Wille und
Freiheit
Dr. Bernhard
Prediger
Dieser
Vortrag wurde im August 2003 vom Verfasser in der Sommertagung der
Theosophischen Gesellschaft in Deutschland in Calw gehalten.
Irgendwo auf
unserem langen Weg zur Selbsterkenntnis stoßen wir auf das Phänomen des
Willens, des menschlichen Willens - also insbesondere auch unseres Willens. Wir
fragen nun: „Was ist das - der Wille?" Wenn wir klug genug sind, so sagen
wir: Es ist unsere Fähigkeit, ursprünglich, d.h. ihrerseits unverursacht, eine
Ursachenkette in Gang zu setzen, also auf das, was uns umgibt, so einzuwirken,
dass etwas Bestimmtes, eben was wir wollen, geschieht - so ähnlich, wie es Gott
- der Bibel zufolge - am Beginn seiner Weltschöpfung - auch gemacht hat: „Und
Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht".
Betrachten
wir diesen biblischen Satz genauer, so sehen wir: Gott hat hier nicht nur blind
drauflos gewollt, sondern dabei etwas gedacht, das heißt, sich eine Vorstellung
von dem gemacht, was er wollte. Und siehe da - es geschah. Phantastisch, eine
solche Fähigkeit zu haben! Eine ganze Welt kann so entstehen; und schließlich
und endlich sogar ein Herr namens Schopenhauer, der das alles beschreibt in
seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung.
Sehen wir
die Dinge so, dann ist klar: Bei dem Phänomen „Willen" haben wir es mit
einer ursprünglichen, schöpferischen, d.h. kreativen und damit im eigentlichen
Sinne göttlichen Funktion zu tun, die etwas ins Leben ruft, was zuvor nicht da
war. Und wenn das alles so ist, dann ist auch der Wille seiner Natur nach frei,
denn nur dann ist es der ursprüngliche Wille dessen, der hier will, nicht der
Wille eines anderen.
Dabei fällt
uns sogar noch auf: Wenn wir von „Willensfreiheit" sprechen, so
formulieren wir eigentlich eine Tautologie - einen Pleonasmus - also etwas
doppelt Gemoppeltes, wie zum Beispiel, wenn wir von einem weißen Schimmel
sprechen, denn ein Wille in diesem Sinne kann ja nur frei sein. Denn wenn er
nicht frei wäre, so wäre er gar nicht. Damit ist alles klar, und das Thema
„Wille und Freiheit" ist erschöpfend behandelt.
Wenden wir
uns aber nun der Frage zu, ob wir unseren Willen im praktischen Leben auch so
erfahren. Zunächst: Wenn wir uns so zuschauen beim Leben, so wollen wir ja in
der Tat dauernd etwas, sind also dauernd dabei, diese
unsere wunderbare schöpferische und letztlich als göttlich erkannte Fähigkeit,
etwas zu wollen, in Gang zu setzen. - Aber was ist die Folge? Nur
Schwierigkeiten!
Ich betrete
ein dunkles Zimmer und rufe „Es werde Licht" - und nichts passiert. Ich
rufe meinen Rottweiler, er kommt nicht. Aber immerhin ist es hier nicht ganz so
hoffnungslos wie mit dem Licht. Manchmal kommt der doch, vor allem, wenn ich
beharrlich bin und nahe genug. Wenn ich ihn dann schließlich an der Leine habe
und vor ihm springt ein Hase auf, dann spüre ich auf einmal hautnah, dass er
etwas ganz anderes will als ich - hat er auch einen Willen oder folgt er nur
einem Trieb? Ist nicht Trieb auch Wille in weiterem Sinne? So eine Art Wille
der Natur?
Oder ist
Trieb etwas ganz anderes?
Frei im
Sinne eines erst im Augenblick der Aktion entstandenen Impulses, des Willens
also, wie wir ihn eingangs verstanden haben, ist der Trieb sicher nicht - hier
wird vielmehr ein schon vorhandenes Programm aktiviert. Außerdem zeigt es mir
etwas über meinen Willen auf - nämlich, dass dieser Grenzen hat - meinen
Rottweiler kann ich nur zurückhalten, wenn ich stärker bin. Was aber Grenzen
hat, ist natürlich nicht ganz, sondern nur in Grenzen frei!
Ganz
schwierig wird es, wenn ich meinen Rottweiler zu etwas Kompliziertem
veranlassen will, zum Beispiel über eine Stange zu springen, unter der man auch
hindurchlaufen kann. Er denkt gar nicht daran, zu springen, sondern schaut mich
an, als ob er sagen wollte, also was Du da willst, das ist doch ein Unsinn!
Vielleicht kriege ich ihn - mit List - dazu, es doch zu tun, mit Leberwurst.
Aber auch dann folgt er nicht mir, sondern seinem Fresstrieb, der stärker ist
als seine Faulheit.
