Diese Frage wird von jedem denkenden Menschen gestellt. Alle Religionen und die meisten Philosophien haben versucht, sie zu beantworten.
Einer der Beantwortungsversuche ist die Lehre von der zyklischen Pilgerfahrt des menschlichen Geistes durch die stofflichen Welten. Wir finden sie vor allem im Hinduismus und Buddhismus, aber auch bei Pythagoras, bei einem Teil der alten Gnostiker und Neuplatoniker sowie bei einzelnen christlichen Kirchenvätern. Ihre moderne Version ist die Theosophie.
Die in dieser Auffassung enthaltenen Vorstellungen können kurz wir folgt beschrieben werden:
Wenn das unerfassliche kosmische Sein - im Westen oft Gott genannt - sich in einer begrenzten Schöpfung, einem Kosmos, manifestiert, ergießen sich aus der ewigen Flamme dieses Seins Myriaden von Funken als wahre „Söhne Gottes“ in die sich gestaltende Welt.
Jeder Menschengeist ist ein solcher Funke.
Der tiefste Sinn dieser Sendung, dieses Abstieges göttlicher Geistesfunken aus der Welt der Einheit in die gestaltete Welt des Gesondertseins, wird vom menschlichen Verstand kaum je ergründet werden können. Die Tradition gibt folgende Erklärung:
Der göttliche Geistesfunke wird in eine zyklische Reihe von Wiedergeburten in die gestalteten Welten entsandt, um auf dieser Pilgerreise individuelles Bewusstsein zu erlangen, um die ihm nach seiner Herkunft Erbe eigene innere Geisteskraft in der äußeren Welt zu entfalten und um, schließlich mit diesem Schatz der Erfahrungen seiner Pilgerfahrten bereichert, sobald er es gelernt hat, die Gesetze der gestalteten Welt zu meistern, in die Einheit der göttlichen Welt heimzukehren.
Begreiflicherweise hat gerade dieses Endziel der „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ die Menschen oft besonders fasziniert; dies hatte zum Ergebnis, dass in manchen Religionen und Philosophien eine vorzeitige Abkehr von dieser Welt gepredigt wird, ehe der Mensch die Möglichkeiten voll ausgeschöpft hat, das individuelle Bewusstsein durch Erfahrungen in dieser Welt zu vervollkommnen.
Manche philosophische Lehrer andererseits haben sich von dem utopischen Traum verführen lassen, die Vollkommenheit der göttlichen Einheit könne auf Erden voll zum Ausdruck gebracht werden. Sie träumten davon, die Erde durch Menschenkraft in ein Paradies umzugestalten, in welchem die Menschen einmal gewissermaßen als Halbgötter leben würden.
Keines dieser Extreme ist richtig.
Vorzeitig, ehe alle Möglichkeiten der Erde ausgeschöpft sind, die Pilgerfahrt durch die Inkarnationen beenden und „Nirwana“ als seligen Einheitszustand ohne Sondersein erreichen zu wollen ist Fahnenflucht und muss missglücken.
Die Erde zum Paradies zu gestalten ist unmöglich.
Die Gesetze der physischen Welt sind hart. Ihre Erneuerung erfolgt durch unentwegt sich wiederholende Zerstörung alter und Schaffung neuer Formen. Ihre Antriebsmittel sind Lust und Schmerz. Ihre Lebensgesetze selbst stehen in diametralem Gegensatz zur Einheit. Völlige Selbstlosigkeit in ihr ist undurchführbar, da jeder Organismus nur auf Kosten anderer Organismen leben kann. Nur in der Auswahl der Organismen, von denen er lebt - etwas darin, möglichst Pflanzennahrung statt Tiernahrung zu sich zu nehmen -, sowie in einer sozialen Organisation, die auch dem Schwächeren ein Mindestmaß von Lebens-, Entfaltungs- und Freiheitsrechten sichert - ohne aber je völlige Gleichheit erreichen zu können, da dies wieder allen Fortschritt lähmen würde -, vermag der Mensch einigen wenigen Aspekten des inneren Seins in der physischen Sphäre Ausdruck zu verleihen.
Es ist daher nicht Aufgabe des Menschen, auch nicht des geistig strebenden Menschen, auf Erden paradiesische Zustände zu schaffen. Die Erde selbst hat nicht die Aufgabe, dem Menschen Glück zu bieten, sondern Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind notwendigerweise sowohl freudiger als auch schmerzlicher Natur. Aufgabe des einzelnen Menschen ist es nicht, nach Glück zu streben, sondern alle Erfahrungen, die ihm das Leben bietet, möglichst zu nützen und in seinem Bewusstsein die Folgerungen aus ihnen zu ziehen. Und es ist auch nicht seine Aufgabe, anderen zum Glück zu verhelfen, sondern zu einem Leben mit möglichst reichen Erfahrungen, die ihnen die Entfaltung neuer Kräfte des Denkens und Fühlens möglich machen. (Dies schließt auch die Minderung von Leid in der Welt mit ein. Die Red.)
Von solchem Standpunkt betrachtet, wandelt sich die Bedeutung der Geschehnisse im Einzelleben des Menschen - wie Gesundheit, Krankheit, Wohlstand, Not, Ansehen und Familienglück. Aber auch das kollektive Schicksal, in das der Mensch gestellt ist, Krieg und Frieden, Staats- und Regierungsformen, Elementarkatastrophen und dergleichen, erhält einen anderen Sinn. Für das innere Ich des Menschen, der ausgesandt ist, in dieser Welt Erfahrungen zu sammeln, wird ein friedliches Leben in geordneten bürgerlichen Verhältnissen und mit einem unproblematischen Familienleben in der Regel wenig Fortschritt und Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Ein solches Leben ist gewissermaßen eine Ruhepause, eine Erholung, die sich der Mensch möglicherweise nach anstrengenden Inkarnationen verdient hat. Ein Leben inmitten politischer und persönlicher Wirrsale, das immer verlangt, sich an neue Situationen anzupassen und letzte Kräfte aus sich herauszuholen, mag hingegen, auch wenn es äußerlich zu Elend und Vernichtung führt, dem inneren Geiste reichste Ernte an Erfahrungen bringen.
In solcher Kürze dargeboten, mögen diese Gedanken in mancher Hinsicht anfechtbar erscheinen, aber sie sind sicherlich wert, dass man darüber nachdenkt. …
Autor: Nobert Lauppert