Zeit und Zeitlosigkeit

 

Shirley Nicholson

In Heft 1/2004 dieser Zeitschrift wurde auf den Seiten 30 bis 34 darauf hingewiesen, dass nach der Geheimlehre Raum, Bewegung und Zeit zu den universellen Tatsachen gehören, die das ganze Da­sein berühren. Auf den folgenden Seiten dieses Heftes sind wichtige Gedanken über den Begriff der Zeit dargestellt, die das Studium der Werke H. P. Blavatskys erleichtern können. (Red.)
 
In seinen Konfessionen sagte der heilige Augustinus, dass er wohl wisse, was die Zeit sei, wenn niemand ihn frage, aber dass er es nicht wisse, wenn man ihn bitte, dies zu erklären. Wenn jemand uns fragt, ,Was ist die Zeit?', mögen auch wir uns verwirrt fühlen. Wir haben genaue Kenntnis von der Zeit, soweit es die Kalender-Zeit betrifft oder die Zeit für das Mittagessen oder für eine Verabredung; wir wissen auch, wieviel Zeit es erfordert, einen Brief zu schreiben oder sich an eine Arbeit zu machen. Wir kennen die Zeit als Arbeits- oder Spielpause, wir wissen um unsere Lebensjahre und auch um die Zeitalter der Geschichte ... Die Erfahrung von der Vergänglichkeit der Zeit ist uns vertraut und immer gegenwärtig, aber wir halten selten inne, um zu überlegen, was Zeit wirklich ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zu­kunft sind in unsere Vorstellungen von der Welt eingebaut; wir nehmen an, dass wir die Zeit beschreiben. Aber wir sind gewohnt, sie als bare Münze zu nehmen, ohne ihre wahre Natur zu untersuchen.
 
H. P. Blavatsky sagt, dass „unsere Vorstellungen ... von Dauer und Zeit alle von unseren Sinneswahrnehmungen abgeleitet sind nach dem Gesetz der gedanklichen Assoziation und untrennbar verknüpft mit der Bedingtheit des menschlichen Wissens."(1) Dies, so empfindet sie, ist unzureichend, um die Nuancen und Feinheiten der Zeit auszudrücken, wie sie in der esoterischen Philosophie dargelegt werden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind grobe, von unserem Denken hervorgebrachte Kategorien, durch die wir Er­eignisse in ihrer Aufeinanderfolge erleben: „die panorama-artige Aufeinan­derfolge unserer Bewusstseinszustände."(1)
 
Diese drei Zustände sind voneinander getrennt und nur in bezug auf die Erscheinungsebene „zusammengesetzt, aber im Bereich der Numena hat dies ... keine Gültigkeit."(1) In der transzendenten numenalen Welt existiert Zeit im Sinne unserer aufeinanderfolgenden Erfahrungen nicht. Es gibt keine Bewegung von der Vergangenheit zur Gegenwart und in die Zukunft, denn „die vergangene Zeit ist die gegenwärtige Zeit und ist auch die Zukunft, die, wenn sie auch noch nicht ins Dasein getreten ist, dennoch existiert."(1)
 
Eine solche Vorstellung, dass in einem zeitlosen Zustand alle Ereignisse gleichzeitig existieren, mag für unser begrenztes Denken unverständlich sein.
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H. P. Blavatsky versteht die Zeit in der geoffenbarten Welt anders als das gradlinige, einbahnartige Fließen, das von unserem Denken hervorgerufen wird. Sie spricht wiederholt von Zyklen, vom periodischen Kommen und Gehen der Universen und Lebewesen, die durch Entwicklungsstufen hin­durchgehen und dann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, um die gleiche Gesetzmäßigkeit zu wiederholen, wie es beim Blühen und Samen­tragen veranschaulicht werden kann. Diese zyklische Betrachtungsweise, die für die östliche Philosophie typisch ist, erscheint wiederholt in der Geheim­lehre, welche die Manifestation auf allen Ebenen als periodisches, sich wie­derholendes rhythmisches Ausströmen und Zurückfließen betrachtet. Die ganze Natur - von Universen und Galaxien bis zu Glühwürmchen und Zellen - wirkt nach diesem Prinzip und ist auch das Vorbild für das Wachstum und die Entwicklung des Menschen.
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Die Zeit unseres geistigen Bewusstseins

H. P. Blavatsky erkannte ebenso wie viele Philosophen, dass die Zeit als eine Aufeinanderfolge und Folgerichtigkeit von Ereignissen sowohl ein Merkmal unseres Denkens als auch ein Teil der Wirklichkeit ist. Wir machen fort­laufend Wahrnehmungen und teilen sie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein, während die Ereignisse selbst einfach „da sind". Die Zeit ist eine Verallgemeinerung, ein Begriff, den wir aus unseren konkreten Er­fahrungen ableiten. Wir geben ihm dann ein eigenes Leben, eine eigene Wirklichkeit, als ob er eine von unserem Erleben der Ereignisse gesonderte Existenz besäße. Im Gegensatz zu der Auffassung, dass die Zeit uns, die wir stehenbleiben, nachströmt, bzw. durch die Aufeinanderfolge der Gescheh­nisse „zurückgelassen wird", sagt H. P. Blavatsky, dass „Zeit nur eine durch die aufeinanderfolgenden Zustände unseres Bewusstseins hervorgebrachte Täuschung ist, da wir uns durch die ewige Dauer bewegen" (1) Unsere starke Neigung, Dinge in eine aufeinanderfolgende Ordnung zu bringen, hat auch eine Auswirkung auf unsere Wahrnehmung der Welt, und unser lineares Zeitgefühl zerschneidet das ununterbrochene Panorama sich vermischender Veränderungen.
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Die grenzenlose Dauer oder Zeitlosigkeit jenseits des Relativen ist „bedingungslos ewige und universale Zeit", das Numenon der Zeit, nicht bedingt durch Ereignisse, die periodisch erscheinen und wieder verschwin­den.(1) Die Dauer ist „grenzenlos und daher unbewegt... ohne Anfang, ohne Ende, jenseits der geteilten Zeit und jenseits des Raumes." (1)
 
Die Dauer umfängt alles gleichzeitig, während die Zeit unserer Erfahrung notwendigerweise mit unserer Schau übereinstimmen muss, die uns immer nur ein Ding nach dem anderen zeigen kann. Es ist allerdings schwer, sich vorzustellen, dass die ganze Wirklichkeit gleichzeitig in der Dauer gegen­wärtig ist, da unser Bewusstsein ja auch einen Teil des Zeitverlaufs bildet... Wir können uns vorstellen, dass die lineare Zeit ein Weg ist, auf dem unser begrenztes Denken die Ganzheit der Dauer in Abschnitte auflöst, die wir erfassen und mit denen wir umgehen können.
 
Shirley Nicholson Uralte Weisheit - moderne Erkenntnis, S. 74-87
Theosophische Verlagsgesellschaft Adyar, Kassel 1989
Literaturhinweis:
(1) Blavatsky, H. P. , The Secret Doctrine, Adyar, 1978 (dt. Die Geheimlehre)
 


Autor: Shirley Nicholson