Wir haben
also gesehen: Kaum haben wir einen Willensentschluss gefasst, schon macht sie
uns Schwierigkeiten, diese Welt - wer wüsste das übrigens besser als jemand,
der geheiratet hat. Überhaupt, diese ganze uns umgebende Welt macht es uns vor
allem deshalb schwer, unseren Willen durchzusetzen, weil da andere sind, die
ganz anders wollen als wir. Wo bleibt da die eingangs so gerühmte
Willensfreiheit? Wenn wir diesen Zusammenhang noch etwas genauer betrachten, so
sehen wir, dass auch bei diesen Beispielen immerhin die Freiheit des
Willensentschlusses bleibt. Aber wenn wir diesen ins Werk setzen sollen, wird
es schwierig. Bleibt es aber bei dem Willensentschluss und kommt es nicht zu
irgendeiner Art von Durchführung, so ist es mit unserer diesbezüglichen
Freiheit nicht viel weiter her
als mit der Freiheit eines Gefängnisinsassen, der an die Mauer trommelt und
ruft: „Ich will hier raus!"
Aber so ganz
hoffnungslos ist es dann doch nicht, denn wir lernen ja in unserem Leben, dass
es Mittel und Wege gibt, wie wir lernen können, unseren Willen durchzusetzen,
ihn ins Werk zu setzen, ihn Tatsache werden zu lassen. Aber wir wissen auch,
wie schwer dies oft ist und wie oft wir scheitern. Spüren wir diesen Gedanken
noch weiter nach, so können wir vielleicht sogar den Schluss ziehen, dass es
zum Kernbestand menschlichen Leidens gehört, unseren eigenen Willen, unseren
Eigenwillen also, unverwirklicht zu sehen. Ein anderer, Stärkerer, will anders,
oder ganz allgemein: Die Verhältnisse, sie sind nicht so, dass sie eine
Durchsetzung unseres Eigenwillens zulassen würden.
Bis dahin können
wir uns noch trösten, denn das, was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht
macht uns die Welt die Durchsetzung unseres Eigenwillens gerade deshalb nicht
so leicht, weil er erstens nicht besonders gescheit ist, und zweitens, weil wir
lernen sollen, diese unsere Eigenschaft, wollen zu können und zu dürfen, zu
entwickeln und zu stärken.
Bei unserem
Bemühen, einen in uns wie auch immer entstandenen Willensentschluss
durchzusetzen, zu verwirklichen, können wir uns übrigens zweier durchaus
grundsätzlich verschiedener Methoden bedienen: Entweder wir handeln unmittelbar
selbst, nehmen z.B. eine Axt und spalten Holz, oder aber wir bringen einen
anderen dazu, dies für uns zu tun, indem wir vorher wie auch immer auf seinen
Willen entsprechend eingewirkt haben. Wer aber hackt dann hier eigentlich? Ist
es mein Wille oder seiner - oder beide? Durchgesetzt wurde hier menschlicher
Wille durchaus - in seiner Effektivität zeigt sich Freiheit - aber rasch können
sich Grenzen zeigen - man wird müde oder die Polizei kommt, weil zur Unzeit
ruhestörender Lärm entsteht.
Nun aber
noch eine ganz andere Erfahrung mit unserem Willen: Bisher sind wir
vereinfachend davon ausgegangen, wir müssten tun, was wir wollen. Aber ist das
denn nicht oft ganz anders? Erfahren wir nicht unser Inneres oft so, dass etwas
in uns so, und ein anderes aber ganz anders will und ein drittes vielleicht
noch etwas anderes? Viele Stimmen also - aber beileibe kein Chor! Und wenn
nicht eine Stimme in uns endlich das Kommando übernimmt, dann können wir unter
Umständen sogar verrückt werden.
Lebendig ist
die ganze Sache natürlich schon. Das merkt man besonders, wenn man sich einen
Menschen im Zustand völliger Willenlosigkeit vorstellt.
Zum Beispiel: Er liegt da wie tot. Oder: Er bewegt sich zwar, aber wie eine
Marionette, steht also augenscheinlich unter dem Einfluss eines fremden
Willens. Vor allem im ersten Falle stellen wir fest: Wo gar kein Wille mehr
ist, da ist auch kein Leben mehr drin! Also hat Wille offenbar sehr viel mit
Leben zu tun - ist vielleicht eine zentrale Funktion von Leben -vielleicht die
zentralste überhaupt.
Resümee bis
dahin: In unserem praktischen Leben ist es offenbar nicht mehr so weit her mit
unserem Willen und der Freiheit, die er für sich in Anspruch nimmt - ja
begrifflich sogar, wie wir gesehen haben, nehmen muss. Vor allem: Neben äußeren
Schwierigkeiten, unseren Willen zu verwirklichen, gibt es offenbar auch noch
innere!
Von Paulus,
dem Apostel, dem Nacherzähler Jesu und Vordenker der Christenheit, stammt der
Satz, der weltbekannt wurde, weil er so wahr ist: „Das Gute aber, das ich will,
das tue ich nicht, das Böse aber, das ich nicht will, das tue ich!" Das
aber heißt ja zusammengefasst: Da gibt es etwas in mir, das weiß schon, was gut
und richtig ist - aber es kann sich nicht durchsetzen gegen etwas anderes in
mir, das anders sagt und das sich - noch jedenfalls - durchsetzt, das mich
veranlasst, der Versuchung zu erliegen, den kurzfristigen Genuss zu wählen,
z.B. statt langfristige Freude an gelingendem Leben. Goethe hat es so formuliert:
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,Die eine will sich von der andern trennen;Die eine hält, in derber Liebeslust,Sich an die Welt mit klammernden Organen;Die andre hebt gewaltsam sich vom DustZu den Gefilden hoher Ahnen."
