Zum Zeitgeschehen
Ehrlich
sind doch
nur die Dummen! Wer nicht mitnimmt, was zu kriegen ist, kommt zu nichts - also
wird „abgezockt", wo immer gegenüber dem Staat oder anderen öffentlichen
Kassen ein Rechtsanspruch geltend gemacht werden kann. Letzterem kann man auch
nachhelfen: In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es z. B. sogenannte
„Onkel-Ehen". Krieger-Witwen heirateten ihre neugefundenen Lebensgefährten
nicht, weil sie dadurch ihre Witwen-Rente eingebüßt hätten, und ihre Kinder
nannten den Ersatz-Vater „Onkel". Man hatte Verständnis für dergleichen,
denn die Not war allenthalben groß.
Selbstverständlich
wurde und wird bei feierlichen Anlässen eine andere Moral wohlformuliert
gepriesen, aber „Sonntagsreden", zur „Image-Pflege" verfasst und
gehalten, haben wenig Einfluss auf die Grundsätze, nach denen „man" lebt.
Noch geringer ist ihr Einfluss auf das sich erst festigende sittliche Skelett
der heranwachsenden Generation. Kinder durchschauen sehr schnell die
„Usancen", die „man" sich augenzwinkernd zugesteht - nicht bedenkend,
dass dieses Weggucken die öffentliche Moral ins Rutschen bringt. Das, was ein
Gemeinwesen tragen können soll, das Einvernehmen über Gutes und Rechtes, wird
immer mehr ausgehöhlt.
Als J. F. Kennedy mahnte, man sollte mehr auf das
bedacht sein, was man selbst für das allgemeine Wohl tun könne, als auf das,
was man von ihm zu fordern habe, war ihm Beifall sicher. Jetzt, rund vier
Jahrzehnte später, macht sich, wer Abzocker-Mentalität anprangert, einer
„Demontage des Sozialstaates" verdächtig. Solche Empfindlichkeit ist
hierzulande immer noch auch eine Spätfolge jenes „Tausendjährigen
Reiches", dessen Machthaber alles Ideale schamlos ausbeuteten.
Vertrauen zu
verlieren ist leicht, es wiederzugewinnen ist viel schwerer, auch wenn die, die
es verspielten, längst dahingegangen sind. Am ehesten mag Vertrauen noch in
kleinen, überschaubaren Gemeinschaften zu bewahren sein, in Familien oder
„Teams"8 zum Beispiel - aber auch sie sind nicht gefeit gegen
die Metastasen des Egoismus, der zwar die Wirtschaft über den Markt sicherer
(wenn auch nicht schmerzloser!) reguliert als jeder „Plan", aber nicht als
oberster Regulator taugt. Wirtschaftlichkeit ist dringlich, jedoch nicht
alles, nicht das Höchste!
Aber was
hilft ein Einstimmen in allgemeines Gejammer? Es stärkt doch nur die negativen
Gedanken, die Keimzellen der Metastasen jenes
Krebsgeschwürs, dem auch einst blühende Reiche zum Opfer fielen! Patentrezepte
zur Abhilfe gibt es nicht, zumindest keine solchen, deren Befolgung eine
sofortige „Besserung" der „Verhältnisse" herbeiführte. Wer von
theosophischem Standpunkte aus eine „naturgemäße" Entwicklung der Menschen
für wahrscheinlicher hält als „Wunder", wird Geduld aufbringen, die auch
durch „Niedergang" nicht entmutigt wird, denn im Auf und Ab der in
Jahrzehnten oder Jahrtausenden wogenden Wellen ist auch ein Absinken ins
„Chaos" nur vorübergehend, scheinbar. Das heißt jedoch nicht, dass man sich als
verantwortungsbewusster Mensch, der diesen Erdball wiederholt zu bewohnen
überzeugt ist, dem Spiel der Wellen überlassen müsste oder dürfte! Es gilt, das
als richtig und not-wendig Erkannte zu wahren und zu verwirklichen, auch wenn
man scheinbar allein steht. Es gibt mehr solche allein Stehende, als wir ahnen.
Sie mögen oberflächlichen Betrachtern als „dumm" erscheinen, aber sie
alle zusammen bilden, über alle Grenzen hinweg, einen Kern jener Menschheits-Bruderschaft,
der das erste Ziel der Theosophischen Gesellschaft ist.
Reiner Ullrich
8 Vgl. „Bild
der Wissenschaft", Heft 10/2004, S. 56 - 59
Autor: Reiner Ullrich