ZWISCHEN TOD UND WIEDERGEBURT
Wir besitzen kein wirkliches Wissen über die Vorgänge zwischen Tod und Wiedergeburt, da unsere Wahrnehmungsfähigkeit im Irdischen auf die physisch messbaren Erscheinungen beschränkt ist. Das Leben im psychischen Bereich entzieht sich aber der direkten Messung. Aus den in den beiden vorhergehenden Kapiteln entwickelten Gedanken ergibt sich jedoch eines:
Leben, Tod und Wiedergeburt müssen als ein Ganzes betrachtet werden, als ein Kontinuum. Der Tod ist darin nicht nur etwas Natürliches, sondern auch etwas Notwendiges und Positives. Er ist der Abschluss einer aktiven Zeit des Sammelns von Erfahrungen und des Setzens von Ursachen und der Übergang in eine Periode der Verarbeitung, der Ernte. Wesentlich ist, dass wir ihn als solchen auffassen und annehmen und nicht - wie dies instinktiv vom Gesichtspunkt des nur körperlichen Bewusstseins aus geschieht - ablehnen und fürchten.
Was in der Periode zwischen Tod und Wiedergeburt im Einzelnen geschieht, ist für unser irdisches Leben nicht von so überragender Bedeutung, dass wir es im Einzelnen wissen müssten. Immerhin gibt es genug Quellen, aus denen wir uns in einer Zusammenschau ein einigermaßen brauchbares Bild machen können. Solche Quellen sind:
Es ist zwar nicht leicht, aus all dem eine Synthese zu ziehen, da die verschiedenen Quellen einander oft wiedersprechen; so stimmen z.B. weder die Lehren der einzelnen Religionen miteinander überein noch die Berichte der verschiedenen Hellseher, noch wieder letztere mit spiritistischen Auffassungen. Es ist daher eine Wertung und Auswahl erforderlich, die notwendigerweise einen subjektiven Charakter aufweisen muss.
Dies vorausgesetzt, scheint uns folgendes als der Wahrscheinlichkeit nahekommend:
Dem Tode folgt zunächst eine Periode innerer Umstellung, die einerseits einer Art psychischer Inventur und andererseits der Auflösung von Spannungen zwischen den verschiedenen Wesensteilen der Psyche dient. In unserer Psyche gibt es Gedanken und Gefühle, die so stark an Irdisches und Materielles gebunden sind, dass sie eines physischen Körpers und physischer Kontakte bedürfen, um sich auszuwirken und befriedigt zu werden. Da dies nach dem Tode nicht mehr möglich ist, erzeugt es Spannungen sowie Unlust- und Schmerzgefühle, die erst weichen, wenn diese Kräfte sich erschöpft haben und der Mensch sich frei jenen Gedanken und Gefühlen hingeben kann, die solcher Kontakte nicht bedürfen. Diese Zeit der Spannungen und Unlustgefühle kann auch als eine Zeit der Läuterung aufgefasst werden. Sie hat ihren Niederschlag in verschiedenen religiösen Allegorien gefunden, im Hades der Griechen und dem Fegefeuer der Christen. (s.a. z.B. im Brief Nr. 16 der Mahatma Letters an A.P. Sinnett; Anm. des Autors)
Nach nahezu allen Berichten ist der Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt ein subjektiver, nach innen gewandter. Auch nach der beschriebenen Lösung vom Irdischen befindet sich das Bewusstsein daher in einer Art Traumwelt. Es ist aber eine Traumwelt positiven Charakters, die ebenso wie das Tagträumen etwas Schöpferisches in sich birgt. Wie in Künstlern bei Tagträumen oft Gedanken reifen, so reift während dieser folgenden Periode, die etwa dem ‚Himmel‘ der Christen entspricht und die im Hinduismus Devachan, das ‚leuchtende Land‘, genannt wird, die Ernte des vergangenen Lebens. Der Verstorbene befindet sich inmitten aller jener seiner Gedanken und Gefühle dieses vergangenen Lebens, die auch ohne physischen Körper voll denk- und fühlbar sind und die nicht - wie z.B. der Hass - infolge ihres abstoßend wirkenden Charakters von ihm ausgeschieden wurden. Das sind also alle seine positiven Bestrebungen und Ideale, aber auch die Gedankenbilder derer, mit denen ihn auf der Erde Zuneigung verband. Er empfindet ihre Gegenwart dabei ebenso als Wirklichkeit, wie ein Träumender die in seinem Traum vorkommenden Gestalten als wirklich empfindet.
Da in dieser der physischen Welt schon etwas ferneren Daseinsschicht der Zeitbegriff verändert ist (wie ja auch schon im Traume), werden wir uns dieses Himmelserleben weniger als ein Erleben einer Folge von Ereignissen als vielmehr als eine intensive Schauung vorstellen müssen, in der sich die Melodie der einzelnen irdischen Erlebnisse immer mehr in einem gleichzeitig erklingenden Akkord integriert.
Ist dies geschehen, dann ist die Aufgabe dieses Lebensabschnittes erfüllt, und die Ernte des letztvergangenen Erdenlebens kann eingebracht werden. Die Psyche hört als selbständige Lebenseinheit auf zu bestehen, sie wird vom Geist absorbiert und in ihn integriert.
Autor: Norbert Lauppert