(Faust I, V. 1112-1117).
Von zwei
Willenszentren in uns ist hier die Rede und das bringt etwas Ordnung in das
Willensdurcheinander, das wir zuvor beschrieben haben.
Etwas
Ordnung ja - wenn es denn stimmt, und das scheint ja so - aber keinen Frieden.
Von einem andauernden Kampf in uns ist vielmehr hier die Rede, ganz ähnlich dem
Kampf Michaels mit dem Drachen vielleicht oder von Kasperle mit dem Krokodil?
Auch in der Bhagavad Gita ist von Kampf die Rede - und bei Hermann Hesse
im Steppenwolf. Warum regen uns alle diese Geschichten so auf? Natürlich
deshalb, weil sie uns etwas von uns zeigen,
etwas, das auch in uns stattfindet; zwei Willenszentren in uns haben sich in
der Wolle - ein sehr unbehaglicher Zustand für uns. „Für uns" - was heißt
das eigentlich in diesem Zusammenhang? Sind wir beides oder ein Drittes oder
beides und ein Drittes zusammen? Der Mensch - ein zusammengesetztes Wesen also,
ein Wesen mehrfacher - vielleicht vielfältiger Konstitution, einstmals von
heiliger Einfalt vielleicht, jetzt aber vielfältig. Natürlich sind Überlegungen
dieser Art inspiriert von Lehren, die den Menschen als mindestens zweifältiges
Wesen - Körper und Seele - oder -christlich gesehen dreifältiges Wesen - Geist,
Seele und Körper - oder theosophischer Lehre gemäß gar als siebenfältige Wesen
ansehen. Kann insbesondere die theosophische Lehre von der siebenfältigen
Konstitution des Menschen, eingeteilt wiederum in die niedere Quaternität und
die Höhere Triade, eine Rolle spielen bei der Behandlung unseres Themas: Wille
und Freiheit?
Fragen wir
also diese Weisheitslehre, was sie uns zu unserem Thema sagt, zu unserer Frage
nach dem Willen überhaupt als Phänomen in der Natur und dann speziell nach dem
Willen des Menschen, seiner Bedeutung und seiner Freiheit. Dass die
Beantwortung dieser Frage wichtig ist für uns und unsere Wege zur
Selbsterkenntnis, das haben wir schon gesehen. Trotzdem ist es ganz schön, auch
in der theosophischen Literatur lesen zu können, dass es richtig und wichtig
ist für uns, dass wir uns dieser Frage gestellt haben und uns damit abmühen.
Friedrich Knollmann z. B. schreibt in einem Aufsatz mit dem Thema Hat der
Mensch einen freien Willen?:
„Die
Willensfrage ist die Lebensfrage schlechthin."
Hermann
Rudolph schreibt in gesammelten theosophischen Vorträgen in Band 1 aus dem
Jahre 1920 auf Seite 73 ff.:
„... Das
Problem des freien Willens ... ist wichtig genug; man könnte es sogar als das
wichtigste Problem überhaupt bezeichnen; und die Frage, ob der Wille des
Menschen frei oder nicht frei ist, berührt die Natur und das Wesen der
Menschheit, und die Lösung des Menschenrätsels löst sogleich auch das
Welträtsel; deshalb wird der Mensch mit Recht das Geheimnis der Welt
genannt."
Was ist nun
aus theosophischer Sicht zu dem Thema Wille und Freiheit zu sagen?
Es ist
vielleicht gut, an dieser Stelle einfach zunächst einiges zu zitieren
-natürlich nicht, um es blind und gläubig zu übernehmen, sondern anhand unserer
bisherigen Überlegungen und vor allem anhand unserer Lebenserfahrung auf seine
Überzeugungskraft kritisch zu befragen.
Zunächst
einige Zitate von Franz Hartmann:
Er schreibt
zum Beispiel in seinem Werk Das Gesetz des Geistes in der Natur -
bekannter unter dem Titel Die weiße und schwarze Magie - auf Seite 96:
„Eine große Illusion ist der Glaube an die Freiheit des menschlichen Willens,
da auch der Wille erst frei wird, wenn der Mensch nichts mehr für sich
begehrt." - Ein rätselhafter Satz, vielleicht auch ein deprimierender,
jedenfalls aber ein desillusionierender Satz. Er sagt einerseits, dass das, was
der Mensch, der weniger entwickelte jedenfalls, für seinen Willen hält, seinen
Eigenwillen nämlich, der wünscht und strebt und für sich begehrt, nicht frei
sei, sondern programmiert, er glaubt zu schieben, aber er wird geschoben. Der
Satz sagt aber zugleich, dass es offenbar noch so etwas wie einen höheren
Willen im Menschen gibt, der übereinstimmt mit dem göttlichen Willen und damit
dem Gesetz des Lebens und der - natürlich eine gänzlich paradoxe Vorstellung -
gerade deshalb frei sei, weil er mit dem Gesetz übereinstimmt. Auf der
Grundlage unserer vorhergehenden Überlegungen würde das bedeuten, dass nur der
höhere, der zum göttlichen Teil hinstrebende Teil unserer Psyche, auch unser
höheres Selbst genannt, einen freien Willen haben könne, frei aber nur deshalb
und insoweit, als er mit dem göttlichen Willen übereinstimmt. Nur wer gehorchen
kann, wer gehorchen gelernt hat, wird frei - ist frei - nimmt teil an der
göttlichen Freiheit.
