Weihnachten

 

Richard Schulze

Licht und Wärme sind für das organische Leben unentbehrlich. Jedes Geschöpf kennt die belebende Kraft der Sonnenstrahlen. Menschen, Tiere und Pflanzen wenden sich dem Lichte zu, weil sie des Sonnenlichtes zu ihrer Erhaltung bedürfen. Im letzten Monate des Jahres beschreibt die Sonne den kleinsten Bogen am Fir­mament, und die zunehmende Dunkelheit gelangt endlich zum Stillstand. Da erwacht auch im Menschenherzen wieder die Freude, und es hofft auf den kommenden Frühling, auf die schöne Zeit der langen, sonnigen Tage.
 
Die Sonnenverehrung ist ganz natürlich, sie entspringt dem ange­borenen Erhaltungstrieb der Wesen. Der Sonnenmythos, obwohl ein uraltes Vermächtnis unserer Vorfahren, ist auch heute noch bei fast allen Völkern anzutreffen, nur in einem anderen Gewand, das dem jeweiligen Zeitgeist und Kulturgrad entspricht. So ging der Feuerdienst der alten Parsen ebenfalls aus dem Glauben an die Gottheit als an ein geistiges Licht und Urfeuer hervor, von dem das materielle Feuer nur das Symbol ist.
 
In Übereinstimmung mit den Veden der Inder nahmen auch die Germanen an, daß ihre Götter erschaffen wären und am Ende der Tage beim Weltenbrande untergehen müßten, um dann nach Ablauf der Götterdämmerung in verjüngter, herrlicherer Gestalt wieder zu erstehen.
 
Die alten Germanen zündeten zur Wintersonnenwende auf ihren Bergen abends hochlodernde Feuer an, ein schöner religiöser Brauch zu Ehren Wotans, des altgerma­nischen Gottes, von dem es heißt, daß alles von ihm ausgehe und wieder zu ihm zurückkehre, dessen Auge die Sonne sei. Als Geist der Natur sich verwandelnd gleite er beim Nahen des Winters zur Unterwelt hinab,  schlummere und träume dort, um dann wieder als Frühlingsgott heraufzusteigen und mit seinem warmen Hauch die Erde zu berühren, sie gleichsam zu küsse und zu neuem Leben, zu üppiger Vegetation zu erwecken.
 
Stets ist die Sonne als das Symbol der Wahrheit, der Liebe und des geistigen Lebens verehrt worden; sendet sie doch Licht und Wärme ohne Unterbrechung lebenspendend durch den Weltenraum auch auf unsere dunkle Erde.
 
Der Mensch soll als Denker in die geheimnisvollen Symbole, die sich ihm in der Außenwelt zeigen, mit Verständnis eindringen und in ihren vergänglichen Bildern das ewige Wirken des unvergängli­chen Lebens sehen. Wie das Verschwinden der Dunkelheit die Ge­burt des Tages ist, so ist auch der Tod des Irrtums die Auferstehung der Wahrheit. Alle äußeren Vorgänge finden ebenso im Innern des Menschen statt, er muß sie schließlich in sich erkennen und erleben.
 
Licht und Wärme gehen vom Feuer aus, verbreiten sich im Raume der Erdatmosphäre und teilen sich den darin befindlichen Dingen mit. Im Geistigen ist Licht Wahrheit, und Wärme ist Liebe. Die Wahrheit wird als Weisheit aus der göttlichen Natur höherer Wesen geboren und ausgesendet, um die Herzen zu gewinnen, damit der Mensch, der seiner innersten Natur nach gut ist, die selbstlose Liebe als sein höchstes Prinzip verwirkliche. Zum seelischen Erwachen bedarf es des geistigen Lichtes — der wahren Selbsterkenntnis, die im Bewußtsein der geistigen Einheit des Lebens in allen Wesen schlummert. Nicht der dem Persönlichen angehörende launenhafte Eigenwille, sondern die Menschheit ist das wahre Selbst im Menschen, dieses harret seiner sonnenhaften Entfaltung, um sich, wissend, als der eine alles-umfassende Geist frei und liebreich zu offenbaren.
 
Wer groß von sich denkt, wird auch irgendwann groß handeln. Mit dem Hervortreten aus dem Schatten der Persönlichkeit in das Licht der Selbsterkenntnis verläßt der Mensch den Jahrmarkt des Lebens und wird ein besonnener Beobachter seiner selbst und des Welttreibens. 
Wer seinem erkannten Ideale beständig dient, wird zu immer höherer Form des Bewußtseins gelangen.
Sonnenwende bedeutet im Innenleben Seelen­wende. Wendet der Mensch sich dem Lichte der Selbsterkenntnis zu, so zieht auch die göttliche, unbegrenzte Liebe in sein Herz, die Liebe, welche nichts begehrt, weil sie selbst das Höchste ist, aber alles opfert und doch nichts verliert, vielmehr stets reicher wird, so daß sie in Seligkeit auflodert, die Herzen an sich zieht, erwärmt und mit ihrem milden Glanz den Pfad zum höchsten Ziele zeigt.
 
