Zum Zeitgeschehen

Disziplin

(nicht von lat. discere = lernen, son­dern von discipere = „geistig aufneh­men"!) ist etwas, dem ein discipulus (= Schüler) sich zu fügen hat, wenn er zu einem brauchbaren Abschluss sei­nes Bemühens (= Studium) kommen will (oder soll). Zum Problem wird Disziplin, wenn es an ihr mangelt, und dass dem gegenwärtig so ist, spüren nicht nur Lehrer („ausgebrannte" vor allem), sondern es dringt auch immer deutlicher ins (ver)öffentlich(t)e Be­wusstsein. Mit herkömmlichen Mit­teln ist in Schulklassen, die Desinter­esse am Unterricht „cool" finden, schon deshalb nichts auszurichten, weil Schulen im Wettlauf um ausrei­chende Schülerzahlen bei abnehmen­den Geburtenraten nicht ins Hinter­treffen geraten wollen - ganz abgesehen von juristisch bewehrten Elternprotesten gegen schlechte Noten oder „Disziplinarmaßnahmen".
 
Begann vor einem knappen halben Jahrhundert der Einfluss der damals so genannten „öffentlichen und gehei­men Miterzieher", also vor allem des Fernsehens, gerade erst zu wirken, so hat er sich heute vervielfacht und tritt doch schon hinter anderem, z. B. den Computerspielen, zurück. Auch ein­fallsreiche Lehrer sind angesichts die­ser „Konkurrenz" immer weniger im­stande, ihren Unterricht so „interessant" zu machen, dass dessen Gegenstand die Schüler zu fesseln vermöchte und dadurch besondere Maßnahmen zu deren Disziplinierung überflüssig wären.
 
Aber wozu auch hier wiederholen, was sich dem Beobachter allenthalben aufdrängt? Wozu nach Ursachen fahn­den - etwa im Umfeld des Traditions­bruches von 1968 -, wenn doch daraus keine Einsichten entspringen, die We­ge zur Heilung erkennen ließen?
 
Wir können nicht zurück zu einer frag­los geltenden Erziehungstradition, wie sie sich in einigen Gegenden Deutsch­lands (besonders kirchlich-religiös geprägten!) kurz nach dem letzten Kriege (scheinbar!) noch einmal fe­stigte. Der „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündig­keit" hat Tore geöffnet in eine „aufge­klärtere" Region, aber deren Licht konnte nur jenen strahlen, deren Augen schon genug geübt waren; die anderen wurden geblendet und liefen in die Irre: sie verwarfen jegliche Tra­dition und jegliche Bindung an Werte, die ihrem Wahn von „Freiheit" im We­ge standen, und dass es gerade viele Lehrer waren, die im Fortschritts­taumel kräftig an den Ästen sägten, auf denen sie saßen, ist bedauerlich und entlarvend zugleich. Aufgabe je­des Lehrers ist es doch, junge Men­schen zum Verstehen, zum Ertragen und vor allem zum Mittragen unseres Kulturgefüges hinzuführen, sie im Idealfall zu erneuerndem Weitertragen zu ermuntern, und nicht, Teile dieses
Gefüges - eine Ideologie nachbetend -zu zerstören!
 
Wer sein Erdenleben nicht für ein „Zufallsprodukt" hält, sondern es als Glied einer langen Kette betrachtet, kann Kinder nie als tabulae rasae betrachten, die durch Erziehung beliebig formbar wären. Noch viel weniger wird er sich überreden lassen, der Mensch sei „böse von Jugend auf" oder sein „Eigenwille" sei die Wurzel alles Übels auf der Welt, wie gewisse Fromme glauben und daraus eine Aufforderung zum Prügeln ableiten (welchen „Geist" ich noch 1942 als Gastschüler einer zu den Franckeschen Stiftungen in Halle gehörenden Mittelschule erschreckend erlebt habe). Der „Wille", der sich im Men­schen im sogenannten Trotzalter zum ersten Male vernehmlich äußert, ist etwas viel zu Kostbares, als dass man ihn mit einer „Brechstange" behan­deln dürfte! Ihn behutsam zu lenken, notfalls abzulenken, erfordert ein Eingehen auf Kinder, Aufmerksamkeit und „Zuwendung", aber das ist nicht leicht in einer Umwelt, in der Woh­nung und Erwerbsarbeit immer selte­ner unter einem Dache versammelt einfach „abgucken" lassen, was zum Leben alles dazugehört. Je technisier­ter und gelehrter Berufe und „Frei­zeit" werden, desto mehr wird Erziehung zu einem „Vollzeit-Job", den nicht nur Not, sondern auch Kompe­tenzmangelgefühl (von Bequemlich­keit nicht zu reden und schon gar nicht von herrschender Ideologie!) am liebsten „Fachleuten" überlässt. Fach­leute jedoch sind nicht besser als ihre sie bezahlenden Auftraggeber, solange sie sich bloß an Vorschriften halten (müssen). Wirkliche Erziehung ist eine Arbeit, die sich so wenig ver­ordnen und bezahlen lässt wie ärzt­liche oder Regierungskunst. Sie erfor­dert eine fast ununterbrochene Anspannung - die vergebens ist, sobald Zöglinge sie bemerken! -, und welcher gestresste Lehrer wäre dazu fähig?
 
Es ist leicht, in den Chor der Erziehungs- und Schulkritiker einzustim­men - Auswege zu weisen ist schwer! Wir erkühnen uns nicht zu behaupten, man könnte aus der „Theosophie" fertige Erziehungs- oder Schul-Rezepte schöpfen. Aber vielleicht wäre fol­gender Hinweis hilfreich: Es genügt nicht zu fordern, dass es unsere Kin­der besser haben sollen, als wir es einst hatten; es kommt vielmehr dar­auf an, dass sie besser werden, als wir es mit uns selber geschafft haben. Da­für zu arbeiten lohnt jede Mühe.
 
Das einzige Mittel, das Innere auszubilden, besteht darin, dass der Mensch seinen Blick auf das Göttliche und den Himmel richtet, und dies geschieht, wenn er daran glaubt und es für die Quelle alles Wahren und Guten, mithin aller Einsicht und Weisheit hält.
 
Ferner zeigt sich sein Glaube, wenn er sich von ihm führen lassen will. Nur auf diese Weise wird das Innere des Menschen aufgeschlossen. Ein Mensch, der in solchem Glauben ein dementsprechendes Leben führt, hat auch die Fähigkeit und Kraft, einsichtsvoll und weise zu werden. Dazu muss er aber noch vieles lernen, und nicht nur Dinge, die den Himmel, sondern auch Dinge, die die Welt angehen -
 
Bürger beider Welten/ Emanuel Swedenborg,
Heilbronn 1998 (Die Goldene Mitte, H. 23)
 


Autor: Emanuel Swedenborg