bis zur Lebenswärme des geringsten organischen Wesens – die Welt der Formen und des Daseins ist eine ungeheure Kette, deren Glieder alle miteinander verbunden sind.“4 „Die große Kette des Daseins“ illustriert anschaulich die ungebrochene Einheit, die hinter den vielen Einzelwesen steht.

So weist die Theosophie auf drei Dimensionen der Einheit hin: die undifferenzierte Einheit des höchsten Seins, das Wesen oder Leben, das alle Formen durchdringt, und die organische Einheit, die in der Harmonie der Teile und den Wechselwirkungen in der Welt zu finden sind. Wir können die höchste Einheit durch ein uferloses Meer von Licht symbolisieren, das den ganzen Raum erfüllt. Das Eine Leben könnte durch eine Lampe dargestellt werden, deren Leuchten von einem unsichtbaren elektrischen Strom bewirkt wird. Teile, die zu einem harmonischen Ganzen verbunden sind, könnten mit einem meisterhaften Gemälde verglichen werden, in dem jeder Teil mit dem ganzen Werk in Beziehung steht und von ihm seine Bedeutung erhält. Diese Bilder könnten veranschaulichen, wie stark die Einheit in der Welt gegenwärtig ist und auch den tieferen Bereichen der Welt zugrundeliegt.

Der Mensch und das Eine

Auch wir sind Teile des Einen und nie getrennt von dem Einen Leben. Als Kinder der Natur sind wir in ihr holistisches5 Muster eingefügt, in ständigem Austausch und in ständiger Beziehung zu unserer Umgebung. Wir sind ein wesentlicher Teil der natürlichen Welt. Aber zusätzlich sind wir in den Tiefen unseres Bewußtseins eins mit dem Absoluten Sein, das alles durchdringt und das auch unser eigenes inneres Wesen ist. Wenn wir in der Meditation nach innen tauchen, um unser innerstes Selbst, den Kern unseres Wesens zu fi nden, verschmelzen wir irgendwie in geheimnisvoller Weise mit dem höchsten Selbst von allem und werden uns zeitweilig in gewissem Grad unserer Einheit mit dem göttlichen Leben bewußt. H. P. Blavatsky zitiert aus einer alten Schrift: Im Katechismus läßt man den Meister den Schüler fragen:

„Erhebe dein Haupt, o Lanu, siehst du eines oder zahllose Lichter über dir am
dunklen Mitternachtshimmel erstrahlen?“ „Ich nehme eine Flamme wahr, o
Gurudeva, ich sehe zahllose ungetrennte Funken in ihr leuchten.“
„Du sprichst richtig. Und jetzt blicke um dich und in dich. Empfi ndest du das
Licht, das in dir brennt, in irgendeiner Weise verschieden von dem Licht, das
in deinen Menschenbrüdern leuchtet?“ „Es ist in keiner Weise verschieden,
wenn auch der Gefangene vom Karma in Fesseln gehalten wird und seine
äußeren Gewänder den Unwissenden täuschen, so daß er sagt ‚deine Seele
und meine Seele’“.6

Das ist die Lehre, die den theosophischen Darlegungen über die Bruderschaft aller Menschen zugrundeliegt. Bruderschaft wird nicht als ein Ideal betrachtet, das erreicht werden soll, sondern als eine Tatsache in der Natur, ein Ausdruck der Einheit, die alles Leben in allen Bereichen durchdringt. Wir können diese Einheit durch Absonderung und Egoismus verdecken, aber das zerstört nicht ihre Wurzeln, die tief in der Natur und in uns selbst liegen.

Bestätigung für den Gedanken des wechselseitigen Verbundenseins tritt von allen Seiten zutage. Dieser Begriff, so fremd und seltsam er vor hundert Jahren erschien, wird im modernen Denken immer wichtiger. In den letzten Jahrzehnten sind Ganzheiten statt Teile in den Brennpunkt gerückt. Studien über wechselseitige Verbindungen ergeben ein besseres Verständnis als ein bloßer Blick auf isolierte Teile, und holistische, ökologische Standpunkte ergeben sich selbst aus der wissenschaftlichen Betrachtungsweise.

Im 20. Jahrhundert beginnt die Welt als ein ungeteiltes Ganzes zu erscheinen, dessen Teile in enger dynamischer Beziehung zueinander stehen und sich eher fl ießend als mechanisch bewegen. Es gibt überwältigende Beweise aus den unterschiedlichsten Quellen dafür, daß wir wechselseitig verbunden, daß wir alle Teile eines Ganzen sind, an dem wir auf allen Ebenen teilhaben.7 Vielleicht kann das schöne Bild der ganzen Erde mit ihren wirbelnden Gewässern, wie es vom Mond aus gesehen wurde, die umfassende Perspektive symbolisieren, die heute in Erscheinung tritt ...

Wenn wir unsere Wechselbeziehungen begreifen und von deren Wirklichkeit überzeugt sind, ist es möglich, die Einheit selbst zu erleben, so daß diese Vorstellung in uns Macht und schöpferische Kraft erlangt. Wir können uns ihrem Einfl uß mehr und mehr in allen Schichten unseres Bewußtseins öffnen, von einem Empfi nden der Harmonie mit einem Baum bis zum Einfühlungsvermögen für jemanden, der sich in Not und Leid befi ndet, bis hin zum vertrauten Umgang mit unserer Welt und unserer mystischen Einheit mit dem All. (Fortsetzung folgt.)

1 Fortsetzung des Artikels aus Theosophie heute 3/2008, S. 82-83.

2 H. P. Blavatsky: Der Schlüssel zur Theosophie, Kap. VI.

3 H. P. Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd. 1, S. 145.

4 H. P. Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd. 1, S. 662.

5 Das Wort „holistisch“ bedeutet „ganzheitlich“ [die Redaktion].

6 H. P. Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd. 1, S. 145.

7 Guy Murchie: The Seven Mysteries of Life. Boston 1981.
 


Autor: Shirley Nicholson