Augustinus sagt: "Was man die christliche Religion nennt, gab es schon bei den Alten, gab es stets seit Beginn des Menschenge­schlechts, bis Christus im Fleische erschien, wo alsdann die immer schon existierende echte Religion Christentum genannt wurde." Die Kirchenväter Clemens und Origenes, die im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebten, bezeichneten die Geschichten des Neuen Testamentes als Vorgänge des inneren Menschen und bekann­ten, daß zu diesem Zwecke allegorische Erzählungen eingeschoben worden seien, man müsse daher selbst herausfinden, was Historie und was Allegorie sei.
 
Christus ist personifiziert worden, und viele haben Jesus den Nazarener allein darunter verstanden. Christus aber ist in allen Menschen das göttliche Leben, und dieses soll durch sie ebenso rein und klar zum Ausdruck kommen, wie es im galiläischen Meister offenbar war.
 
Christus ist die Bezeichnung für einen durch den göttlichen Geist geheiligten Menschen. Christus ist der Weltgeist, allen Wesen innewohnend, darum lehrten auch die Apostel, daß Gott allgegen­wärtig sei. Im Tier ist derselbe Geist und dieselbe Liebe wie im Menschen, nur erkenntnislos. Christus ist ein Prinzip, welches in allen erleuchteten Seelen offenbar wird. Christus ist Gott im Men­schen, und der Zweck des Lebens ist, Gefäße hervorzubringen, welche Spiegel der göttlichen Selbsterkenntnis sind. Die Selbster­kenntnis der ewigen Wahrheit von der geistigen Einheit aller Dinge und Wesen ist das Ziel und der Zweck allen Daseins. In diesem inneren Erleben besteht das Christentum. In uns allen liegt die Idee des vollendeten, wahren Menschen, aber diese Idee ist den meisten noch nicht bewußt geworden. Wir sind jedoch nur das, dessen wir uns bewußt sind. Unser Organismus soll für den Geist des Weltalls ein Tempel sein, Begierden und Leidenschaften machen ihn aber zu einem Stalle, worin das tierische Element haust.
 
Der erste Schritt zur Veredlung besteht in der Sinnesänderung oder inneren Reinigung. Dann folgt die Anwendung der Erkenntnis, daß der Mensch sich mit dem Gesetz des Lebens vertraut mache und sich damit in Einklang zu bringen habe. Der Gedanke der Einheit, die Liebe zu allen Wesen, muß durch den Willen fruchtbar gemacht werden, dann wird das Ideal Leben in uns. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, daß er die Urliebe und Urkraft erkennt und alsdann betätigt. "Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nicht erblicken; läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken?"
 
Weihnacht ist die heilige Nacht der Weihe, in der sich der Mensch dem Lichte der Selbsterkenntnis zuwenden und sich dem wahren Leben im Geiste weihen soll, damit er das Dunkel seiner Unwissenheit überwinde. Weihnachten ist das Fest der Mensch­werdung, die Geburt Christi, der Anfang des geistigen Lebens, und die Entfaltung der Christusnatur ist bei jedem eine Frage der Zeit und der Entwicklung. Der Mensch, in dem Christus, die selbstlose Liebe, lebendig geworden ist, wird selbst ein Lichtträger, eine Sonne für alle Wesen um ihn herum.
 
Die geistige Wie­dergeburt besteht in der Erkenntnis der Einheit aller Wesen und in der Vereinigung mit dem kosmischen Willen, sie allein bewirkt die Erhebung auf die universelle Ebene unseres Planeten. -
Inneres Erfassen der Wahrheit ist notwendig, darum soll auch Weihnachten dem Menschen ein innerliches Erleben werden. Der Mystiker Johann Scheffler, bekannter unter dem Namen Angelus Silesius, sagt:
Wär' Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, so bleibst du doch verloren."  Christus ist als das wahre Selbst im Menschen die Menschheit, und dieses mit der Menschheit identische Selbst spricht zur vergänglichen Person: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich." — Alle, welche die erweiterte Liebe, die Liebe zur Menschheit in ihren Herzen bewegen, werden, wie Luther ebenfalls in seinem Weihnachtsliede sagt, ein Gottesgeschlecht werden.
  
Das Leben besteht nicht allein im Essen, Trinken und Schlafen, sondern vornehmlich im Schaffen und Wirken. Christus will Gestalt im Menschen gewinnen, und was einst die schlichten Hirten im fernen Lande von der fleischgewordenen Liebe so freudig verkün­digten, soll in jedem Erlebnis werden, damit von ihm Liebe und Frieden ausstrahle und die Menschen an ihm Wohlgefallen haben.
 
"Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
erzeugt im Gehirne des Toren;
im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserm sind wir geboren.
Und was die innere Stimme spricht,
das täuscht die hoffende Seele nicht."
 


Autor: Richard Schulze