Eine gewisse
Bestätigung dieser Überlegungen finden wir bei Franz Hartmann a. a. O. auf S.
107, wo er schreibt: „Der Mensch, in dem das wahre, göttliche Selbstbewusstsein
noch nicht erwacht ist bildet sich ein, dass er Herr seiner selbst sei und
tue, was ihm beliebt und ist dabei doch nur den auf ihn einwirkenden
Eindrücken unterworfen, der Sklave seiner Instinkte und Launen, Gewohnheiten
und Begierden ..."*
Ich glaube,
dies ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir stets im Gedächtnis behalten müssen:
Man kann sich täuschen ...
Noch klarer
wird, was Franz Hartmann hier meint, wenn wir auf Seite 131 lesen: „Dies ist
aber der schwierige Punkt, um den sich die ganze Mystik und Religion dreht, der
aber nur von wenigen verstanden wird, welche bereits die Kraft des Gehorsamsbesitzen. Die Bhagavad Gita handelt davon, denn
die Schlacht, die sie beschreibt, ist der Kampf zwischen menschlich-tierischem
und menschlich-göttlichem Wollen ..."
Und weiter
auf Seite 132: „Der Mensch ist nicht frei, so lange seine Eigenheit seinen
Willen beherrscht. Er wird erst dann frei, wenn er für sich selbst nichts mehr
will und der Wille Gottes (seines unpersönlichen Ichs) sein Wille geworden
ist."
Wie aber
kann man dahin kommen?
Auch dazu noch einige Zitate von Franz Hartmann:
„Soll
der Wille ein anderer werden, so muss die Richtung, in der er sich bewegt,
gänzlich aufgegeben werden, damit neues Wollen stattfinden kann." (a. a.
O. S. 140).
„Die ganze
Welt ist ein Tiegel, in welchem die Menschheit geläutert und das edle Metall
von den Schlacken gereinigt wird. Das Mittel hierzu ist der Wille, nicht aber
die vom Wahne der Selbstheit befangene Begierde, sondern der Wille, welcher
durch das Licht der Erkenntnis über den Wahn der Selbstheit erhoben und frei
geworden ist. Oft wähnt der Mensch sich frei, während er dem Willen der blinden
Natur gehorcht, die in ihm Wünsche erzeugt. Er glaubt, nach seinem eigenen
Willen zu handeln und gehorcht wie ein Sklave dem Willen des Erdgeistes in ihm,
der ihn beherrscht.
Handelt er aber nach dem göttlichen Geist, so ist sein
Wille frei. Der freie Wille besteht deshalb im Gehorsam gegen das Gesetz."
(a. a. O. S. 147 f.)
Was aber ist
das Gesetz? Etwas Dauerndes, Unveränderliches - oder entsteht es in jedem
Augenblick neu? Oder kann es das zumindest?
Wieder diese
paradoxe Vorstellung, die wir schon kennengelernt haben.
Und dann wendet sich
Franz Hartmann wieder der praktischen Frage zu, wie man zu diesem Gehorsam
gelangen kann, der zur Freiheit führen soll, die wir doch alle so wünschen -
oder fürchten - oder beides.
Auf Seite
149 schreibt Franz Hartmann:
„Um dem
Gesetze des göttlichen Geistes gehorchen zu können, muss man dieses
Gesetz kennen. Da aber niemand den Willen Gottes kennen kann, ohne mit Gott
verbunden zu sein, so wäre dies eine Unmöglichkeit ..., wenn nicht jeder Mensch
bei seiner Geburt einen geistigen Führer als Geburtstagsgeschenk erhalten
hätte, der ihn durchs Leben leitet. Wenn der Mensch sich von ihm leiten lässt
und auf seine
Stimme hört, wird er den Willen Gottes erkennen ... Diese Stimme ist
das Gewissen. Es ist noch keineswegs göttlicher Natur, aber es steht der
Gottheit näher als wir. Es ist unser Engel, der sich schon viele tausend Male
auf der Erde verkörpert hat, und was er uns durch das Gewissen mitteilt, ist
die Summe seiner Erfahrungen aus früheren Daseinsformen. Seine Erfahrungen in
Bezug darauf, was für unseren geistigen Fortschritt gut oder übel ist, sind
größer als die unsrigen."
Nach diesen
eindrucksvollen Zitaten von Franz Hartmann wenden wir uns einem weiteren „Highlight"
theosophischer Literatur zu, dem Buch von Taimni mit dem Titel Selbsterziehung
und Selbstverwirklichung. Hier wird das, was wir bisher über die beiden
Willenszentren in uns gehört haben, aufgegriffen und weitergeführt:
„Da
bezüglich der Natur der Willenskraft viele Missverständnisse herrschen, wollen
wir versuchen, die eigentliche Natur dieses äußerst wichtigen Elementes in
unserem Charakter zu verstehen. Es wird uns helfen, dies zu erreichen, wenn ...
wir zuerst das Verhältnis zwischen Willen einerseits und ... Wünschen ...
andererseits aufzeigen, also der Form, welche der Wille auf der niedrigeren
Bewusstseinsebene annimmt.
Der
spirituelle Wille ist stets frei und arbeitet stets im Einklang mit dem
göttlichen Willen. Aber wenn er sich auf den niedrigeren Ebenen offenbart, wird
er leicht von der in Täuschung verstrickten Persönlichkeit für ihre besonderen
individuellen Zwecke eingespannt, die mit dem göttlichen Willen in Einklang
stehen können oder auch nicht ... So nimmt er die Form des Wünschens und
Begehrens an, welches daher nur die degradierte und vom niederen Selbst für
seine unabhängigen selbstischen Zwecke angewandte Form des Willens ist...
Unter seinem
starken Antrieb vollzieht sich die Entwicklung in den frühen Stadien des
Menschendaseins. Später ... mit dem Heraufdämmern des spirituellen Bewusstseins
im Menschen beginnt der Kampf zwischen der Wunschnatur der Persönlichkeit und
dem geistigen Willen des höheren Selbst, ein Kampf, der mit steigender
Heftigkeit weitergeht, bis das Begehren völlig unterworfen ist..."
(Seite
181)
Aus der
Märchenbildserie von Paul Hey, München
Und weiter
heißt es auf Seite 185: „Je mehr wir unser Bewusstsein mit dem göttlichen
Bewusstsein in uns vereinigen können, desto wirksamer können wir die wahre
geistige Willenskraft aus Atma anwenden."
Auch Taimni
bestätigt so das, was wir von Franz Hartmann über das Phänomen Willen gehört
haben. Was aber können wir nun tun, um dies zu fördern? Hierzu schreibt Taimni
auf Seite 190 zunächst sinngemäß: „Unsere niederen Willenszentren reagieren
stets automatisch, wie sie gewohnt sind. So lange wir ihnen dies gestatten,
sind wir manipulierbar und unfrei. Jede automatische Reaktion dokumentiert unsere
Unfreiheit und Manipulierbarkeit."
Auf Seite
191 wird dann genau beschrieben, wie - d.h. nach welcher Methode - wir dazu
kommen können, wirklich innengeleitet zu sein und nicht mehr von außen wie ein
Nasenbär herumgeführt zu werden. Die erste Methode dazu ist: Bewusstmachung.
Zunächst muss ich erkennen, wie frei ich in meinem Bewusstsein bin, wie sehr
ich abhängig und damit manipulierbar bin und wie wenig sich das mit meiner
Würde, mit der Würde meiner Gotteskindschaft, meines Höheren Selbst verträgt!
Und das Mittel der Bewusstmachung wiederum - können wir hinzufügen - ist
die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit.
Und
Bewusstmachung geht einher mit Reaktionslosigkeit! Und wenn dies nicht genügt,
empfiehlt Taimni, dann müsse als zweite Methode ein ständiger Willensdruck von
innen hinzukommen.
So erfüllen
wir unsere eigentliche Aufgabe, die Entwicklung unseres geistigen Willens.
Auf Seite
196 beschreibt dann Taimni den Zustand dessen, der dieses Ziel erreicht hat:
„Nur wenn
ein Mensch jegliche Tätigkeit des physischen, des astralen oder mentalen
Körpers nach Belieben zu beginnen, fortzusetzen oder aufzugeben vermag, kann
man sagen, dass Atma die Herrschaft über diese Körper erlangt hat. Atma ist das
höchste Prinzip in uns, der Kern unseres geistigen Lebens ... und durch den
geistigen Willen, der seine Hauptwaffe ist, regelt er all unsere Kräfte,
erfüllt sie mit Energie und beherrscht die Bewusstseinsträger, durch die diese
Kräfte wirken."
Bevor wir
auf dieser Grundlage weiter eigene Überlegungen anstellen, hören wir noch
einmal bei Hermann Rudolph herein, bei dem es a. a. O. heißt - zunächst zum
Willensproblem ganz allgemein und dann dazu, wie der Mensch einen freien
Willen, zu dem er bestimmt sei, erlangen könne:
„Der Wille
ist die Substanz aller Dinge ... Der Wille ... ist alles. Durch die Bewegung
des Willens ... werden alle Dinge ins Dasein ... gebracht.
Der Wille
ist die allen Dingen innewohnende Lebenskraft...
Die Frage:
Ob es einen freien Willen gibt, beantwortet sich von selbst,
wenn wir
wissen, was der Wille ist. Wenn der Wille das Höchste ist,
was es in
der Welt gibt, muss er auch frei sein ... Der Mensch und alle
anderen
Geschöpfe in der Natur dagegen sind nicht absolut frei, weil
sie nur
Formen oder Gefäße des göttlichen Willens sind ... und doch
redet man
von einem freien Willen des Menschen ...
Der freie
Wille des Menschen ist sein höherer Wille ... Der unfreie
Wille, sein
niederer oder persönlicher Wille, hängt mit der sterblichen
Persönlichkeit
zusammen ..."
Dann zitiert
Hermann Rudolph Blavatsky, die im Schlüssel zur Theosophie schreibt:
„... Der
Schlüssel zum Verständnis der Lehre von der Willensfreiheit des Menschen liegt
im Verständnis der Doppelnatur der menschlichen Seele und des geistigen
Prinzips ... Wir leben in einer phänomenalen Welt der Illusionen, während die
geistige Sphäre der Natur die eigentliche Welt der Wirklichkeit und der
Ursachen ist.
... Unser
,Gott in uns' oder Unser Vater im Verborgenen' ist das, was die theosophische
Literatur das ,Höhere Selbst' (Atma - Buddhi - Manas) nennt. Ursprünglich war
unser menschwerdendes Ego ein Gott, wie alle uranfänglichen Ausströmungen des
einen Prinzips. Aber seit dem Fall in die Materie ist die menschliche Seele
genötigt, durch den ganzen Zyklus des Lebens immer wieder Mensch zu werden; so
ist das Ego nicht länger ein freier und glücklicher Gott, sondern ein armer
Pilger, der wieder zu erlangen sucht, was er verloren hat...
Der Mensch
ist seiner höheren Natur nach ein himmlisches Wesen, göttlich seinem Wesen
nach, aber nicht rein genug, um ,eins' zu sein mit dem All. Um letzteres zu
werden, muss er seine Natur reinigen. Dieses wirklich menschliche Ego, das
denkende, in eine Hülle von Fleisch und Bein eingekerkerte Wesen, ist seiner
wahren Natur nach ein individualisierter, göttlicher Gedanke."
Nach diesem
Zitat von H. P. Blavatsky schreibt Hermann Rudolph, den Gedanken fortführend
und vertiefend, selbst weiter wie folgt: „Der Mensch hat nicht
einen Willen, sondern er selbst ist Wille. Der dem Menschen zugrunde liegende
göttliche Wille ist auf seiner Ebene frei, aber in dem noch nicht vollendeten
Menschen durch die niederen Willensformen der Leidenschaften in seiner
Offenbarung behindert."
Danach
zitiert Hermann Rudolph seinerseits einen anderen bekannten theosophischen
Schriftsteller, nämlich Subba Row, der in seiner Philosophie der Bhagavad
Gita folgendes schreibt: „Aus dem göttlichen, allgemeinen Ich (Atma) nimmt
jedes der niederen Iche seinen Ursprung; daher ist nur dieses allein frei,
während die drei niederen Bewusstseinsformen oder -zustände in ihrem Wirken
bedingt, also unfrei sind."
Und weiter
Hermann Rudolph: „Absolut frei ist nur die Universalgottheit oder das Absolute
(Parabrahm). Alles was bedingt ist, muss infolge dieser Bedingtheit abhängig
und demnach wenigstens teilweise gebunden (beschränkt) sein. Der Wille an sich
ist frei, aber in seiner Offenbarung von der Beschaffenheit der Organismen
abhängig, in denen und durch die er wirkt... Der Wille des Menschen ist frei im
Bezug auf alles, was unter ihm ist. Er vermag auf die Begierden und den
physischen Körper einzuwirken ... Wäre der Wille nur ein Erzeugnis des
physischen Körpers ... so wäre es dem Menschen unmöglich, seinen physischen und
astralen Körper zu beherrschen. Das Höhere hat dagegen Gewalt über das Niedere
... Hierin liegt der Grund des Gefühls der Freiheit und der
Verantwortlichkeit."
Dann
schreibt Hermann Rudolph sinngemäß und weitere theosophische Autoren
einbeziehend:
„Die
sterbliche Persönlichkeit hat nur ein beschränktes Bewusstsein und besitzt
keinen freien Willen, sondern ist dem Gesetz von Ursache und Wirkung
unterstellt. Anders bei dem höheren, unvergänglichen Anteil des Menschen,
seiner unsterblichen göttlichen Seele ... Nur in diesem Bereich finden wir den
freien Willen, denn hier ist der Wille des Menschen identisch mit dem
göttlichen Willen.
Diese
Herrschaft wird durch Gehorsam und Liebe erlangt. Wer über die Naturgesetze
herrschen will, muss sie kennen und befolgen, dann gehorcht ihm die Natur ...
Gottes Wille ist das Gesetz im gesamten Universum ... Der Mensch, indem er das
Gesetz befolgt, gehorcht nur sich selbst. Dann ist der Wille frei."
Aus all
diesen Ausführungen erkennen wir, welch grundlegende Bedeutung nach
theosophischer Auffassung der Wille für Leben und Schöpfung hat. Wir
sehen weiter, dass nur der göttliche Wille umfassend frei, d.h. durch keinen
anderen Willen eingeschränkt sein kann. Dass der Mensch von alledem eine Art
von Bewusstsein haben kann, deutet hin auf seine hohe Bestimmung. Sollten wir
mit unseren aktuellen Verständnismitteln heute mehr dazu sagen, so glichen wir
tatsächlich einem Forscher, der das Wesen der Sonne mittels einer Laterne
untersuchen wollte.
Wenden wir
uns wieder dem Teil unseres Menschseins zu, den wir schon besser kennen,
unserer niederen Persönlichkeit, so erkennen wir deren Verhalten zwar als
triebbestimmt, aber gleichwohl als nicht völlig programmiert, sondern mit der
eingeschränkten Freiheit ausgestattet, sich mittels seiner Verbindung zum
eigenen Höheren Selbst, Gewissen genannt, für das Höhere oder das Niedere zu
entscheiden.
Wenn Goethe
seinen Mephisto im Faust sagen lässt: „Das erste steht uns frei, beim
zweiten sind wir Knechte" ( V. 1412 ), so kann man dies auch so verstehen,
dass wir ein Stückchen Freiheit nur in unserer Verbindung zu unserem Höheren
Selbst genießen dürfen. Diese Freiheit aber reicht über die Entscheidung selbst
- für das Höhere oder das Niedere für Gut oder Böse, für Harmonie oder
Disharmonie nicht hinaus - in allem was dann folgt, sind wir Knechte des
Karmagesetzes, dessen Folgen wir ohne Einschränkung zu tragen haben: Wir können
und müssen uns dauernd entscheiden - und je nachdem, ob diese Entscheidung dem
Karmagesetz entspricht, also mit dem göttlichen Willen harmoniert oder nicht,
ergeben sich die Folgen für uns. Ein solches Leben ist durchaus unbequem,
weshalb Goethe im Prolog zu seinem Faust Mephisto zum „Herrn" sagen
lässt, dass ihn die Menschen dauern: „Ein wenig besser würd' er leben, hätt'st
du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben ..." (V. 283 f.).
Theosophisch
übersetzt heißt das: Es ist das uns eigene manasische Prinzip, mittels dessen
wir mit der göttlichen Welt, der Welt unseres Höheren Selbst, verbunden sind
und von dem Mephisto sagt: Er, der Mensch, brauche es allein, nur tierischer
als jedes Tier zu sein (V. 286), was tatsächlich geschieht, wenn der Mensch
dieses sein Manasprinzip zur Steigerung seiner tierischen Antriebe verwendet.
Sorgen wir dafür, dass in unserem Falle Gott Recht behält, wenn er zu Mephisto
sagt: „Und steh beschämt, wenn du bekennen musst: Ein guter Mensch in seinem
dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst." (V. 237).
Zum Ende
dieses unseres Streifzuges durch die theosophische Literatur noch einige Zitate
aus dem bereits eingangs erwähnten Aufsatz von Friedrich Knollmann
„Hat der Mensch einen freien Willen"?, veröffentlicht in Theosophie
heute 1993 auf Seite 57:
Hier lesen
wir eine ideal knappe Zusammenfassung alles dessen, was wir zum Thema Wille und
Freiheit bisher gehört haben:
„Denken und
Fühlen sind ursächlich bestimmt ... und daher nicht frei. Aber in der Tiefe des
Bewusstseins, unbeeinflusst von Gedanken und Gefühlen, ist das Sein wirksam,
das unabhängig von äußeren Einflüssen selbst Ursache aller Lebensvorgänge ist.
Es ist der ,unbeteiligte Zuschauer', das wahre Selbst, das göttliche im Menschen.
Gott, die ursachelose Ursache aller Veränderungen, ist der eine Wille, das eine
Leben und der eine Geist im Weltall und in jedem Wesen. Gottes Wille ist
allgegenwärtig, sein Einfluss ist unumschränkt. Er wirkt sowohl im Kleinsten
wie im Größten, in einem Atom so gut wie in einem Sonnensystem. Dieselbe Kraft,
die in den Sonnenstrahlen wirksam ist, lebt auch in den Pflanzen, Tieren und
Menschen ... In der Bibel heißt es: ,Es sind mancherlei Kräfte; aber es ist
ein Gott, der wirket alles in allem.'
... Die Natur
ist nur die Form des Willens und als solche kausal bedingt. Im Reiche
der Naturvorgänge kann es keine Freiheit geben, denn da herrscht das Gesetz der
Notwendigkeit...
Frei handelt
er [der Mensch], wenn er seinem höheren wahren Selbst gehorcht, wenn er auf die
Stimme seines eigenen göttlichen Genius achtet, wenn er im Einklang mit seiner
unvergänglichen Natur, im Einklang mit dem Willen Gottes handelt. Dagegen ist
er unfrei, wenn er seiner niederen Natur dient, wenn er ... ein Knecht seiner
Wünsche, Begierden und Leidenschaften ist, denn dann regiert nicht er, sondern
seine tierische Natur in ihm. Darum kann die Freiheit nur im Inneren des
Menschen gefunden werden. Sie besteht ... in der Treue gegenüber seinem wahren
göttlichen Selbst...
Was ihn von
dieser Freiheit ausschließt, ist sein Eigenwille, das Bewusstsein des
Sonderseins ist die Kette, die ihn gefangen hält ... Der Sonderwahn trennt ihn
von anderen Wesen und von Gott..."
Versuchen
wir abschließend und zusammenfassend die theosophische Auffassung zur Frage
nach dem Willen und seiner Freiheit zu umreißen; so können wir vielleicht so
sagen:
- Zunächst erkennt theosophische Lehre im Phänomen des Willens überhaupt eine schöpferische Urkraft göttlicher Natur, die Betreiberin allen Lebens.
- Als schöpferische Urkraft ist der Wille seiner Natur nach frei, denn was sollte ihn hindern?
- Inwieweit der Mensch einen freien Willen hat, hängt davon ab, wo innerhalb seiner Konstitution sein Bewusstseinszentrum sich befindet. Befindet sich dies noch in seiner niederen Quaternität, erlebt sich der Mensch also noch als tierische Natur, so ist sein Verhalten in jedem Augenblick das Produkt seiner tierischen Antriebe - von einem „freien" Willen kann keine Rede sein, wenn es ihm auch so vorkommen mag -gerade dann, wenn ihm das Leben einmal erlaubt, seine Wünsche und Begierden auszuleben.
- Auch in diesem Zustand aber ahnt der Mensch schon etwas von seiner höheren Bestimmung kraft seines höheren Selbstes, der höheren Triade, welche in seine niedere Vierheit gewissermaßen hineinschimmert. Kraft des Gewissens fühlt er sich zu Höherem berufen - letztlich zur göttlichen Freiheit -, und es beginnt ein lang andauernder Kampf zwischen seiner niederen und seiner höheren Natur.
- Seine Willensfreiheit wächst in dem Maße, in dem es seiner höheren Natur in diesem Kampf gelingt, die Oberhand, die Kontrolle zu gewinnen, womit sich zugleich sein Bewusstseinszentrum entsprechend in seine höhere Natur verlagert.
- Wie aber wird man dieser Verantwortung am besten gerecht? Hierzu etwas nach allem, was wir bisher gehört haben, von dem lang andauernden inneren Kampf, durchaus Überraschendes:
Den Kampf erkennt Theosophie am Ende als eher ungeeignetes Mittel, dieser Verantwortung gerecht zu werden, den Kampf gegen die niedere Natur, die dann auch als böse erscheint, weshalb es übrigens auch in der Bibel heißt: „Widerstehet nicht dem Bösen."
Was man bekämpft, füllt man nur mit Energie! Hermann Hesses „Siddhartha" verlässt übrigens den Askeseterror der Samanas, weil er dies erkannt hat. Also doch nicht kämpfen? Hier müssen wir zunächst bedenken, dass um die Vergeblichkeit des Kampfes nur wissen kann, wer gekämpft hat!
Hilfreich ist aber jedenfalls: Bewusstmachung. Taimni (siehe oben) meint, wo dieses nicht genüge, sei ein lang andauernder ständiger Willensdruck hilfreich und geboten. Dürckheim sagt, es helfe nicht, vor dem Teufel wegzulaufen - er sei schneller, und man könne ihn auch nicht besiegen, er sei stärker. Er empfiehlt insoweit stille Beobachtung als das einzige, was der Teufel nicht ertrage. Etwas Ähnliches sagt die moderne Psychotherapie mit dem Satz: Face your fear, and it will dissappear, - im Ergebnis also das gleiche wie bei Taimni: reaktionslose Beobachtung. Es prüfe also jeder, was ihm helfe! Einleuchtend ist jedenfalls die vielfach ausgesprochene Empfehlung, das Bewusstsein auf Höheres, insbesondere auf Tugenden, vor allem auf Glauben, Hoffnung und Liebe zu richten und so zu verhindern, dass Rabenvögel, genannt Zweifel und Pessimismus, Nester im eigenen Bewusstsein bauen. Jeder, der geistige Interessen entwickelt, arbeitet also in der richtigen Richtung. - Yogis auf dem Wege - nicht mehr ratlose Artisten in der Zirkuskuppel.
- Grundvoraussetzung einer solchen Bewusstseinsentwicklung ist, dass sich dieses Bewusstsein nach innen wendet und aufhört, sein Heil im Außen zu suchen.
- Bewusstmachung in diesem Sinne aber heißt auch, sich selbst, die eigene Natur als krank und erlösungsbedürftig zu erkennen. Wer sich für gesund hält, dem ist nicht zu helfen, auch dem nicht, der meint, mit etwas „theo-sophischem Wissen" hätte er alle Spatzen gefangen. Ist dieser Schritt aber einmal getan, werden Demut und Bescheidenheit zu bestimmenden Faktoren in unserem Leben und dann kann Liebe helfen, auch Liebe zu unserer niederen Natur.
- Insgesamt also ist nach theosophischer Auffassung die Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe oder nicht, falsch gestellt, sondern der Mensch ist zur Freiheit zwar berufen, ob und inwieweit er aber im konkreten Falle tatsächlich frei sei, das hänge von seiner Bewusstseinsentwicklung ab. Das wissen auch die Gewerkschaften, wenn sie singen: „Brüder - zur Sonne - zur Freiheit".
Es wäre
natürlich reizvoll, die Antworten, die von Philosophie und Wissenschaft,
insbesondere von der Psychologie, bis heute auf diese Frage gegeben werden,
nach diesen Maßstäben zu überprüfen. Aber das war heute nicht die Aufgabe.
Schopenhauer war Pessimist und sprach dem Menschen jede Willensfreiheit ab -
philosophisch betrachtet - was ihn aber nicht daran gehindert hat, in seinem
praktischen Leben seine Mitmenschen nachhaltig zur Verantwortung zu ziehen, was
ihm hätte zu denken geben sollen. Kurt Guss meint in seinem noch druckfrischen
Buch über die Willensfreiheit des
Menschen,
diese sei selbstevident, und er hat damit von der Bestimmung des Menschen her
gesehen, sicher recht. Ob ihm in seiner generellen Bejahung dieser Frage zu
folgen ist, wird von den zitierten theosophischen Lehren in Frage gestellt.
Wir sehen,
welch interessante Fragen sich hier auftun und weiterer Bearbeitung harren.
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Hervorhebungen durch Dr. B. Prediger
Autor: Dr. Bernhard Prediger